H.
Arendt: Wir
Juden. Schriften 1932 bis 1966
Wir
Juden. Schriften 1932 bis 1966.
Zusammengestellt
und herausgegeben von Marie Luise Knott und Ursula Ludz
Reihe
„Übungen im politischen Denken 3“
Erschienen
München 2019: Piper
Verlag
Anzahl
Seiten 464 S.
Preis
€ 34,00
ISBN
978-3-492-05561-1
Inhalt meinclio.clio-online.de/uploads/media/book/toc_book-58036.pdf
Rezensiert
für H-Soz-Kult von Annette
Vowinckel,
Leibniz-Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam
Hannah Arendt interessierte sich nicht übermäßig für das
Judentum. Sie las kein
Hebräisch (stattdessen Griechisch und Latein), sie besuchte
nicht regelmäßig
die Synagoge, und über den Staat Israel äußerte sie sich
mitunter sehr
abfällig. Ihr Bezug war ein existenzieller, gar
existenzphilosophischer: An
ihrer jüdischen Herkunft war weder zu rütteln noch unternahm
sie je einen
Versuch, ihr (durch Konversion, durch Leugnung, durch Heirat)
zu „entkommen“.
Wer als Jude angegriffen werde, das war ihre Überzeugung,
müsse sich auch als
Jude verteidigen – und nicht mit Verweis auf die allgemeinen
Menschenrechte.
Dass die Juden „in das Sturmzentrum der Ereignisse des 20.
Jahrhunderts“[1] geworfen wurden,
verlange zudem nach
einer politischen Auseinandersetzung mit ihrer besonderen
Rolle in der jüngeren
europäischen Geschichte.
In Arendts Werk spielen jüdische Geschichte, die Geschichte
von Antisemitismus
und Zionismus dementsprechend eine nicht unerhebliche Rolle.
Der erste für
dieses Feld relevante Text aus ihrer Feder – zugleich der
erste Text in der
vorliegenden Sammlung – war ein 1932 unter dem Titel
„Aufklärung und
Judenfrage“ in der „Zeitschrift für die Geschichte der Juden
in Deutschland“
veröffentlichter Essay, in dem sie die Juden wegen ihres
aufklärerischen und
rationalistischen Engagements als die „Geschichtslosen“ (S.
29) unter den
Europäern darstellte und von ihnen forderte, sich ihre
distanzierte Perspektive
auf die Mehrheitsgesellschaft für Auseinandersetzungen mit der
Vergangenheit
zunutze zu machen.
Eben dieser Idee folgte Arendt in ihrem eigenen Werk – nicht
nur mit Blick auf
die Anderen, sondern auch auf das eigene Volk. In den
1940er-Jahren, nach ihrer
Flucht in die USA, beschäftigte sie sich verstärkt mit
jüdischer
Kulturgeschichte, zum Beispiel in einem Essay über „Die
verborgene Tradition“.
Darin beschrieb sie Kafka als einen „Paria“ – im Unterschied
zu den „Parvenus“,
die ihre jüdische Herkunft für den gesellschaftlichen Aufstieg
verleugneten. In
dem von Marie Luise Knott und Ursula Ludz herausgegebenen Band
„Wir Juden“ sind
diese und einige weitere Texte im ersten Themenkomplex unter
dem Stichwort „Für
ein neues kulturelles Selbstbewusstsein“ versammelt.
Der zweite Themenkomplex trägt den Titel „Für ein neues
politisches
Selbstbewusstsein“; er enthält zwischen 1942 und 1950
publizierte Texte zum
Zionismus, zur Gründung einer jüdischen Armee (die Arendt
forderte) und zur Rolle
der Juden bzw. später Israels im Nahen Osten. Der dritte und
letzte
Themenkomplex ist Texten zur „Erforschung des Holocaust“
gewidmet, die von 1945
bis 1966 erschienen. Als Epilog ist dem Band der 1964
verfasste Essay
„Persönliche Verantwortung unter diktatorischer Herrschaft“ in
überarbeiteter
Übersetzung des englischen Originals beigefügt.
