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2012/11/10 10:27:10
Rolgeiger
[Regionalforum-Saar] Die Familie des Ludwig Eduard Gabriel Weis
Datum 2012/11/13 17:04:18
Michaela Becker
[Regionalforum-Saar] Vortrag am 14.11.2012 bei m Wellesweiler Arbeitskreis für Geschichte, Lan deskunde und Volkskultur e.V.
2012/11/03 10:21:09
Hans-Joachim Hoffmann
[Regionalforum-Saar] Pressetext zur Ausstellung "Gebrochene Säule" im Stadtgeschichtlichen Museum O ttweiler (ohne Bild)
Betreff 2012/11/27 15:14:33
Rolgeiger
[Regionalforum-Saar] stolpersteine gegen das vergessen
2012/11/10 10:27:10
Rolgeiger
[Regionalforum-Saar] Die Familie des Ludwig Eduard Gabriel Weis
Autor 2012/11/15 17:25:42
Rolgeiger
[Regionalforum-Saar] Vortrag am Montag, 19. No vember 2012, fällt aus

[Regionalforum-Saar] Russlandheimkehrer

Date: 2012/11/11 18:54:34
From: Rolgeiger <Rolgeiger(a)...

From:    Christina Morina <c.morina(a)...   12.11.2012
Subject: Rez. ZG: E. Scherstjanoi (Hrsg.): Russlandheimkehrer
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Scherstjanoi, Elke (Hrsg.): Russlandheimkehrer. Die sowjetische
Kriegsgefangenschaft im Gedächtnis der Deutschen (= Schriftenreihe der
Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte - Sondernummer). München:
Oldenbourg Wissenschaftsverlag 2012. ISBN 978-3-486-70938-4; VI, 264 S.,
zahlr. Abb.; EUR 44,80.

Inhaltsverzeichnis:
<http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/media/beitraege/rezbuecher/toc_17977.pdf>

Rezensiert für H-Soz-u-Kult von:
Christina Morina, Historisches Institut, Friedrich-Schiller-Universität
Jena
E-Mail: <c.morina(a)... dachte: So, nun ist's Ende! Aber nein, wir wurden gefilzt, und in
ein Bahnwärterhäuschen geführt. Alle rein, alle gezählt. Und dann kam
'ne Ärztin an. Die hat sich das angeguckt. Wer verwundet war, hat sie
aussortiert. [Man dachte die Aussortierten] die werden jetzt um die Ecke
gebracht! Aber das war ja nicht so. Die wurden behandelt." (S. 185)
Diese Sequenz aus einem Interview mit einem heute 86-jährigen ehemaligen
deutschen Kriegsgefangenen enthält die Kernthemen des von Elke
Scherstjanoi herausgegebenen Sammelbandes über das wandlungsreiche Bild
der "Russlandheimkehrer" in den beiden deutschen Staaten nach 1945. Die
Passage thematisiert den Holocaust, das Wissen oder zumindest Erahnen
der Selektionspraktiken des Massenmordens, die eigene Todesangst, die
existentielle Ungewissheit und lebensmüde Abgebrühtheit des einfachen
deutschen Soldaten. Und das Zitat enthält die "Kehr"-Seiten des Krieges,
den Moment der Gefangennahme und der Verwandlung vom Angreifer zum
Gefangenen, die Schonung durch den gefürchteten Feind, die Fürsorge
einer Ärztin und somit die Hoffnung, doch zu überleben.

Dieser Band will zeigen, wie sich Erinnerungen an die
Kriegsgefangenschaft im Laufe der Jahrzehnte in Ost- und Westdeutschland
wandelten. Es geht um die "Geschichte der Formung der Bilder", die im
"öffentlichen" Leben der beiden deutschen Nachkriegsstaaten bis heute
das Schicksal der drei Millionen deutschen Kriegsgefangenen in der
Sowjetunion - von denen eine Million die Gefangenschaft nicht überlebten
- repräsentieren und bewerten (S. 2f.). Historiker, Filmkritiker,
Sprach- und Literaturwissenschaftler befassen sich in 13 Beiträgen mit
Buch- und Filmbildern, Zeichnungen, Plakaten, Ausstellungen und
Erinnerungsberichten, in denen Kriegsgefangenschaft und Heimkehr nach
1945 im öffentlichen Raum verhandelt wurden.

