Steine des
Anstoßes oder
normiertes Ritual. Zur Rolle des Stolperstein-Projekts in den
Erinnerungskonflikten der Gegenwart
Berlin
Koordinierungsstelle Stolpersteine Berlin; Zentrum für
Zeithistorische
Forschung Potsdam
21.02.2019 - 22.02.2019
Von Sandra Sattlecker, Universität Salzburg
Bei der Tagung diskutierten FachhistorikerInnen zusammen mit
einer Vielzahl
InitiatorInnen von Stolpersteinverlegungen über die Frage, ob
Gunter Demnigs
Kunstprojekt „Stolpersteine“ in der Gegenwart noch jenen
Charakter des
Stolperns, des Anstoßes hat, den es zu Beginn in den
1990er-Jahren für sich
beanspruchte. Mit kritischen Blicken auf die Gegenwart,
Verweisen auf andere
Projekte im In- und Ausland sowie mit Ausblicken auf die
mögliche Zukunft der
Stolpersteine wurde versucht, dieses herausragende Phänomen
deutscher
Erinnerungskultur greifbar zu machen.
GUNTER DEMNIG (Frechen) eröffnete selbst die Tagung und ließ die
letzten
zwanzig Jahre Revue passieren. Die Stolpersteine galten anfangs
als
konzeptuelles Kunstwerk, als subversive Form der
Erinnerungskunst, die einen
Akt des Widerstands gegen die monumentalen Mahnmale des Staates
darstellte –
sowohl im Aussehen als auch bei der Platzierung. Aufgrund der
steigenden
Nachfrage ist ihre Verlegung inzwischen nur mehr durch
zahlreiche Initiativen
möglich, die vor Ort Organisation und Recherchen betreiben. Eine
zentrale
Datenbank werde demnächst die über 70.000 Biografien zu den
bereits verlegten
Steinen online zusammenfassen. Nicht zuletzt um die langfristige
Zukunft des
Projekts zu gewährleisten, sei zudem eine Stiftung namens
„Stiftung – Spuren –
Gunter Demnig“ ins Leben gerufen worden.
Anschließend an die Eröffnungsworte hielt HARALD SCHMID
(Rendsburg) die Keynote
der Tagung. Für ihn seien die Stolpersteine nicht nur
unweigerlich mit ihrem
Schöpfer und dessen Lebensspanne verbunden, er fragte auch, ob
das Projekt
nicht bereits einen „peak“ erreicht habe und nunmehr Quantität
vor Qualität
gehe. Der Erfolg, so Schmid, sei unverkennbar, nun gehe es mit
Bertold Brecht
um „die Mühen der Ebene“: Die zahllosen Steine könnten zu einer
Inflation des
Kunstprojekts führen, was wiederum einer Form der Entwertung
gleichkäme.
Auch BILL NIVEN (Nottingham) ging in seinem Vortrag auf ein
ähnliches Phänomen
ein; er sprach von einem Trend zur Verlegung von Stolpersteinen
in Städten. Es
sei, so Niven, „chic“ und „trendy“, Steine zu verlegen; Städte
und Kommunen
seien mit wenig eigenem Aufwand in der Lage, Orte des Gedenkens
zu
installieren. Niven griff hier Schmids Beobachtung einer
„Ausschmückung“
öffentlicher Plätze und Straßen mit Stolpersteinen auf – eine
deutliche Form
der Kritik, die auch außerhalb der Konferenz geäußert wurde.
Beide Historiker
stellten die Frage der Relevanz von Stolpersteinen nach mehr als
20-jährigem
Bestehen in den Raum.
Das Kunstprojekt habe anfangs nicht nur traditionelle Mahnmale
hinterfragt, als
deren Gegendenkmäler die Steine bis heute gelten, sondern auch
sich selbst.
Dadurch sei eine Diskussion um die deutsche Erinnerungskultur
ausgelöst worden,
die nicht nur national, sondern weltweit Aufsehen erregt habe.
RYAN HEYDEN
(Hamilton) zeigte dies eindrucksvoll auf, als er davon sprach,
dass die
Stolpersteine selbst in Kanada in mehreren Medien sowie in der
Politik
aufgegriffen worden seien. Das Projekt habe Deutschland erlaubt,
einen neuen,
kritischen Blick auf seine Vergangenheit zu entwickeln. Jedoch
stünden die
Steine in der Gegenwart, in der „Zweiten Moderne“, wie wiederum
Bill Niven
formulierte, vor dem Problem, sich selbst überholt zu haben. Die
Stolpersteine
müssten, so das übereinstimmende Fazit von Niven und Schmid,
entweder mit dem
Tod des Künstlers Demnig beendet werden, da dieser untrennbar zu
seiner
Schöpfung gehöre, oder auf mehreren Ebenen adaptiert werden,
sodass sie im 21.
