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2020/04/11 10:12:47
Roland Geiger
Re: [Regionalforum-Saar] „Die Glocken sind in Rom “ - Nachtrag
Datum 2020/04/19 19:05:04
Roland Geiger
[Regionalforum-Saar] Schüler und Lehrer der Saarbr ücker Bergschule 1816 – 1906
2020/04/11 10:12:47
Roland Geiger
Re: [Regionalforum-Saar] „Die Glocken sind in Rom “ - Nachtrag
Betreff

2020/04/30 11:10:54
Roland Geiger
[Regionalforum-Saar] Geschichte auf YouTube. Neue Her ausforderungen für Geschichtsvermittlung und historische B ildung
Autor


Re: [Regionalforum-Saar] „Die Glocken sind in Rom “ - Nachtrag

Date: 2020/04/11 14:24:18
From: Stefan Reuter via Regionalforum-Saar <regionalforum-saar(a)...

Hallo zusammen,

ist das des Rätsels Lösung: ökumenisches Glockenläuten als Zeichen der Zuversicht in Zeiten der Corona-Pandemie?

Gruß, Stefan

Am 11.04.2020 um 10:12 schrieb Roland Geiger:

PS2: An meinem Artikel von gestern abend ist natürlich kein Wort wahr. Weder gibt es den beschriebenen Brauch noch die Kirchenglocken-Abnahme-und-Transport-Aktion noch die Position in den Kirchenrechnungen.

Wahr ist allerdings die Frage, die wir uns gestern abend stellten:

Wieso haben um halb acht wie jeden Abend zuvor die Kirchenglocken geläutet?

Am Karfreitag? Und heut abend vermutlich wieder. ???

Schöne Ostern.

Roland Geiger




Am 10.04.2020 um 22:09 schrieb Roland Geiger:

„Die Glocken sind in Rom“
nach einer Recherche im Pfarrarchiv St. Wendel
von Roland Geiger, Alsfassen.

„Die Glocken sind in Rom“, so hat man uns - als ich klein war - immer den Umstand erklärt, daß die Kirchturmglocken zwischen Gründonnerstag und Ostersonntag nicht läuten - das galt natürlich nur für die katholischen - was die Protestanten ihren Kindern erzählten, weiß ich nicht. Nach Rom werden die sie nicht schicken, u.a. weil sie ihre Beziehungen mit dem Papst seit dem 15ten Jahrhundert … nun ja, das ist kompliziert und gehört auch nicht hierher.

Damals - als ich klein war - habe ich das natürlich geglaubt. Erst viele Jahre später - und das ist jetzt auch noch keine fünf Jahre her - habe ich erfahren, daß die Geschichte, so unglaublich sie auch klingt, tatsächlich war ist. Als mir Gerd Schmitt den Schlüssel des Pfarrarchivs St. Wendel nicht nur symbolisch übergab, saß ich fast ein ganzes Jahr lang jeden Nachmittag dort unten im Verlies und durchforstete alle Kisten und Kästen und Ordner mit all den Briefen, Verträgen, Urkunden und Rechnungen, die dort unten seit Jahr und Tag, sprich: seit spätestens 1304 nach Christus, aufbewahrt werden. Besonders die Kirchenrechnungen hatten es mir angetan. Eigentlich sind das die Jahresabschlußrechnungen der Pfarrei, die getrennt nach Soll - alle Einkünfte - und Haben - alle Ausgaben - aufgeführt sind und jeweils von Johannis bis Johannis reichten - also von gut Mitte Juni des einen bis gut Mitte Juni des nächsten Jahres. Und dort - natürlich hinten bei den Ausgaben - fand ich nach einigem Suchen und Transkribieren auch das Gesuchte, den Transport der Glocken nach Rom.

