Der Fürst und seine unbequemen Lappländer
Von SZ-Mitarbeiter Lukas
Kowol
Fürstentum LichtenbergEin ungeliebter Fürst, aufmüpfige Bewohner,
wirtschaftliche Not und ein Pole, der gar keiner war. Die Lichtenberger Zeit war
für die St. Wendeler kurz und heftig. Unzufriedenheit und Freiheitsstreben
erreichten vor 180 Jahren ihren Höhepunkt. Ein Rückblick.Russland konnte er
nicht erobern. Das Schlachtenglück verließ den kühnen Korsen, der in den
vergangenen Jahren Europa im Atem hielt. Was 1789 in Paris begann – Revolution,
Koalitionskriege, Napoleons Machtübernahme – zerbröckelte Ende 1812, als die
Grande Armée in den Weiten des Zarenreiches erschöpft den Rückzug antrat. Rasch
schlossen sich alte und neue Gegner zusammen, die Befreiungskriege begannen.
Frankreich unterlag. Ordnung musste wieder hergestellt werden. Daher kamen sie
1815 in Wien zusammen, die Mächtigen und Wiedererstarkten, um das von Frankreich
verursachte Wirrwarr zu bereinigen, Europa territorial neu zu ordnen. Auch St.
Wendel war Thema bei diesem Wiener Kongress, dessen Entscheidung eine kurze,
doch intensive Episode der Stadt- und Regionalgeschichte einleitete.
Ein damals 31-jähriger Fürst, Ernst I. von Sachsen-Coburg, beteiligte sich am
Kampf gegen Napoleon, befehligte unter anderem das Korps, das 1814 Mainz
eroberte. In Wien erwartete er Entschädigung für seine Mühen. Und er erhielt
sie: ein Landstrich zwischen Nahe und Blies, mit 25000 Seelen, zusammengesetzt
aus Gebieten verschiedener Dynastien, darunter St. Wendel. Das Problem: Ernst
konnte mit seinem neuen Besitz nichts anfangen. Vier Tagesreisen trennten Coburg
und St. Wendel. Der Fürst aber hatte auf territoriale Abfindung an den Grenzen
seines Stammlandes gehofft. „Es gab kein Zurück für Ernst: Entweder, er
akzeptierte diese Gebietsänderung, oder er ging leer aus“, sagt Josef Dreesen.
Der Historiker und Mitarbeiter des St. Wendeler Stadtarchivs hat über das
Fürstentum Lichtenberg seine Doktorarbeit geschrieben. So sollte die coburgische
Enklave ab 1819 heißen. Vom ersten Tag an versuchte Ernst I., seinen neuen
Besitz zu tauschen. Das bekamen die St. Wendeler mit, reagierten erbost über
diese stiefmütterliche Behandlung. Ernst besetzte dazu die Verwaltung mit
Coburgern, nicht mit Einheimischen. Eine weitere Provokation. Verächtlich
nannten die zugezogenen Beamten die Einheimischen Lappländer am Hunsrück. Die
St. Wendeler Bürger machten ihrem Ärger über die allgemeine Situation Luft. Der
Landeherr reagierte. Am 24. Februar 1819 erhob er seinen neuen Besitz zum
Fürstentum Lichtenberg, nach einer Burg bei Baumholder benannt. St. Wendel wurde
Regierungssitz. Eine ständige Vertretung, der siebenköpfige Landrat, wurde 1821
eingerichtet. Seine Aufgaben: Teilnahme am Gesetzgebungsprozess, Überwachung des
Finanzwesens, Beschwerderecht. Doch für mehr reichte es nicht. Dreesen: „Die
1821 erlassene Coburger Verfassung hatte im Fürstentum Lichtenberg keine
Gültigkeit. Das zeigt, was Ernst von seinem weit entferntem Territorium hielt.“
Ein Provisorium war es für den Fürsten, wie er 1834 in einem Brief formulierte.
Daher wurde der Landrat zum letzten Mal 1823 einberufen. Missmutig beobachteten
die St. Wendeler das Vorgehen ihres Landesherrn.
Gut genug war Lichtenberg nur zum Auffüllen der coburgischen Kassen. Ernst
wollte das Land finanziell ausquetschen. Ein Land, dass durch die Kriegslasten
geschwächt, dessen Bevölkerung verarmt war. Viele versuchten, woanders ein
besseres Leben zu finden, in Russisch-Polen, Brasilien oder Nordamerika. Jene,
die dablieben, schlugen sich durch. Das Schmugglerwesen florierte während dieser
Tage, ganze Banden organisierten sich. Sozialer Sprengstoff.
