Diskursive
Gerichtslandschaft. Die jüdische Minderheit vor
landesherrlichen Obergerichten
im 18. Jahrhundert
Autor Patrick Berendonk,
Reihe Konflikte und Kultur – Historische Perspektiven 36
Erschienen Konstanz 2020: UVK
Verlag
Anzahl Seiten 263 S.
Preis € 39,00
ISBN 978-3-7398-3074-2
Rezensiert für H-Soz-Kult von Robert Kretzschmar, Institut für
Geschichtliche
Landeskunde und Historische Hilfswissenschaften, Universität
Tübingen
Auf dem Einband ist exemplarisch die zentrale Quellenbasis der
Arbeit
abgebildet: eine Relatio cum voto – der
Sachverhaltsbericht eines
Referenten mit dem daraus abgeleiteten Vorschlag für das
Urteil –, ein
Schriftstück aus den Akten eines frühneuzeitlichen Prozesses.
Bei der
Publikation handelt es sich um die Druckfassung einer von der
Deutschen
Forschungsgemeinschaft geförderten Dissertation an der
Universität
Duisburg-Essen, die von Stefan Brakensiek betreut wurde. Ihr
Gegenstand ist im
Titel umrissen.
Nähere Erläuterungen zur Ausrichtung und Methodik gibt
Berendonk in der
wohltuend ebenso konzisen wie präzisen Einleitung. Sein
Interesse richtet sich
auf den „Einfluss des jüdischen Glaubens eines Klägers oder
Beklagten auf die
gerichtliche Wahrheitsfindung“. Analysiert wird dazu, „wie
landesherrliche
(Ober)richter aus der Vielzahl an Informationen, die im Laufe
eines Verfahrens
via Beweiserhebungen, Zeugenverhören etc. produziert wurden,
am Ende eines
Verfahrens eine Wahrheit formten, welche dann in einem Urteil
verkündet wurde.
Es soll nachvollzogen werden, wie aus dem Konkurrenzkampf der
unterschiedlichen
Wahrheiten am Ende eines Verfahrens eine Wahrheit als Sieger
hervorging und
welchen Bedingungen ihre Produktion/Findung unterworfen war.
Dabei interessiert
primär der Einfluss antijüdischer Stereotype auf die
(ober)gerichtliche
Wahrheitsfindung – immerhin grassierte seit dem Mittelalter im
Alten Reich eine
Vielzahl antijüdischer Vorurteile“ (S. 12f.). Beschränkt hat
Berendonk seine
Arbeit auf zivilrechtliche Verfahren, die im Vergleich mit dem
Strafrecht in
der Forschung bisher weniger Beachtung gefunden haben.[1] Er begründet dies
plausibel unter anderem
mit dem Hinweis, dass das jüdische Leben in der Frühen Neuzeit
vor allem von
der Handelstätigkeit geprägt war (S. 28).
In der Perspektive verbindet die Arbeit, wie Berendonk kurz
anmerkt (S. 13),
die jüdische Geschichte mit der Rechtsgeschichte. Aus
archivarischer Sicht ist
zu ergänzen, dass sie von hohem Wert auch für die Quellenkunde
ist. Denn
Berendonk exemplifiziert innovativ, wie Gerichtsakten mittels
der Diskursanalyse
sachgerecht ausgewertet werden können.[2] Eingesetzt wurde dabei
eine „speziell für
diese Arbeit entwickelte Variante der Diskursanalyse, mit der
[…] Relationen
untersucht wurden“ (S. 49). Angesichts der Quantität
frühneuzeitlicher
Prozessakten, die in Archiven erhalten sind, und der Vielfalt
der
Fragestellungen, zu denen sie herangezogen werden können, ist
dies von
besonderer Relevanz.
Die Gliederung der Arbeit ist gut durchdacht. Die Einleitung
mit ihren zehn
Unterkapiteln wie auch die folgenden Kapitel 2 bis 5 legen
zunächst die
Grundlagen für das Verständnis der letzten drei – im Blick auf
die Beantwortung
der Leitfrage maßgeblichen – Kapitel zu einzelnen Prozessen an
den
Obergerichten in Kurköln (Kapitel 6), Jülich-Berg (Kapitel 7)
und
Brandenburg-Ansbach (Kapitel 8), die Berendonk detailliert
analysiert, bevor er
ein Fazit (Kapitel 9) zieht. Dass er zuvor überall dort, wo es
sich anbot,
konsequent ein Zwischenfazit gezogen hat, erleichtert die
Lektüre und den
Nachvollzug der Methode wie auch der Ergebnisse.
