Geschichte auf YouTube. Neue
Herausforderungen für
Geschichtsvermittlung und historische Bildung
Herausgeber Christian Bunnenberg; Nils Steffen
Reihe Medien der Geschichte 2
Erschienen Berlin 2019: De
Gruyter Oldenbourg
Anzahl Seiten VII, 347 S.
Preis € 89,95
ISBN 978-3-11-059682-3
Inhalt siehe meinclio.clio-online.de/uploads/media/book/toc_book-54854.pdf
Rezensiert für H-Soz-Kult von Nils Theinert,
Friedrich-Meinecke-Institut, Freie
Universität Berlin
Das Videoportal YouTube ist längst ein zentrales Medium für
Geschichte im Netz
geworden. Dabei ist die ganze Bandbreite von Videos mit
History-Content kaum
noch zu überblicken: Neben Erklärvideos zu allen möglichen
Epochen gesellen
sich Special-Interest-Angebote zu Nischenthemen (vor allem
Militärgeschichte),
Aufnahmen von Re-Enactments, „Let’s Play“-Videos von
Computerspielen mit
historischem Inhalt und nicht zuletzt auch historische
TV-Aufnahmen, Musik und
sogar alte Werbeblöcke, die Nutzer/innen für eigene
lebensgeschichtliche
Erinnerungen konsumieren. Die Forschung zur
Geschichtsvermittlung ist somit zu
einer eingehenderen Analyse dieser neuen Formen von
Geschichtskultur
aufgefordert.
Darauf reagiert der nun vorliegende Tagungsband, der auf dem
Nachwuchsworkshop
„Digital Native (Hi)stories“ in Heidelberg 2016 basiert und von
„Studierenden
und Young Professionals der AG Angewandte Geschichte/Public
History im VHD“
organisiert worden war. Ziel ist es, „sehr gute
Forschungsarbeiten des
Nachwuchses [...] mit Beiträgen von etablierten Praktikerinnen
und Praktikern
sowie Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern“
zusammenzuführen (S. 18). Der
Band gliedert sich in die Unterkapitel „Kontexte“, „Narration
und
Authentizität“, „Produktion und Praxis“, „Partizipation“ sowie
„YouTube und
historische Bildung“ mit insgesamt 16 Beiträgen.
Wie die Herausgeber eingangs betonen, wurde das Videoportal von
der Forschung
bisher meist übersehen, obwohl viele Jugendliche es besonders
für schulisches
Lernen nutzen. Digitale Medien hätten „enormes Potential für die
historisch-politische Bildung“ (S. 16), da es sich um
„partizipative
Wissensräume digitaler Netzkultur“ handele, in denen „formelles
und informelles
Wissen ohne (Hemm-)Schwelle“ (S. 17) ausgetauscht würde. Es
fällt auf, dass
sich die zitierte Literatur bei der diagnostizierten
Forschungslücke auf die Geschichtswissenschaft
beschränkt und zum Beispiel gedächtnissoziologische Arbeiten
nicht hinzugezogen
worden sind.[1] Bei diesem Thema besteht
jedoch großes
interdisziplinäres Vernetzungspotenzial, daher wäre ein Blick
über das eigene
Fach hinaus wünschenswert. Im Folgenden werden einige Beiträge
beispielhaft
vorgestellt.
Im Kapitel „Kontexte“ stellt Judith Uebing ein hilfreiches
Analyseraster für
Erklärvideos vor, das geschichts- und medienwissenschaftliche
Methodik vereint.
Sie weist jedoch auch auf die Notwendigkeit der Reflexion hin,
da die Analyse
der Videos nach allein wissenschaftlichen Maßstäben „eigene
Logiken der
Wissensvermittlung (nicht Wissenschaftsvermittlung) und
Authentizitätszuschreibung“ (S. 89) auf YouTube übersehen könne.
Der Abschnitt „Narration und Authentizität“ beginnt mit Hannes
Burkhardts
Beitrag über den YouTube-Auftritt des DDR-Museums in Berlin. Er
moniert, dass
dort das „totalitäre[] System der DDR“ (S. 104) in einer
„unverantwortbaren
Weise bagatellisiert“ (S. 114) werde. Das Museum biete
größtenteils
„geschlossene Masternarrationen“ (ebd.), vor allem im
YouTube-Format „Frag Dr.
Wolle“, in dem der Leiter des Museums vom DDR-Alltag berichtet.
