PS2: An meinem Artikel von gestern abend ist
natürlich kein
Wort wahr. Weder gibt es den beschriebenen Brauch noch die
Kirchenglocken-Abnahme-und-Transport-Aktion noch die Position in
den
Kirchenrechnungen.
Wahr ist allerdings die Frage, die wir uns gestern abend stellten:
Wieso haben
um halb acht wie jeden Abend zuvor die Kirchenglocken geläutet?
Am Karfreitag? Und heut abend vermutlich
wieder. ???
Schöne Ostern.
„Die Glocken
sind in Rom“
nach einer Recherche im
Pfarrarchiv St. Wendel
von Roland Geiger, Alsfassen.
„Die Glocken sind in Rom“, so hat man uns - als ich klein war
- immer den Umstand erklärt, daß die Kirchturmglocken zwischen
Gründonnerstag und Ostersonntag nicht läuten - das galt
natürlich nur für die katholischen - was die Protestanten
ihren Kindern erzählten, weiß ich nicht. Nach Rom werden die
sie nicht schicken, u.a. weil sie ihre Beziehungen mit dem
Papst seit dem 15ten Jahrhundert … nun ja, das ist kompliziert
und gehört auch nicht hierher.
Damals - als ich klein war - habe ich das natürlich geglaubt.
Erst viele Jahre später - und das ist jetzt auch noch keine
fünf Jahre her - habe ich erfahren, daß die Geschichte, so
unglaublich sie auch klingt, tatsächlich war ist. Als mir Gerd
Schmitt den Schlüssel des Pfarrarchivs St. Wendel nicht nur
symbolisch übergab, saß ich fast ein ganzes Jahr lang jeden
Nachmittag dort unten im Verlies und durchforstete alle Kisten
und Kästen und Ordner mit all den Briefen, Verträgen, Urkunden
und Rechnungen, die dort unten seit Jahr und Tag, sprich: seit
spätestens 1304 nach Christus, aufbewahrt werden. Besonders
die Kirchenrechnungen hatten es mir angetan. Eigentlich sind
das die Jahresabschlußrechnungen der Pfarrei, die getrennt
nach Soll - alle Einkünfte - und Haben - alle Ausgaben -
aufgeführt sind und jeweils von Johannis bis Johannis reichten
- also von gut Mitte Juni des einen bis gut Mitte Juni des
nächsten Jahres. Und dort - natürlich hinten bei den Ausgaben
- fand ich nach einigem Suchen und Transkribieren auch das
Gesuchte, den Transport der Glocken nach Rom.
Schon in der ersten hier im Archiv vorhandenen Rechnung - der
von 1519-20 - geht es los: Auf Seite 66 (moderner Paginierung)
erscheint in den „ußgaben pro diversis“ ganz am Ende der
langen Liste:
„Item in der Mitnacht
als die klocken herabgenomen
um nacher Rom zu schiken,
haben wir dem leyendeker verdingt
alles in seinen kosten den grosen thurn
zuersteihen, und die drey klocken
abzuneme, wozu fuffzen Mann nothwendig,
also geben xxvij g 15
alb“
„Item dem furmann Peter Romer verdingt,
die klocken aufladen und gen Rom zu faren,
kam dis Jar bis Otweiler, also geben xi g 5 alb“
Pfarrer Keller, der 1704 die letzte Wendelslegende verfaßte,
hat das genaue Procedere in seinem Protokoll beschrieben,
verfaßt im ersten Jahr nach seiner Übernahme der Pfarrei: Die
Pfarrei beauftragte den Dachdecker, in den letzten Stunden des
Gründonnerstags den Turm zu besteigen, die Glocken auszuhängen
und herabzulassen. Vor der Kirche wurden sie auf einen Wagen
geladen, der dann durch das Untere Tor (Ecke Brühl-, Luisen-
und Kelsweilerstraße) in Richtung Süden losfuhr - in Richtung
Rom. Natürlich war jedem der Beteiligten klar, daß sie keine
Chance hatten, in drei Tagen Rom zu erreichen und wieder nach
hause zu kommen. Deshalb fuhr man so weit, wie es ging,
gewöhnlich bis Ottweiler. Es mußte auf jeden Fall ein Ort
außerhalb des Amtes sein, um die feste Absicht zu bekunden. In
Ottweiler im Gasthaus „Sonne“, das die Fuhrleute am späten
Freitagnachmittag erreichten, hielt man an und übernachtete
und fuhr am nächsten Morgen wieder zurück nach St. Wendel, wo
die Glocken wieder hinaufgezogen und befestigt wurde, um am
Ostersonntagmorgen die Auferstehung unseres Herrn zu
verkünden.
Die Bevölkerung sollte von dem Treiben natürlich möglichst
nichts mitbekommen, weshalb am Gründonnerstag und zwei Tage
später am Samstag ab 8 Uhr abends eine allgemeine
Ausgangssperre verhängt wurde. Natürlich wußte jeder, was da
los war, aber daß die Glocken wirklich nach Rom unterwegs
waren, war ja nicht gelogen, und daß sie nie wirklich dort
ankamen, nun ja, … heut würde man sagen: ein bißchen Schwund
ist immer.
Diese Prozedur wurde danach jedes Jahr an Gründonnerstag
wiederholt und findet sich infolgedessen in allen
Kirchenrechnungen bis zum heutigen Tag. Im Gegensatz z.B. zur
Feier des Wendelskuchentags, an dem die Kirche über die
Jahrhunderte hinweg 800 Brötchen backen und an die Bevölkerung
verteilen ließ. Dieser schöne Brauch ging im Jahr der
Besetzung St. Wendels durch die französischen
Revolutionstruppen ein. Während die Glocken bis heute am
Karfreitag und dem darauffolgenden Samstag nach Rom unterwegs
sind.
Natürlich müssen die Menschen der Stadt an den beiden Tagen
nicht auf den gewohnten nützlichen Ton verzichten - diese
Aufgabe übernehmen die Meßdiener, die mit Kleppern und
Rätschen ihr bestes tun, die Glockenklänge zu ersetzen.
Alsfassen am Karfreitag des Jahres 2020
Roland Geiger
PS: Bitte bis Dienstag nicht bei uns anrufen - ich habe das
Telefon auf lautlos gestellt und jedes andere Gerät im Haus,
das Geräusche verursacht - bis Dienstag, dann hat meine Frau
die Gelegenheit, einen Ohrenarzt aufzusuchen. Ich fand mich
heute Abend zu dieser Maßnahme gezwungen, weil sie Geräusche
hört, die nicht existieren können. Sie sagte um halb acht,
„hör mal, die Kirchturmglocken läuten“. Ich „hörte“ natürlich
nicht, weil’s da nichts zu hören gab.
Denn wie sollten heut abend die Kirchturmglocken läuten,
die sind doch bis übermorgen Morgen auf dem Weg nach Rom.