Zu den Grundlagen, die einleitend ausgebreitet werden, zählt
ein kompakter
Abschnitt zum jüdischen Leben in der Frühen Neuzeit mit dem
Hinweis auf
„dezidiert antijüdische Wissensbestände in öffentlich
zugänglichen Medien wie
Flugblättern und speziellen Werken wie gelehrten
Abhandlungen“, von denen die
gerichtliche Wahrheitsfindung beeinflusst werden konnte (S.
19). Eingehend
erläutert Berendonk sodann rechtliche Kontexte, Prinzipien,
Argumentationsweisen und Verfahrensabläufe, deren Kenntnis für
alles Weitere
unabdingbar ist. Ebenso grundlegend sind die Abschnitte, in
denen er die
Anwendung der Diskursanalyse für die Interpretation von
Gerichtsunterlagen
reflektiert und dazu zahlreiche Definitionen vorlegt, die er
dann konsequent
gebraucht. An die Stelle der rechtswissenschaftlichen Begriffe
„Wahrheitsfindung“, „Urteilsfindung“ und
„Sachverhaltsfeststellung“ treten
damit „Wahrheitsproduktion“, „Urteilsproduktion“ und
„Sachverhaltskonstruktion“
(S. 55). Das Recht ist „selbst ein Diskurs, denn es ist die
Gesamtheit aller
Aussagen, die als Gesetz innerhalb eines Staates gelten
(sollen)“; die heute
nur schwer überschaubare „Komplexität des Rechts“ im Alten
Reich kann dann als
eine „Vielzahl normativer Diskurse“ beschrieben werden (S.
89), die zudem noch
dem Wandel unterlagen.
Berendonk kann auf diese Weise normative Rechtsdiskurse in
Kurköln von solchen
in Jülich-Berg und Brandenburg-Ansbach unterscheiden. Urteile
der Obergerichte
entstanden in einem Urteilsdiskurs in Verschränkung mit dem
jeweiligen
normativen Diskurs auf der Grundlage von zwei Relationen, die
von einem
Referenten und einem Korreferenten als
Sachverhaltskonstruktionen erstellt
wurden und in Urteilsvorschläge einmündeten. Die mündlich
vorgetragenen und
dann schriftlich zu den Akten gegebenen Relationen konnten als
„mögliche
Wahrheiten“ unterschiedlich ausfallen. Über sie war im
Urteilsdiskurs der
Richter zu debattieren und zu entscheiden. Wichtig im Blick
auf die
Charakterisierung herangezogener rechtlicher Bestimmungen und
der nach Bedarf
allegierten Rechtsliteratur ist die Unterscheidung zwischen
den Begriffen
„antijüdisch“ und „judenspezifisch“. Mit „antijüdisch“ werden
„allgemeine,
diffamierende Aussagen über Juden bezeichnet“, mit
„judenspezifisch“ dagegen
„allgemeine, nicht diffamierende Aussagen über Juden“, die in
der Argumentation
vor Gericht Verwendung finden konnten (S. 58).
Für die Beantwortung seiner zentralen Fragestellung „zum
Einfluss des jüdischen
Glaubens auf die gerichtliche Wahrheitsfindung“ hat Berendonk
die Obergerichte
der drei oben bereits genannten Territorien Kurköln (Hofrat),
Jülich-Berg
(Hofrat) und Brandenburg-Ansbach (Kaiserliches Landgericht zum
Burggrafentum
Nürnberg) ausgewählt. Da sie „sich mannigfaltig voneinander
unterschieden“ (S.
30), sei es mit aller Vorsicht erlaubt, von der Untersuchung
ihrer
Rechtsprechung „auf generelle Verhältnisse an den
Obergerichten im Alten Reich
zu extrapolieren“ (S. 33; vgl. dazu weiter unten). Den
Untersuchungszeitraum
hat er auf das Zeitalter der Aufklärung beschränkt (S. 33).
Quellenbasis seiner
Arbeit waren dann – plausibel begründet – die Relationen von
54 Verfahren mit
jüdischen Beteiligten, die im Landesarchiv Nordrhein-Westfalen
und Staatsarchiv
Nürnberg überliefert sind (S. 68) und aus der Fülle der
Überlieferung nach dem
Zufallsprinzip herausgefiltert wurden (dazu S. 48f.).