Burkhardt
bemängelt zu Recht, dass Wolle zu einem Hybrid aus Zeitzeugen
und Experten
verschmilzt und nie ganz klar wird, was historische Einordnung
und was eigene
Erfahrung ist. Es entsteht bisweilen jedoch der Eindruck, dass
Burkhardts
Bewertung der Videos, der darin enthaltenen
Zeitzeug/innenaussagen und auch der
Nutzer/innenreaktionen selbst von einer
totalitarismustheoretischen
(Master-)Narration des DDR-Alltags beeinflusst ist.[2] Benjamin Roers
untersucht die
Authentifizierungsstrategien des Kanals „MrWissen2go“. Das in
den Videos
präsentierte Wissen zeichne sich durch eine scheinbare
Nicht-Kontroversität
aus. Dies und die „amateurhafte Videoproduktion, das Bemühen um
eine
hierarchiefreie Vermittlung […] sowie die persönliche
Kommunikationsebene“ (S.
157) würden mit einer Komplexitätsreduktion einhergehen.
Einen interessanten Blick auf „Produktion und Praxis“ liefern
zwei Interviews
mit Mirko Drotschmann (MrWissen2go) und Florian Wittig, einem
der Produzenten
des YouTube-Kanals „The Great War“ (1,16 Millionen
Abonnent/innen). Wittig
nennt drei Erfolgsfaktoren für seinen Kanal: „Serialität,
Production Value und
den globalen Bedarf nach History Content“ (S. 180). Eine
Herausforderung sei
die YouTube-Aufmerksamkeitsökonomie, der „The Great War“ als
kommerzieller
Kanal Rechnung tragen müsse. Sie erhöhe die Spannung zwischen
Kultur- und
Militärgeschichte, da Inhalt mit Gewalt und Kriegsgerät mehr
Klicks bekomme.
Für die Zukunft wünscht er sich eine stärkere Vernetzung von
Wissenschaftler/innen und Produzent/innen.
Einen wichtigen Aufschlag für die Nutzungsanalyse liefern die
Beiträge im
Abschnitt „Partizipation“. Moritz Hoffmann plädiert für die
„Einführung der
analytischen Kategorie ‚Historische Hassrede‘“ (S. 212) im
Internet. Diese
umfasse die Gesamtheit von „Abwertungsmechanismen“ gegen
bestimmte Gruppen in
der Geschichte und zeichne sich durch eine spezifische
Ausdrucksform in
sozialen Medien aus: „schnell, häufig anonym, meist
unsanktioniert und global
abrufbar“ (S. 214). Die rechtsextremen Topoi seien dabei selten
neu, nun stoße
die Agitation aber auf ein großes, meist im Schulalter
befindliches Publikum.
Doch diese Öffentlichkeit biete auch Chancen. So könnten
„Diskurse und
Argumentationsmuster […] ‚revisionistischer‘ Subkultur in ihrer
Entstehung, Vernetzung
und Verbreitung“ wie selten zuvor beobachtet werden und somit
auch Lehrkräfte
und andere historische Bildner/innen auf Provokationen bei
bestimmten Themen
und eigene Gegenrede vorbereitet werden. Christopher Friedburg
analysiert
YouTube-Beiträge mit Blick auf verschiedene Nutzer/innenrollen:
Rezipient/innen, Bewertende sowie Produzent/innen. Im Fokus
stehen dabei die
Reaktionen auf eine kontrovers diskutierte, auf YouTube
hochgeladene alte
TV-Dokumentation über Hitler. Ernüchternd muss er feststellen,
dass auch in den
Kommentaren unter diesem Video „Holocaustleugner und
Verschwörungstheoretiker
die Deutungshoheit“ (S. 253) übernommen hätten. Diese zweifellos
überzeugend
dargelegten Befunde sind allerdings wenig überraschend. Die
Analyse von nur einer
Handvoll von Videos in beiden Beiträgen zeigt zudem auf, dass
die
Geschichtsdidaktik für eine weitergehende Untersuchung solcher
Phänomene wie
Hassreden und historischer Verschwörungstheorien in bestimmten
Fällen gut daran
täte, sich kommunikationswissenschaftlicher Methoden und
Werkzeuge zu bedienen,
die es erlauben, größere Datenkorpora zu analysieren und
Vernetzungsprozesse
sichtbar zu machen.[3]
Im Unterkapitel „YouTube und historische Bildung“ widmet sich
Anja Neubert in
geschichtsdidaktischer Perspektive dem Kanal „TheSimpleClub“,
dem mit 204.000
Abonnent/innen reichweitenstärksten deutschen
Geschichtslernkanal „als
Herausforderung historischer Nonsensbildung“ (S. 261).