Doch auch das St. Wendeler Bürgertum war unzufrieden. Wie in diesen Tagen so
viele Bürger auf deutschem Gebiet. Liberaler Verfassungsstaat, nationale Einheit
– die Schlagworte der politisch Erwachenden. In der Domstadt kam noch der
alltägliche Ärger über die Coburger hinzu. Im Roten Haus, an der Basilika,
trafen sie sich, die frühen Demokraten, nach dem Wirt Keller später Kellersche
Gesellschaft genannt. Sie debattierten, diskutierten, sangen Freiheitslieder.
Und übten scharfe Kritik an ihrer Regierung. Es gärte in der Stadt.
Doch vorerst noch herrschte Ruhe. Dies hatte einen Grund: Seit 1824
residierte Herzogin Luise in der Stadt. 1817 heiratete Ernst die Prinzessin von
Sachen-Gotha-Altenburg. Die Ehe hielt nicht lange, Ernst hüpfte gerne in fremde
Betten, doch auch Luise wurde eine Affäre unterstellt. Der erzürnte Herzog
verbannte seine Noch-Ehefrau – erst 1826 folgte die Scheidung – so weit weg wie
möglich: nach St. Wendel. „Doch hatte er auch einen Hintergedanken“, erklärt
Dreesen, „Luise sollte beruhigend auf die aufmüpfigen St. Wendeler wirken.“ Ein
genialer Schachzug, denn die Herzogin sorgte mit ihrem Hofstaat nicht nur für
Glanz und Glamour. Viele Geschäftsleute profitierten von den neuen Ankömmlingen.
Außerdem war Luise für ihre soziale Ader bekannt, setzte sich für arme Kinder
ein. Für die St. Wendeler, bemerkt Dreesen, war die Verehrung ihrer neuen
Landesmutter auch Ausdruck der Kritik an der Regierung. Denn unter der
Oberfläche brodelte es weiter.
Ab 1830 verschlechterte sich die Stimmung zunehmend. Luise erkrankte, starb
ein Jahr später. Ernst trat der preußischen Zollunion bei. Ein schwerer Schlag
für die St. Wendeler Geschäftsleute: Wirtschaftliche Beziehungen in die Pfalz,
nach Bayern und Frankfurt waren auf einmal mit saftigen Steuern belegt. Das
florierende Schmugglerwesen erfuhr weitern Aufschwung, die soziale Not trieb
Tagelöhner oder verarmte Handwerker zu diesen heimlichen Grenzläufen.
Zusammenstöße mit der Zollpolizei waren keine Seltenheit. Und dann wollten die
Behörden auch noch Waren nachsteuern lassen! Viele Geschäftsleute erlaubten den
Beamten nicht, ihre Magazine zu betreten. Die Kellersche Gesellschaft sah ihre
Stunde gekommen, die unzufriedenen Massen für ihren Protest zu gewinnen. Denn in
Belgien, Polen und Frankreich gingen die Unzufriedenen auf die Barrikaden.
Aufmerksam verfolgt vom deutschen Bürgertum. Auch in St. Wendel. Sie wollten es
den anderen Völkern nachmachen.
Der Höhepunkt wurde 1832 erreicht. Immer wieder kam es zu Zusammenstößen
zwischen Schmugglern und Beamten. Eine Bande stand im April vor Gericht – und
wurde freigesprochen. Was für ein Urteil! St. Wendeler Bürger marschierten in
einem Zug durch die Stadt, um die Entscheidung zu feiern. Es kam zu Tumulten.
„Leider ist nicht überliefert, wie genau das Gericht argumentiert hat“, erklärt
Dressen. Möglich, dass es den Argumenten des Advokaten und Verteidigers der
Bande, Nikolaus Hallauer, gefolgt ist. Hallauer, Mitglied der Kellerschen
Gesellschaft, stellte fest, die Schmuggler seien unschuldig, „denn das
Zollgesetz, wie der Zollverband sind völlig illegal, indem der Landrat nicht
eingewilligt hat.“
Die Lage blieb weiter angespannt. Zeitgleich mit dem Hambacher Fest in der
Pfalz – Hallauer war dort als Vertreter der Lichtenberger – luden auch die St.
Wendeler auf den Bosenberg zum Freiheitsfest. Reden wurden gehalten, Leider
gesungen, ein Freiheitsbaum aufgestellt. „Der Baum war auch ein Symbol des
Antagonismus gegen die Regierung“, erläutert Dreesen. Doch die Feiergemeinschaft
ließ diesen nicht etwa auf dem Bosenberg. Sie trug ihn feierlich in die Stadt
und stellte ihn vor dem Roten Haus auf. Die Regierung war zum Handeln gezwungen.