Viele der hier abgedruckten Texte erscheinen heute geradezu
visionär – zum
Beispiel einige derjenigen, die die Entwicklungen im Nahen
Osten zum Gegenstand
haben. In einem Essay für die US-amerikanische Zeitschrift
„Commentary“ schrieb
Arendt im Mai 1948, die Unabhängigkeit Palästinas könne nur
„auf einer
tragfähigen Grundlage jüdisch-arabischer Zusammenarbeit
erreicht werden.
Solange jüdische wie arabische Führer behaupten, dass es
‚keine Brücke’
zwischen Juden und Arabern gebe“, könne „das Land nicht der
politischen
Weisheit seiner eigenen Bewohner überlassen werden“ (S. 258).
In dem Text
„Frieden oder Waffenstillstand im Nahen Osten?“ wies sie 1950
nachdrücklich darauf
hin, dass eine positive Entwicklung der Region nur zu erwarten
sei, wenn sie
ihre wirtschaftlichen Probleme lösen könne.
So visionär Arendts politische Schriften waren, so wegweisend
waren diejenigen
zur Geschichte des Holocaust – nicht zuletzt deshalb, weil die
Autorin sie
explizit mit moralphilosophischen Fragen verband. Eben dies
fiel ihr im Kontext
des Jerusalemer Eichmann-Prozesses von 1961 auf die Füße – und
veranlasste sie
dazu, noch einmal nachzulegen. Der Essay „Die Vernichtung von
sechs Millionen.
Warum hat die Welt geschwiegen?“ (1964) gibt davon ein
eindrückliches Zeugnis.
Als dritter und letzter Teil der bei Piper erscheinenden Reihe
„Übungen im
politischen Denken“, die Arendts essayistische Arbeiten
präsentiert, richtet
sich das vorliegende Buch vor allem an eine gebildete
Öffentlichkeit, die sich
einen Eindruck von der Breite des Arendt’schen Werks und in
diesem Fall von
ihren Schriften zur jüdischen Geschichte und Politik
verschaffen möchte. Die
Texte sind knapp kommentiert, kontextualisiert und mit
bibliografischen
Detailangaben versehen. Die Herausgeberinnen schließen den
Band mit einer
editorischen Erklärung von Ursula Ludz („Zu dieser Ausgabe“,
S. 403–416), in
der gelegentlich auch auf Kritik an Arendts Texten verwiesen
wird, und einem
Postskriptum von Marie Luise Knott (S. 417–422), in dem die
Auswahl der Texte
begründet wird. Während Ludz betont, dass der Band
„Vollständigkeit“
beanspruche, indem er „alle jüdischen Schriften größeren
Umfangs aus Arendts
veröffentlichtem Werk“ berücksichtige (S. 415), räumt Knott
ein, dass auch
„andere editorische Ansätze denkbar gewesen“ wären (S. 417).
Die hier besprochene Auswahl gibt einen guten Einblick in
Arendts
essayistisches Werk. Sie versammelt eine Reihe von Texten, die
so aktuell zu
sein scheinen, dass sie sich zum Teil sogar einzeln auf dem
Buchmarkt
verkaufen.[2] Tatsächlich lief
Arendt im Genre des
Essays stets zur Hochform auf, und man könnte gut
argumentieren, dass auch ihr
Hauptwerk „The Origins of Totalitarianism“ (deutsch: „Elemente
und Ursprünge
totaler Herrschaft“) ein Essay in Buchlänge ist. Dass dessen
Absatz im Monat
nach der Wahl Donald Trumps zum Präsidenten der Vereinigten
Staaten auf das
Sechzehnfache der vorherigen Verkaufszahlen anstieg[3], zeigt zudem
eindrücklich, dass Arendts
Schriften auch Jahrzehnte später noch Antworten geben auf
drängende Fragen der
Zeit – und dass sie auf dem Buchmarkt eine stetige Nachfrage
finden.