Historischen Sinn
„negiert [der Kanal] offensiv […] in der Herablassung gegenüber
Vergangenheit
und Geschichte“ (S. 274). Der Konstruktionscharakter von
Geschichte werde nicht
ansatzweise thematisiert. Das einzige Ziel bestehe in der
Vermarktung des
Produkts. Anja Neubert schlägt eine dekonstruierende
Thematisierung der Videos
im Unterricht „im Sinne der Vermittlung geschichtskultureller
und narrativer
Kompetenz“ (S. 279) vor. „Durch eine konsequente Umsetzung
eigener Ansprüche an
zeitgemäßes historisches Lernen“ müsse die Geschichtsdidaktik
TheSimpleClub
„die Geschäftsgrundlage […] entziehen“ (S. 281). Im gleichen
Unterkapitel
stellen Bernhard Linke und Marie Föllen eine Übung vor, in der
Bachelor-Studierende die didaktischen Potenziale und
qualitativen
Einschränkungen des medialen Formats „Erklärvideo“ für
Unterricht und Lehre
erarbeiteten. Den Autor/innen fiel dabei besonders auf, dass die
Studierenden
aufgrund eigener langjähriger Rezeption von YouTube und anderer
digitaler
Medien „eine bemerkenswerte kritische Distanz“ sowie „ein hohes
methodisches
Reflexionspotential“ (S. 291) bei der Bewertung der Videos an
den Tag legten;
ein auffälliger Unterschied zur Nutzung von Forschungsliteratur,
die „häufig
unreflektierter rezipiert“ (S. 292) werde. Schließlich widmet
sich Jens Crueger
der Frage des Webs als kulturellem Gedächtnis. Dabei kommt er zu
der folgenden
Erkenntnis, der man nur zustimmen kann: „Der Verlust von
Dokumenten […] hat
längst ein Ausmaß erreicht, dass die Rede von ‚Dark Ages of
Internet History‘
gerechtfertigt erscheinen lässt“ (S. 299f.).
Wie die Herausgeber im Ausblick selbst schreiben, kann ein
Tagungsband ein
Forschungsgebiet nicht vollumfänglich abdecken, so werden
beispielsweise nur
deutschsprachige Angebote behandelt. Eingehende Analysen von
Agenda-Setting,
Zielgruppen, wissenschaftlicher Einbindung,
Professionalisierungs- und
Monetarisierungsprozessen sowie Nutzungsverhalten stehen noch
aus. Zudem müsse
YouTube als „globales Medienphänomen“ (S. 318) analysiert
werden. Insgesamt
bietet der Tagungsband trotzdem eine wichtige erste
geschichtsdidaktische
Erkundung von Geschichte auf YouTube und mit der umfangreichen
Bibliografie und
vor allem den verschiedenen methodischen Zugängen eine
Inspirationsgrundlage
für weitere Untersuchungen.
Anmerkungen:
[1] Siehe etwa: Vivien Sommer,
Erinnern im
Internet. Der Online-Diskurs um John Demjanjuk, Wiesbaden 2018.
[2] Als differenziertere
Ansätze seien hier
genannt: Martin Sabrow, Sozialismus als Sinnwelt. Diktatorische
Herrschaft in
kulturhistorischer Perspektive, in: Potsdamer Bulletin für
Zeithistorische
Studien 40–41 (2007), insb. S. 10; Mary Fulbrook, Ein ganz
normales Leben.
Alltag und Gesellschaft in der DDR, Darmstadt 2008; sowie Thomas
Lindenberger,
Das Land der begrenzten Möglichkeiten. Machträume und Eigen-Sinn
der
DDR-Gesellschaft, in: Deutschland Archiv, 10.8.2016, https://www.bpb.de/232099
(26.02.2020).
[3] Ein Beispiel für eine
solche Analyse: Jan
Tereick, Die „Klimalüge“ auf YouTube. Eine korpusgestützte
Diskursanalyse der
Aushandlung subversiver Positionen in der partizipatorischen
Kultur, in:
Claudia Fraas u.a. (Hrsg.), Online-Diskurse. Theorien und
Methoden
transmedialer Online-Diskursforschung, Köln 2013, S. 226–257.
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