heute in der Saarbrücker Zeitung, Kultur B5
Orwells „1984“ als Comicband : Der große Bruder
hat immer
Recht
Von Tobias
Kessler, Redakteur Kultur
Saarbrücken Natürlich, die Geschichte kennt man. Manches von ihr
ist in den
Sprachgebrauch und ins kollektive Gedächtnis eingesickert: „Big
brother is
watching you“, die Jahreszahl 1984 als Symbol des
Überwachungsstaates.
George Orwells Roman „1984“ ist ein Zukunftsblick von gestern,
wurde 1949
erstmal publiziert. Für ihre Comic-Adaption haben sich Texter
Jean-Christophe
Derrien und Zeichner Rémi Torregrossa bewusst nicht für eine
Modernisierung
entschieden, nicht für das Szenario einer heutigen Welt mit
Überwachung und
Spionage per Internet, nicht für Laptops und Handys.
Es wäre als Form der Adaption vielleicht zu offensichtlich gewesen
– so aber
liegt ein optischer Reiz der Lektüre des Bandes in seiner
überwiegenden
Retro-Gestaltung. Da mag mal kurz pyramidale moderne Architektur
aus dem
staubigen Straßenbild herausragen, ansonsten aber wirkt alles wie
von gestern,
vielleicht so, wie man sich in Orwells Vergangenheit eine düstere
Zukunft
vorgestellt hat. In diesem „1984“ schreibt die Hauptfigur Winston
Smith nachts
ins Tagebuch, was er tagsüber nicht einmal zu denken wagt: Dass
dieser Staat,
dessen Kopf namens „Big Brother“ streng von Plakaten herabblickt
(und wie
Donald Sutherland in den 1970er Jahren ausschaut), auf Lügen
gründet und durch
Angst stabil bleibt: Angst, von den eigenen Kindern als nicht
staatstreu genug
verraten zu werden. Angst, im Gespräch mit Kollegen Verdacht zu
erregen. Angst
vor ziemlich allem.
Eine Begegnung und eine beginnende Romanze mit der jungen,
erotisch sehr
aufgeschlossenen Frau Julia (ausgerechnet aus der Anti-Sex-Liga)
scheint ein
Ausweg zu sein, eine Art inneres Glück, eine Flucht ins Private zu
zweit. Für
die romantischen Liebesszenen wird der kühl anmutende
schwarz-grau-weiße Comic
wärmend bunt. Aber der Staat lässt sich nicht leicht täuschen und
hat Winston
längst im Auge.
Der Comic-Künstler Torregrossa zeichnet diese Welt detailliert in
all ihrer
Trostlosigkeit, alles wirkt ein wenig schäbig in dieser
ausgebleichten Welt,
selbst die Behörden des Machtapparates: Das „Ministerium für
Wahrheit“, in dem
die Neuigkeiten von gestern passend zur Gegenwart retuschiert
werden – eine Art
„old-fake-news“-Fabrik – wirkt wie ein gigantischer Stall mit
kargen
Einzelabteilungen. Die Parallelen dieser Welt ist zu denen unserer
sind
unleugbar – „Hasswochen“ zur Entladung des eigenen Frusts und zum
Anstacheln
der Aggression gegenüber einem diffusen Feind haben wir rund um
die Uhr in den
sogenannten sozialen Medien. Das Proletariat wird ruhiggestellt
mit
„stumpfsinnigen Zeitungen“ über Sport und Verbrechen, angereichert
mit
„billigster Pornografie“. Und Desinformation ist die
schlagkräftige
Propagandawaffe des Staates: Wenn die wöchentliche
Schokoladenration von 80 auf
20 Gramm gesenkt wird, sich aber niemand mehr an die 80 Gramm
erinnert, zumal
das „Ministerium für Wahrheit“ die Informationen in den Zeitungen
dazu komplett
tilgt, sieht man die mageren 20 Gramm eben als großzügiges
Geschenk des großen
Bruders an – besser als null Gramm ist das ohnehin.
Winston kennt die Wahrheit, aber was soll er
damit anfangen?
Die Sequenz, in der der Staat versucht, ihn zu zerbrechen (mit
Erfolg), gehören
zu den intensivsten Seiten des Bandes, der unter die Haut geht –
die Geschichte
mag alt sein, ist aber zeitlos.
Rémi Torregrossa (Zeichnungen) und Jean-Christophe Derriem
(Szenario nach
George Orwell): 1984.
Knesebeck, 124 Seiten, 22 Euro.
Beim selben Verlag ist auch der biografische Band „Orwell“ von
Pierre Christin
und Sébastien Verdier erschienen.
www.knesebeck-verlag.de