Für das breite Lesepublikum ist der Band „Wir Juden“ ein
valides Angebot. Für
die wissenschaftliche Community ist der Anspruch auf
Vollständigkeit indes
nicht unproblematisch, zumal alle in diesem Band versammelten
Texte bereits
anderweitig, zum Teil sogar mehrfach nachgedruckt wurden. „Die
verborgene
Tradition“ erschien zuerst 1948 in einem von Dolf Sternberger
herausgegebenen
Sonderband der Zeitschrift „Die Wandlung“ und 1976, zusammen
mit sieben anderen
Texten, bei Suhrkamp.[4] Die Texte zu Zionismus
und Nahostkonflikt
wurden mehrheitlich bereits in dem von Eike Geisel und Klaus
Bittermann
herausgegebenen Band „Die Krise des Zionismus“ wieder
abgedruckt (1989), in dem
sich auch kürzere Texte aus dem jüdischen Monatsmagazin
„Aufbau“ finden.[5] Zudem überschneidet
sich das Buch
teilweise mit Band 3 der zweisprachigen Kritischen
Gesamtausgabe der Werke von
Hannah Arendt im Wallstein-Verlag – 2019 unter dem Titel
„Sechs Essays. Die
verborgene Tradition“ von Barbara Hahn unter Mitarbeit von
Barbara Breysach und
Christian Pischel ediert.[6]
Auf diese Weise entsteht eine geradezu babylonische
Verwirrung, die indes nicht
nur Nachteile hat. Wer sich im akademischen Kontext mit
Arendts Werken
beschäftigt, sollte sich an die Kritische Gesamtausgabe
halten, von der bereits
zwei Bände vorliegen und die bis 2031 in 17 Bänden und einer
digitalen Version
erscheinen soll.[7] Wer unbelastet von zu
viel
wissenschaftlichen Informationen Arendts Texte lesen möchte,
ist gut beraten,
sich an den von Marie Luise Knott und Ursula Ludz sorgfältig
edierten, vom
Piper-Verlag in ansprechender Aufmachung verlegten Themenband
zu halten.
Anmerkungen:
[1] Hannah Arendt, Elemente
und Ursprünge
totaler Herrschaft, Frankfurt am Main 1955, S. 392.
[2] Zum Beispiel: Hannah
Arendt, Wir
Flüchtlinge. Aus dem Englischen übersetzt von Eike Geisel. Mit
einem Essay von
Thomas Meyer, Stuttgart 2016.
[3] Sean Illing, A 1951 book
about
totalitarianism is flying off the shelves. Here’s why, in:
Vox, 28.06.2017,
updated 30.01.2019, https://www.vox.com/conversations/2017/6/28/15829712/hannah-arendt-donald-trump-brexit-totalitarianism
(18.03.2020).
[4] Hannah Arendt, Sechs
Essays. Schriften der
Wandlung Bd. 3, hrsg. von Dolf Sternberger unter Mitwirkung
von Karl Jaspers,
Werner Krauss und Alfred Weber, Heidelberg 1948; Hannah
Arendt, Die verborgene
Tradition. Acht Essays, Frankfurt am Main 1976.
[5] Hannah Arendt, Die Krise
des Zionismus.
Essays und Kommentare 2, hrsg. v. Eike Geisel und Klaus
Bittermann, Berlin
1989.
[6] Hannah Arendt, Sechs
Essays. Die verborgene
Tradition, Kritische Gesamtausgabe Bd. 3, hrsg. v. Barbara
Hahn unter Mitarbeit
von Barbara Breysach und Christian Pischel, Göttingen 2019.
[7] Vgl. https://www.arendteditionprojekt.de
(18.03.2020). Die Rezensentin ist Mitherausgeberin dieser
Edition.