Schon in der ersten hier im Archiv vorhandenen Rechnung - der von 1519-20 - geht es los: Auf Seite 66 (moderner Paginierung) erscheint in den „ußgaben pro diversis“ ganz am Ende der langen Liste:

„Item in der Mitnacht
als die klocken herabgenomen
um nacher Rom zu schiken,
haben wir dem leyendeker verdingt
alles in seinen kosten den grosen thurn
zuersteihen, und die drey klocken
abzuneme, wozu fuffzen Mann nothwendig,
also geben   xxvij g 15 alb“

„Item dem furmann Peter Romer verdingt,
die klocken aufladen und gen Rom zu faren,
kam dis Jar bis Otweiler, also geben   xi g 5 alb“

Pfarrer Keller, der 1704 die letzte Wendelslegende verfaßte, hat das genaue Procedere in seinem Protokoll beschrieben, verfaßt im ersten Jahr nach seiner Übernahme der Pfarrei: Die Pfarrei beauftragte den Dachdecker, in den letzten Stunden des Gründonnerstags den Turm zu besteigen, die Glocken auszuhängen und herabzulassen. Vor der Kirche wurden sie auf einen Wagen geladen, der dann durch das Untere Tor (Ecke Brühl-, Luisen- und Kelsweilerstraße) in Richtung Süden losfuhr - in Richtung Rom. Natürlich war jedem der Beteiligten klar, daß sie keine Chance hatten, in drei Tagen Rom zu erreichen und wieder nach hause zu kommen. Deshalb fuhr man so weit, wie es ging, gewöhnlich bis Ottweiler. Es mußte auf jeden Fall ein Ort außerhalb des Amtes sein, um die feste Absicht zu bekunden. In Ottweiler im Gasthaus „Sonne“, das die Fuhrleute am späten Freitagnachmittag erreichten, hielt man an und übernachtete und fuhr am nächsten Morgen wieder zurück nach St. Wendel, wo die Glocken wieder hinaufgezogen und befestigt wurde, um am Ostersonntagmorgen die Auferstehung unseres Herrn zu verkünden.

Die Bevölkerung sollte von dem Treiben natürlich möglichst nichts mitbekommen, weshalb am Gründonnerstag und zwei Tage später am Samstag ab 8 Uhr abends eine allgemeine Ausgangssperre verhängt wurde. Natürlich wußte jeder, was da los war, aber daß die Glocken wirklich nach Rom unterwegs waren, war ja nicht gelogen, und daß sie nie wirklich dort ankamen, nun ja, … heut würde man sagen: ein bißchen Schwund ist immer.

Diese Prozedur wurde danach jedes Jahr an Gründonnerstag wiederholt und findet sich infolgedessen in allen Kirchenrechnungen bis zum heutigen Tag. Im Gegensatz z.B. zur Feier des Wendelskuchentags, an dem die Kirche über die Jahrhunderte hinweg 800 Brötchen backen und an die Bevölkerung verteilen ließ. Dieser schöne Brauch ging im Jahr der Besetzung St. Wendels durch die französischen Revolutionstruppen ein. Während die Glocken bis heute am Karfreitag und dem darauffolgenden Samstag nach Rom unterwegs sind.

Natürlich müssen die Menschen der Stadt an den beiden Tagen nicht auf den gewohnten nützlichen Ton verzichten - diese Aufgabe übernehmen die Meßdiener, die mit Kleppern und Rätschen ihr bestes tun, die Glockenklänge zu ersetzen.

Alsfassen am Karfreitag des Jahres 2020

Roland Geiger

PS: Bitte bis Dienstag nicht bei uns anrufen - ich habe das Telefon auf lautlos gestellt und jedes andere Gerät im Haus, das Geräusche verursacht - bis Dienstag, dann hat meine Frau die Gelegenheit, einen Ohrenarzt aufzusuchen. Ich fand mich heute Abend zu dieser Maßnahme gezwungen, weil sie Geräusche hört, die nicht existieren können. Sie sagte um halb acht, „hör mal, die Kirchturmglocken läuten“. Ich „hörte“ natürlich nicht, weil’s da nichts zu hören gab.

Denn wie sollten heut abend die Kirchturmglocken läuten,
die sind doch bis übermorgen Morgen auf dem Weg nach Rom.



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Mit freundlichen Grüßen

Roland Geiger

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Roland Geiger
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