Jahrhundert weiterbestehen können.
Besonders die Schlussfolgerung Schmids, der ungleich polemischer
über die
Stolpersteine und den Umgang mit ihnen sprach als Niven, wurde
vom Publikum
wenig wohlwollend aufgenommen; Kritik an den Stolpersteinen –
das zeigte sich
insgesamt während der Konferenz – wird selten positiv
aufgefasst.
Offensichtlich wurde dies auch in der wiederholt aufbrandenden
Debatte über das
Verbot von Stolpersteinen im öffentlichen Raum der Stadt
München. Obwohl
während der Veranstaltung keiner der EntscheidungsträgerInnen
anwesend war,
wurde mehrmals auf den dortigen Umgang mit Demnigs Kunstprojekt
als
Negativbeispiel hingewiesen. Das ebenfalls in München
beheimatete Projekt des
Künstlers Kilian Stauss, der die Steine quasi aus dem Boden
holt, indem er sie
auf Stelen und Hausmauern installiert, wurde reserviert
kommentiert, ebenso wie
auch andere vergleichbare Kunstprojekte das Publikum spalteten.
Jener Unmut lag
allerdings nicht in der fehlenden Kreativität oder Ästhetik der
Kunstwerke
begründet, sondern vor allem darin, dass die jeweiligen Städte
sich gegen das
als „Original“ verstandene Projekt Demnigs verweigern. Schmid
und JENNIFER
ALLEN (Yale) sahen dagegen in derartigen „pluralen
Gedenkkulturen das Beste,
was uns passieren kann“, da sie Diskussionen um die
Stolpersteine in Gang
setzen, die ansonsten längst verstummt wären. Die Reaktionen auf
den Umgang mit
Stolpersteinen in München zeigen dies eindrucksvoll.
Ein Beispiel, wie der Umgang mit einer pluralen Gedenkkultur
aussehen kann,
präsentierte ARNOUD-JAN BIJSTERVELD (Tilburg), der verschiedene
Arten der
Gedenkmale in Amsterdam erläuterte. Neben Stolpersteinen gäbe es
dort es eine
Vielzahl an Alternativen, die alle nebeneinander
(ko-)existieren. Die Mehrheit
der Anwesenden sprach sich jedoch gegen andere Denkmäler für
denselben Zweck
aus.
Die beiden folgenden Referentinnen hatten dafür unterschiedliche
Argumente:
ANDREA HAMMEL (Aberystwyth) beschäftigte sich mit der Frage, für
wen
Stolpersteine sind. Sie interviewte eine Reihe von Überlebenden
der zweiten
Generation im Raum Großbritannien, für die Stolpersteine einen
essentiellen
Teil der Erinnerung an jene Familienmitglieder darstellen, die
sie zwar nie
kennengelernt haben, die jedoch unweigerlich zur eigenen Familie
gehören. Auch
diese Nachgeborenen hätten das Trauma des Holocausts erlebt, die
Verstorbenen
seien im Familienleben immer „mittransportiert“ worden, und
neben Fotografien
sei ein Stolperstein oft die primäre Möglichkeit der Erinnerung.
Hammel
verglich Demnigs Kunstprojekt mit einem Stammbaum, der über ganz
Europa
verteilt Opfer und Angehörige miteinander verbindet.
GALIT NOGA-BANAI (Jerusalem) ging ebenso auf das dezentrale
Element der
Stolpersteine ein: Durch die Verlegung am zuletzt gewählten
freiwilligen
Wohnort ergäben die Steine eine imaginäre geografische Karte der
NS-Opfer. Sie
verglich die Stolpersteine mit einer Reihe von Gräbern, die der
antike
christliche Bischof von Rom, Damasus I., mithilfe von Epigrammen
im Nachhinein
als Märtyrerstätten verifiziert habe. Wie die Inschriften des
Damasus für die
Grabstätten der Märtyrer eine Legitimation der Echtheit und
gleichzeitig eine
Gemeinsamkeit darstellen, seien es die Stolpersteine von Demnig
für die
Angehörigen und vor allem für die nachfolgenden Generationen.