In der Einleitung entwirft Elke Scherstjanoi ein ambitioniertes
Programm, das leider die Erwartungen etwas zu hoch setzt. Viele Beiträge
bieten eine Fülle neuer Quellen und Analysen, nur eben nicht in jenem
Rahmen, den Scherstjanoi eingangs absteckt. Da ist zunächst die falsche
Behauptung, dass "ein derart thematisch fixierter, deutsch-deutsch
vergleichender Blick [...] bislang noch auf keinen Aspekt der deutschen
Nachkriegs-Vergangenheitsarbeit gerichtet" worden sei.[1] Dem wird etwas
unentschlossen hinzugefügt, dass sich für das gewählte Thema der
"deutsch-deutsche Vergleich geradezu aufdrängt", dass dieser Vergleich
aber "nicht in allen Einzelbeiträgen in den Vordergrund" gestellt werde
(S. 4). Der dritte nur teilweise eingelöste Anspruch ist der Blick in
die Gegenwart mit der darin vermuteten Aufweichung alter
Erinnerungsmuster und ideologischer Rahmendeutungen. Es sind die drei
Beiträge der Herausgeberin selbst - die Einleitung, eine Analyse von
Oral-History-Interviews mit 85 ehemaligen Kriegsgefangenen, davon 68 (!)
Ostdeutschen, sowie ein materialreiches Kapitel über Muster der
Erinnerung an russische Ärztinnen -, die den deutsch-deutschen Vergleich
am deutlichsten thematisieren und an die Gegenwart heranführen. Alle
anderen Beiträge fokussieren die Film- und Literaturgeschichte der
1950er- und 1960er-Jahre; sie widmen sich jeweils ausschließlich ost-
oder westdeutschen Bilderwelten. Nur zwei legen den Schwerpunkt auf
DDR-Perspektiven (Leonore Krenzlin über "Lagerfrust und Antifa" in der
DDR-Literatur und Ralf Schenk über die Kriegsgefangenschaft als Thema in
DEFA-Filmen). Ein Essay von Elena Müller über die Darstellung deutscher
Kriegsgefangener in der russischen Spielfilmgeschichte beschreibt die
"andere" Seite der Rezeptionsgeschichte deutscher Kriegsgefangenschaft.

Dennoch unternimmt der Sammelband eine dringend nötige Neubewertung des
Themas. Deutlich wird, wie stark die Zäsur von 1989/90 die Bilder in
Ost- und Westdeutschland verändert hat - was die Annahme erlaubt, dass
sich heute ein "Gegenbild" zum altbundesdeutschen, antikommunistischen
Bild entwickelt, das nicht unbedingt "spezifisch ostdeutsch" ist,
sondern als Ausdruck eines kritischen, offeneren Umgangs mit der
deutsch-russischen Geschichte verstanden werden kann (S. 35f.). Die
Kriegsgefangenschaft als "große Lebensschule" zu begreifen (S. 148),
laut Krenzlin ein Hauptmotiv der DDR-Literatur, scheint sich unter den
heute noch lebenden Zeitzeugen als dominantes Erinnerungsnarrativ
durchzusetzen - wohlgemerkt in einem veränderten Rahmen. In der Tat sind
die Erinnerungsszenen und "Botschaften", die die von Scherstjanoi in den
Jahren 2005 bis 2008 interviewten Männer erzählen, durchdrungen von dem
Wunsch, ohne die ideologische Klebefolie des Kalten Krieges Zeugnis über
die Erfahrungen abzulegen. Doch erlaubt das stark ostdeutsch geprägte
Befragtensample eigentlich keinen Vergleich der "heutigen" mit den
"altbundesdeutschen" Narrativen bzw. der ost- mit den westdeutschen
Erinnerungsbildern.[2] Zudem verwundert es, wie leichthändig
Scherstjanoi die "öffentlichen Diskurse" der DDR und der Bundesrepublik
miteinander vergleicht, ohne die verschiedenen Diskurskontexte ernsthaft
zu gewichten.

Wirklich neue Einblicke eröffnen Berthold Petzinnas zwei Beiträge über
illustrierte Erinnerungsberichte in der frühen Bundesrepublik und Helmut
Peitschs Aufsatz über den westdeutschen Film "Wunschkost" (1959). Diese
Beiträge brechen deutlich das von Scherstjanoi beschriebene "herrschende
nationalkonservative, antisowjetische Bild" der alten Bundesrepublik (S.
35) und untermauern jüngere Befunde über eine weniger "reaktionäre"
Erinnerungslandschaft der Adenauer-Zeit, wie sie zum Beispiel vom
Verband der Heimkehrer gepflegt wurde. Die biographisch nicht näher
vorgestellten Verbandsakteure, so zeigt Andrea von Hegel, verstanden es
als ihre Mission, die Kriegsgefangenen-Erfahrung in den Dienst der
demokratischen, antitotalitären Sache zu stellen. Einen solchen Glauben
an den Auftragscharakter der persönlichen Kriegserfahrungen teilten
viele der organisierten Veteranen in der DDR, aber leider fehlt auch
hier der vergleichende Blick.

