„Ich habe heute abend Kirchendienst“, erzählt
mir meine Frau
beim Frühstück.
Ich bin erstaunt: „Am Freitag? Im Dom?“ Freitags gibt’s
normalerweise keinen
Gottesdienst. „Ja“, meint sie, „mit Elfie zusammen. Irgendetwas
ist heute, was
Besonderes.“
„Klar. Heute ist der 19te März, St. Josefstag.“ Das sagt ihr
nichts.
„Heute vor einem Jahr war das ein Donnerstag. Gestern vor einem
Jahr haben sie
mir meinen Vortrag für heute vor einem Jahr abgesagt. Über das,
was heute vor
einem Jahr vor 75 Jahren geschehen ist.“
Erneut ernte ich einen fragenden Blick.
„Heute vor 76 Jahren haben die Amerikaner St. Wendel eingenommen.
Vor einer halben Stunde (und 76 Jahren) sind sie dort unten auf
der Alsfassener
Straße entlang geschlichen. In Stiefeln mit Gummisohlen so gut wie
lautlos.
Jeweils einer auf jeder Straßenseite, das Gewehr in der Vorhalte,
leicht
gebückt, völlig angespannt - mit allen Sinnen auf jedes leiseste
Geräusch
lauschend, auf jede kleinste Bewegung reagierend.
Aber sie hörten so gut wie keine Geräusche und sahen auch kaum
eine Bewegung.
Sie meinten zu wissen, daß sie beobachtet wurden, aus Fenstern
oder Türen oder
sonstigen Ritzen. Aber es hat sie kaum jemand gesehen. Klar, die
Leute waren
neugierig, aber großer als ihre Neugierde war die Angst um das
eigene Leben.
Dein Papa hat mir das erzählt. Er hat die Amerikaner auch nicht
gesehen, als
sie die Straßen entlangkamen. Er saß wie die meisten Leute aus
Alsfassen im
Hauskeller und fürchtete sich fast zu Tode vor dem, was kommen
konnte. Oben im
alten Haus auf dem Hügel an der Kreuzung zum Falkenbösch. Die
Spannung - soll
ich besser sagen „die Angst“ - war enorm. Denn was hatte man nicht
alles über
den Feind gehört, diese Bestie in Menschengestalt, die alle Männer
und Kinder sofort
umbringen würden und die Mädchen und Frauen …“
Nun gut, daß hätte ich zu meiner Frau gesagt, wenn sie nicht nach
dem Wort „eingenommen“
nach oben verschwunden wäre, um sich im Homeoffice auf ihr Tagwerk
vorzubereiten.
Eine halbe Stunde später bringe ich meine Schwiegermutter Rita
nach Bliesen in
die Kurzzeitpflege in das Haus hinter der Kirche. Als ich bei
EuroSchu den
langen Hang hinauf ins Dorf fahre, sehe ich nicht die Überreste
der
amerikanischen Vorhut, die hier gestern vor 76 Jahren von einer
Geschützstellung nahe der Rassiersmühle in direktem Beschuß
zerstört wurde, sehe
ich nicht die ausgebrannten Trümmer der beiden Panzer und der
Halbkettenfahrzeuge, in denen zahlreiche G.I.s das Leben verloren,
sehe ich
nicht das große Loch im damals ersten Haus auf der rechten Seite,
wo die erste
Granate landete und einen großen Fetzen der Wand herausriß, bevor
die nächsten
Geschosse Menschen und Maschinen zerfetzten, rieche ich nicht den
Gestank von
Öl, Benzin, Blut und verbranntem Fleisch, der nach 12 Stunden
immer noch in der
Luft hing.
Nichts davon sehe ich jetzt oder sah ich je, und es gibt keine
Fotos davon und
nur bruchstück- und schemenhafte Überlieferungen. Es war nur eine
kleine
Episode in einem langen Krieg, der nach sechs Jahren endlich die
Heimat
erreicht und darüber hinweggerollt war. Sein Ende war in Sicht,
aber für die
Menschen zuhause - hier - fing er gerade erst an. Und nichts würde
mehr so sein
wie vorher.
Das kommt wohl öfters vor.
Alsfassen am Tag des hl. Josef 2021
Roland Geiger
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