Projekte, die
sich an die Stolpersteine anlehnen, wie etwa das von Stauss in
München oder die
Steine der Erinnerung in Wien, sind für Noga-Banai „fake
memorials“, die das
Verbindende von Demnigs Projekt untergraben würden. In ferner
Zukunft, wenn
Entstehung und Geschichte der Stolpersteine nicht mehr im
kollektiven
Gedächtnis mittransportiert werden, würden die Steine aufgrund
ihrer Vielzahl
als "ID-Cards" gelten, wogegen andere, lokal begrenzte Projekte
lediglich auf sich selbst bezogen wären. Dergleichen führe dazu,
so das Fazit
Noga-Banais, dass man die alternativen Projekte sowie die damit
geehrten Opfer
als Fälschung betrachten könnte. Der große Unterschied zwischen
den
Märtyrergräbern des Damasus und den Stolpersteinen bzw.
ähnlichen Projekten ist
sicherlich die umfangreiche Berichterstattung über die modernen
Kunstprojekte.
Publikationen über lokale Stolperstein-Projekte, über die
gewürdigten Menschen
und deren Biografien gibt es inzwischen in beinahe jeder Stadt;
nicht zuletzt
ist außerdem eine Vielzahl an Informationen über das World Wide
Web zu
bekommen. Die Chance, dass sämtliche Dokumentationen
verschwinden, ist
vergleichsweise gering.
Die letzten beiden Panels waren den InitiatorInnen der
Stolperstein- und
anderer Projekte gewidmet. Anhand ausgewählter Städte in
Deutschland wie auch
im Ausland wurden Erfolge, Schwierigkeiten sowie Grenzen des
Projekts
diskutiert. ACHIM BEIER (Leipzig) sprach eindrucksvoll darüber,
dass
unerwünschte Details einer Biografie, die nicht in das Leben
eines „Opfers“
passen, verschwiegen werden: Der Umgang mit biografischen
Brüchen und die
Tatsache, dass auch „Asoziale“, Wander- oder Zwangsarbeiter
Opfer des
NS-Regimes gewesen sind, müsse von vielen LaiInnen, die am
Projekt
partizipieren, noch gelernt werden.
FLORIAN PETERS (Berlin) fügte dem Beitrag Beiers noch weitere
Opfergruppen
hinzu, die innerhalb des Projekts kaum Beachtung finden, etwa
Polen und Russen,
die ebenso vom NS-Regime ermordet worden seien. Weiters führte
er am Beispiel
Polens die Grenzen der Stolpersteine vor: Trotz der zahllosen
Morde sei es im
„Land der Tat-Orte“ sinnlos, Steine zu verlegen, da Polen
vielfach
unfreiwilliger Wohnsitz war. In der anschließenden Diskussion
wurde mehrfach
die Frage gestellt, wie bestimmte Menschengruppen,
beispielsweise
Zwangsarbeiter oder straffällige Personen, ideal gewürdigt
werden können. Die
Unsicherheit, was passiere, wenn für Opfer mit biografischen
Brüchen
Stolpersteine verlegt werden, war spürbar groß.
Das letzte Panel begann mit PETER COLE (Macomb/Illinois) und
SARA HALL
(Chicago), die in Chicago ein den Stolpersteinen ähnliches
Projekt zu
realisieren versuchen, um damit die Geschichte der Stadt besser
aufzuarbeiten.
Rassengesetze und Rassentrennung führten während des „Chicago
race riot of
1919“ zu zahlreichen Gewalttaten, denen schwarze ebenso wie
weiße Menschen zum
Opfer fielen. Bis heute, so die beiden Redner, gäbe es „ein
weißes und ein
schwarzes Chicago“. Ihr Projekt soll auf mehreren Ebenen zu
einer
Auseinandersetzung mit den Unruhen und zu einem besseren Umgang
miteinander
führen. Gedenksteine, per Crowdfunding finanziert, sollen neben
einer eigens
entwickelten App sowie speziellen Touren Erinnerung und
Vergangenheitsbewältigung
auf mehreren Ebenen stattfinden lassen.
In Russland, Tschechien und der Ukraine ist durch das Projekt
„Die letzte
Adresse“ Opfern des stalinistischen Regimes wieder ein Name
gegeben worden.
Tafeln mit einem Loch, das ein ausgelöschtes Leben symbolisiert,
werden an
demjenigen Haus angebracht, in dem die verfolgte Person zuletzt
gelebt hat.