Stärker auf innerdeutsche Resonanzen bedacht ist Peter Jahns Beitrag
über westdeutsche Spielfilme zur Kriegsgefangenschaft in der frühen
Bundesrepublik. Wiederum hätte man sich einen Ausblick in die Gegenwart
vorstellen können. So wurde die Fernsehserie "Soweit die Füße tragen"
(1959) im Jahr 2001 als Spielfilm neu verarbeitet, und Guido Knopps
fünfteilige Dokumentation "Die Gefangenen" (2003) ist als Beispiel
mächtiger, sehr aktueller Bildformung sicher ebenso relevant. Ralf
Schenks gelungenes Gegenstück über die zwei DDR-Filme, die sich direkt
mit der Kriegsgefangenschaft in der Sowjetunion befassten - Jurek
Beckers "Meine Stunde Null" (1970) und Konrad Wolfs "Mama, ich lebe!"
(1976) -, zeigt erwartungsgemäß, dass beide Filme letztlich auch nur der
"Nutzung der Historie zur Legitimierung der Gegenwart" (S. 175) dienten.
Doch belegt Schenks resonanzgeschichtlicher Blick in den Westen darüber
hinaus, welche Wirkung jene realistischen Einsichten in das Wesen des
Vernichtungskrieges entfalteten, die unterhalb politischer Propaganda
durchaus transportiert wurden. Die "Süddeutsche Zeitung" lobte "Mama,
ich lebe!" 1977 für die "noble Gerechtigkeit und taktvolle
Aufrichtigkeit", mit der sich der Film "eines auch in der DDR noch
heiklen, bei uns geradezu tabuisierten Themas" angenommen habe (zitiert
auf S. 176).

Der Sammelband versteht sich nicht zuletzt als "BILDER-Buch" (S. 17) und
sieht sich der "kritischen Bewahrung" verfügbarer Bildquellen zur
Kriegsgefangenschaft verpflichtet. Die Fülle der Abbildungen ist
beeindruckend; bisher unveröffentlichte Gefangenenzeichnungen,
Fotografien und Buchillustrationen dokumentieren ein breites Spektrum
von Erfahrungen und visuellen Verarbeitungen. Am auffälligsten ist, dass
die meisten privaten Fotos (S. 5-36) wohlgenährte, relativ zufriedene
Gefangene in geordneten Umständen zeigen. So gut wie nichts ist zu sehen
von dem massenhaften Leiden und Sterben, das jahrzehntelang im Zentrum
der (öffentlichen westdeutschen und nichtöffentlichen ostdeutschen)
Erinnerung stand. Hier ist die Überlieferungsgeschichte sicher von
Belang: Verstorbene Gefangene hinterlassen seltener Bilder ihrer
Schicksale. Leider enthält nur Petzinnas Beitrag über Buchillustrationen
zur Kriegsgefangenschaft eine echte Bild-Analyse und damit eine
exemplarische Antwort auf die Frage, wie "Gedächtnisbildnerei"
(Scherstjanoi, S. 179) eigentlich funktioniert. Ferner hat keiner der
Beiträger versucht, kollektive Bilder anhand von Meinungsforschung
und/oder Stimmungsberichten des Ministeriums für Staatssicherheit über
die Rezeption von "Russlandheimkehrern" in der DDR zu rekonstruieren.

Der Sammelband vereint die Vor- und Nachteile dieser Publikationsform:
Multiperspektivität und interdisziplinäre Offenheit einerseits;
mangelnde konzeptionelle Stringenz, zu weitreichende Versprechen in der
Einleitung und das Fehlen eines Fazits andererseits. Insgesamt hat
dieser Band ein altes Forschungsthema neu umrissen sowie in sozial-,
gender- und kulturgeschichtlicher Perspektive viele Fragen neu gestellt,
davon einige umfassend beantwortet und andere für zukünftige Forschungen
aufbereitet. Dies ist kein geringes Verdienst.

Anmerkungen:
[1] Dabei verweisen die Beiträge selbst unter anderem auf die
einschlägigen vergleichenden Arbeiten von Frank Biess, vor allem dessen
Monographie: Homecomings. Returning POWs and the Legacies of Defeat in
Postwar Germany, Princeton 2006. Andere wichtige Arbeiten zur
vergleichenden Aufarbeitungsgeschichte fehlen; zum Beispiel Annette
Kaminsky (Hrsg.), Heimkehr 1948. Geschichte und Schicksale deutscher
Kriegsgefangener, München 1998; oder Harald Welzer / Sabine Moller /
Karoline Tschuggnall, "Opa war kein Nazi". Nationalsozialismus und
Holocaust im Familiengedächtnis, Frankfurt am Main 2002.
[2] Leider fehlt hier jeder Bezug unter anderem auf Lutz Niethammer,
Juden und Russen im Gedächtnis der Deutschen, in: Walter H. Pehle
(Hrsg.), Der historische Ort des Nationalsozialismus. Frankfurter
Historik-Vorlesungen, Frankfurt am Main 1990, S. 114-134; oder Bernd
Faulenbach / Annette Leo / Klaus Weberskirch, Zweierlei Geschichte.
Lebensgeschichte und Geschichtsbewußtsein von Arbeitnehmern in West- und
Ostdeutschland, Essen 2000.

Diese Rezension wurde redaktionell betreut von:
Jan-Holger Kirsch <kirsch(a)... zur Zitation dieses Beitrages
<http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/2012-4-127>