Der Befehl ging raus: Der Baum muss weg. Doch nicht mit den St. Wendelern. Sie
verteidigten ihr Symbol vor den anrückenden Gendarmen. Das ging zu weit. Zwar
fiel kein Schuss, die Regierung forderte aber Hilfe an: preußische Truppen aus
Saarlouis. Am 29. Mai bezogen diese auf dem Tholeyer Berg Stellung. Die St.
Wendeler sahen den Ernst der Lage, verhandelten, entfernten den Baum. Die
Preußen zogen ab.
Kurz darauf kam es zu einer Bürgerversammlung. „Wir leben in einem
Revolutionszustand!“, schmetterte Hallauer den Versammelten entgegen. Ein
Regierungsprotokoll über die zurückliegenden Ereignisses sollte unterschrieben
werden. Darin wurden die St. Wendeler unter anderem als gesetzlose Rebellen
bezeichnet. Empörung, Protest! Die Unterschrift wurde verweigert. Am 12. Juni
eine erneute Kampfansage: Jugendliche stellten wieder einen Freiheitsbaum auf.
Eine Eskalation drohte. Carl Cetto, ein gemäßigter Rothäusler, wollte
Schlimmeres verhindern. Dreesen: „Er schlug vor, ein Komitee zu bilden, das dem
Herzog die Vorstellungen der Bevölkerung vortragen sollte. Ein taktischer
Geniestreich, denn somit entschied er den Streit innerhalb der liberalen
Opposition für sich.“ Denn die Rothäusler waren uneinig, wie sie ihre Ziele
erreichen sollen: radikal oder gemäßigt. Eine Abordnung brach nach Coburg auf.
Ernst empfing sie, hörte zu, versprach Milde. Befriedigt machte sich die
Delegation auf den Rückweg. Angekommen in St. Wendel, am 10. Juli, war die Stadt
von preußischen Truppen besetzt. Was war zwischenzeitlich passiert?
Am 3. Juli hielt sich ein gewisser Johann Adolph Bohemann in St. Wendel auf,
bereits zum zweiten Mal. Gerüchten nach war er ein polnischer Offizier – in
Wirklichkeit jedoch ein Hamburger Maler. Dennoch, für die St. Wendeler war er
Repräsentant des edlen polnischen Volkes, das sich tapfer, doch vergebens 1830
gegen den Zaren erhoben hatte. Die Welle der Polenbegeisterung dieser Tage
machte auch vor St. Wendel nicht Halt. „Die Polen sind Brüder im
Civilisationskampf und ihr Streben nach Freiheit und eigenen Nationalstaat
entspricht dem Anliegen des liberalen Bürgertums nach einem freien und geeinten
Vaterland“ hieß es bei der Begrüßung des Gastes. Auch die Regierung beobachtete
den Pseudo-Polen, denn sie wusste: In der angespannten Lage reicht ein Funke.
Kurzum beschloss sie, Bohemann ausweisen zu lassen. Ganz leise, ohne Aufsehen.
Doch die St. Wendeler machten daraus einen Skandal. Mehrere Hundert Bürger
verabschiedeten den vermeintlichen Polen, begleiteten seine Kutsche bis vor die
Stadt. „Ach, wenn er doch wenigstens von seinem Samen zurückließe“, soll eine
St. Wendelerin seufzend gesagt haben. Die Stimmung war angeheizt, auf dem
Rückweg lärmte die Menge, pöbelte gegen die Regierung. Diese goss weiter Öl ins
Feuer: Das Lyzeum, 1824 von Ernst eröffnet, wurde geschlossen, die Lehrer, als
Rädelsführer der Unruhen identifiziert, verhaftet. Dagegen protestierte ein
Bürgerausschuss. Erneut brachen Tumulte aus. „Die Aristokraten, lasst sie uns
braten!“ schallte es durch die Gassen der Stadt, hier und da flogen Fäuste.
Der Regierung wurde es zu viel. Die Preußen mussten helfen, wieder einmal. Am
10. Juli marschierten über 700 Soldaten ein. Schlagartig war Ruhe. Viele
Mitglieder der Kellerschen Gesellschaft wurde verhaftet. Bis Oktober sollte die
Stadt besetzt bleiben.
In der Zwischenzeit hatte Ernst endgültig die Nase voll. Endlich konnte er
mit Preußen einig werden. Seit 1830 verhandelte er wieder mit Berlin. Sein
ungeliebtes Lichtenberg verhökerte er schließlich 1834. Diesmal gab es keine
offene Empörung, keine Protestnoten der St. Wendeler. Ein Jahr später, am 1.
April, wurde der Landkreis St. Wendel gegründet. Doch das ist eine andere
Geschichte.