Dafür ist von allen HausbewohnerInnen das Einverständnis nötig.
ANNA
SCHOR-TSCHUDNOWSKAJA (Wien) führte die Schwierigkeiten der
InitiatorInnen an,
die durch die Verhandlungen mit den HausbewohnernInnen
entstünden –
Schwierigkeiten, die durch eine Installation der Tafeln im
öffentlichen Raum
deutlich minimiert würden.
In Spanien, so führte XOSÉ M. NÚÑEZ SEIXAS (Santiago de
Compostela) aus, gebe
es Stolpersteine und daran angelehnte Projekte erst seit wenigen
Jahren, da die
Aufarbeitung der Gewalttaten des Franco-Regimes aus Furcht vor
einem neuen
Bürgerkrieg jahrelang hinausgezögert worden sei. Anders als bei
den
Gegenprojekten der Stolpersteine, die an dieselben Opfer unter
dem NS-Regime
erinnern sollen, stieß die Vorstellung der Projekte aus Amerika,
Russland oder
Spanien, die allesamt zwar die Stolpersteine zum Vorbild haben,
aber auf ihre
Art adaptieren und differente historische Missstände
aufarbeiten, weder auf Vorbehalte
noch auf Kritik aus dem Publikum.
Abschließend ist festzuhalten, dass beide Kernfragen aus dem
ersten Vortrag von
Harald Schmid im Laufe der Tagung teilweise beantwortet worden
sind. Ja,
Stolpersteine sind nach wie vor wichtig, egal wie viele es
bereits gibt. Für
diejenigen, die mit ihnen ein persönliches Schicksal verbinden,
ist es
irrelevant, dass es bereits 70.000 Stolpersteine gibt, sie
möchten
verständlicherweise den 70.001 und 70.002 Stein für ihre
Verwandten verlegt
wissen. Es geht aus Sicht der Hinterbliebenen und jener
InitiatorInnen, die
einer Person einen Stein widmen wollen, nicht um die Fülle der
bereits
vorhandenen Verlegungen, sondern um die Würdigung von Einzelnen.
In diesem
Sinne sind die Steine nicht inflationär. Dagegenzuhalten ist,
dass sich das
Projekt zusehends vom ursprünglichen Gedanken Demnigs entfernt.
Steine sollten
zu Beginn der 1990er-Jahre nur am letzten freiwilligen Wohnort
der Person
verlegt werden. Besonders bei bekannten NS-Opfern wie
beispielsweise Stefan
Zweig, Edith Stein oder Johann Wilhelm Trollmann gibt es heute
jedoch weit mehr
als einen verlegten Stolperstein. In diesem Sinne ist Schmids
Kritik durchaus
angebracht, wenn er von Quantität spricht, die über Qualität
ginge.
Dahingehend ist auch der Titel der Konferenz „Steine des
Anstoßes oder
normiertes Ritual“ erneut aufzugreifen: Die Art der
Stolperstein-Verlegung ist
sicherlich ein normiertes Ritual, das nach feststehenden Regeln
abläuft. Nach
über 70.000 verlegten Steinen ist eine gewisse Routine
unvermeidbar. Steine des
Anstoßes sind sie aber auch – sie regen zu Diskussionen an und
befruchten
andere Konzepte der Vergangenheitsbewältigung, die oftmals dazu
führen,
Geschichte und Geschichtsschreibung erstmals öffentlich zu
hinterfragen.
Deswegen ist es wichtig, andere Projekte zuzulassen und diese
nicht als „fake
memorials“ zu stigmatisieren. Zwar ist eine übergreifende,
sämtliche Opfer des
NS-Regimes summierende Datenbank eine gute Idee, ob jedoch ein
Kunstprojekt für
diesen Zweck das richtige Mittel ist, bleibt zu bezweifeln. Die
Grenzen der
Stolpersteine, die in den letzten beiden Panels aufgezeigt
worden sind, haben
deutlich gemacht, dass diese nicht allen Opfern des NS-Regimes
gerecht werden
können. Besonders Bill Nivens Conclusio, die Stolpersteine
müssten sich ändern
und der „Zweiten Moderne“ anpassen, ist zuzustimmen: Durch ihre
Vielzahl und
Bekanntheit fügen sich die Steine immer besser und schneller ins
jeweilige
Stadtbild ein, mit der Folge, dass PassantInnen die Steine zwar
erkennen, dabei
jedoch den individuellen Moment, den Menschen dahinter,
übersehen.
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