Nach einem vergleichenden Blick auf die jüdische Minderheit
als Rechtssubjekt
in den normativen Diskursen der drei Territorien (Kapitel 4)
und spezielle
Argumentationsmuster, die dort in Prozessen mit jüdischen
Beteiligten zur
Anwendung kamen (Kapitel 5), beleuchtet Berendonk sehr
quellen- und damit
lebensnah die „Wahrheitsproduktionen“ in insgesamt acht
einzelnen Verfahren der
drei Obergerichte (Kapitel 6–8). Unter konsequenter Anwendung
seiner Variante
der Diskursanalyse beschreibt er detailliert die Abläufe und
Argumentationsmuster der diskursiven Prozesse.
Im Ergebnis entsteht für die zentrale Fragestellung ein
differenziertes Bild.
Im Kurkölner Urteilsdiskurs wurden Juden als Betrüger,
Wucherer und Feinde der
Christenheit dargestellt, wozu man auf Rechtssätze und vor
allem auf die
Kurkölner Judenordnung von 1700 zurückgriff. Im Jülich-Berger
Urteilsdiskurs
sind dagegen keine antijüdischen Stereotype zu finden, während
für
Brandenburg-Ansbach eine Veränderung zu konstatieren ist:
Traten hier zu Beginn
des 18. Jahrhunderts solche Zuschreibungen noch auf, kam es ab
1720 zu einem
Wandel; ab 1730 war es nicht mehr möglich, antijüdisch zu
argumentieren.
Judenspezifisch konnte dagegen an allen drei Obergerichten bei
der
Urteilsproduktion argumentiert werden, da die drei
territorialen normativen
Diskurse judenspezifische Rechtssätze beheimateten, die
argumentativ genutzt
werden konnten, wobei dies den jüdischen Parteien nicht zum
Nachteil gereichen
musste. Das Fazit: „Es lässt sich also abschließend
konstatieren, dass der
Kurkölner Urteilsdiskurs latent antijüdisch ausgerichtet war,
während der
Jülich-Berger und der Brandenburg-Ansbacher Urteilsdiskurs
zwar keine
antijüdischen, wohl aber judenspezifische Argumente
gestatteten“ (S. 241).
Offen bleibt dabei, wie die Unterschiede zu erklären sind,
welche Entwicklungen
dahinterstanden. Keinesfalls soll diese Anmerkung aber als
negative Kritik
verstanden werden: Hier hätten vertiefte Forschungen zu den
drei Territorien
ansetzen müssen, die weit über den Rahmen der Dissertation
hinausgegangen
wären.
Inwieweit sein Ergebnis verallgemeinert werden kann, hat
Berendonk selbst
problematisiert: „Aus dem Gesagten ergibt sich, dass die
Stellung jüdischer
Parteien nur für jedes Gericht einzeln bestimmt werden kann –
folglich keine
Aussagen über die generelle Stellung der Juden vor Gerichten
des Alten Reiches
möglich sind“ (S. 242). Angesichts der Vielzahl von Gerichten
und normativen
Diskursen im Alten Reich wie auch der seit dem Mittelalter
tief verwurzelten
Judenfeindschaft bleibt insofern jenseits der Auswertung von
54 Relationen an
drei Obergerichten noch viel zu erforschen zur jüdischen
Minderheit vor
Gericht, vor allem auch für die Zeit vor der Aufklärung und
unter Erweiterung
der Perspektive auf das Strafrecht. Berendonks innovative
Studie mit ihrem
bemerkenswerten Befund regt dazu an. Sie überzeugt insgesamt
besonders durch
ihre Methodik und die Stringenz der Durchführung. Dass sie
wichtige Hinweise
auch für die archivalische Quellenkunde bietet, sei nochmals
eigens betont. Für
die Auswertung von Prozessakten und die Interpretation von
Relationen hat sie
eine neue Sichtweise eröffnet.
Anmerkungen:
[1] Für die Reichsebene hat
jüngst André
Griemert, Jüdische Klagen gegen Reichsadelige. Prozesse am
Reichshofrat in den
Herrschaftsjahren Rudolfs II. und Franz I. Stephan, München
2015, eine Studie
vorgelegt.
[2] Zur Orientierung sei nur
verwiesen auf Achim
Landwehr, Historische Diskursanalyse, 2., aktualisierte Aufl.,
Frankfurt am Main
2018.
Zitation
Robert Kretzschmar: Rezension zu: Berendonk, Patrick:
Diskursive
Gerichtslandschaft. Die jüdische Minderheit vor
landesherrlichen Obergerichten
im 18. Jahrhundert. Konstanz 2020. ISBN 978-3-7398-3074-2, In: H-Soz-Kult,
18.03.2021, <www.hsozkult.de/publicationreview/id/reb-93249>.
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