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[Regionalforum-Saar] "Hitler ist tot, aber ich lebe noch"

Date: 2011/12/12 22:33:56
From: Rolgeiger <Rolgeiger(a)...

Philipp, Marc J.: "Hitler ist tot, aber ich lebe noch".
Zeitzeugenerinnerungen an den Nationalsozialismus. Berlin: be.bra Verlag
2010. ISBN 978-3-937233-60-4; 577 S.; EUR 49,95.

Rezensiert für H-Soz-u-Kult von:
Linde Apel, Forschungsstelle für Zeitgeschichte in Hamburg
E-Mail: <apel(a)... Mainzer Dissertation von Marc J. Philipp basiert auf über 1.624
Interviews mit 1.435 Personen, die innerhalb der Redaktion
Zeitgeschichte des ZDF für Produktionen des Senders entstanden sind und
die nun einem Verein namens "Die Augen der Geschichte" unter der Leitung
von Guido Knopp zur Verfügung stehen. Es handelt sich um
themenzentrierte, leitfadengestützte Interviews, die explizit nicht
narrativ angelegt waren, damit die Fernsehredakteure nicht, wie Philipp
erläutert, zu viele Informationen erhalten, "die für den Interviewer
nicht von Interesse sind" (S. 86). Ein methodisch heikles Verfahren -
die Interviewer scheinen von vornherein gewusst zu haben, was für sie
von Belang ist. Dies steht im Widerspruch zur Methode der Oral History,
geht es dabei doch genau darum, eine vom Gesprächspartner nach dessen
eigenen Relevanzkriterien gestaltete Erzählung zu erhalten. Aber mit
Oral History hat das Buch wohl weniger zu tun, auch wenn sich der Autor
in seinem Forschungsüberblick mit einigen geschichtswissenschaftlichen
Arbeiten auseinandersetzt, die unter anderem auch Interviews als Quellen
verwendet haben oder der Methode der Oral History verpflichtet waren.
Bei etlichen hat er die zugrundegelegten Interviews durchgezählt (vgl.
S. 18f., Fußnote 47), um sie anschließend für ihre geringe Anzahl und
fehlende Repräsentativität zu kritisieren. Diese Argumentation liegt
nahe, wenn, wie Philipp es tut, überwiegend quantitativ argumentiert
wird - wofür gerade mündliche Quellen und der methodische Ansatz der
Oral History nicht sonderlich gut geeignet sind.

Mit der Auswertung der von ZDF-Mitarbeitern geführten Interviews möchte
Philipp "die Lücke zwischen der Demoskopie einerseits und einer
exemplarischen Zusammenstellung individueller Erinnerungsberichte ohne
jegliche Verallgemeinerbarkeit andererseits schließen helfen" (S. 21).
Bisher sei "nicht in hinreichendem Maße berücksichtigt [worden], wie der
Nationalsozialismus von der Zeitzeugengeneration, die ihn tatsächlich
erlebt hat, erinnert wird" (S. 13). Hier deutet sich bereits an, dass
die zentralen Begriffe "Zeitzeugen", "Generation" und "tatsächliches
Erleben" erstaunlich unreflektiert bleiben.

Das überbordende Material wurde inhaltsanalytisch erschlossen, wobei es
sich um eine Mischung aus quantitativen und qualitativen Verfahren
handelt. Dazu musste das Untersuchungsmaterial in gewisser Weise
simplifiziert werden, um es freizuhalten "von störenden Nebeneffekten,
wie semantischen Differenzierungen und Singularitäten oder sozialen
Beziehungen, sowie allem, was sich zwischen den Zeilen abspielt" (S.
106). In qualitativer Hinsicht wurde die Methode der Objektiven
Hermeneutik zugrunde gelegt. Da diese angesichts des Umfangs der
Interviews aber einen "nicht mehr zu bewältigend[en] Aufwand" bedeutet
hätte (S. 107), wurden lediglich jene Interviews qualitativ ausgewertet,
die den quantitativ erhobenen Kategorien entsprachen. Es wurde also eine
Auswahl vorgenommen, deren Kriterien mir jedoch nicht ganz klar geworden
sind, ebenso wie die Grundannahme der Empirie. "Empirisch bedeutet, dass
das auszuwertende Material, im vorliegenden Fall Zeitzeugeninterviews,
die tatsächlichen Gegebenheiten exakt abbildet." (S. 105) Um welche
"tatsächlichen Gegebenheiten" handelt es sich hier? Dies bleibt leider
offen. Ausgewertet wurden die Interviews nach den Oberbegriffen
"Personen", "Ereignisse" und "Erfahrungen". Hin und wieder wird aus den
Interviews zitiert. Man erfährt häufig nicht, wer spricht, ob es sich um
Mann oder Frau handelt, zu welcher Altersgruppe die Befragten gehören,
ob sie aus eigener Anschauung sprechen oder Angelesenes, Gehörtes oder
Sonstiges aus dritter Hand berichten.

Problematisch und nicht überzeugend an Philipps Ansatz ist besonders,
dass er den Anspruch auf Repräsentativität seiner Quellen über alles
stellt. Diesen Anspruch müsste er eigentlich schnell einschränken, da
heute kein als repräsentativ geltender Bevölkerungsdurchschnitt, der den
Nationalsozialismus erlebt hat, mehr am Leben ist. Zweitens drängt sich
dabei die Frage auf, welche Konsequenzen dieses Argument für die
Geschichtswissenschaft haben könnte, würde man es ernsthaft auf andere
Themen und Bereiche ausdehnen. Denn für die Geschichtsschreibung
insgesamt ist ja charakteristisch, dass Quellen letztlich nie in
repräsentativer Auswahl zur Verfügung stehen.[1] Philipp gesteht ein,
dass auch seine Arbeit die Kriterien sozialwissenschaftlicher
Repräsentativität nicht erfüllt, weil "die Zeitzeugen nicht nach
statistischen Normen, sondern nach ihrer Fernsehtauglichkeit ausgesucht"
worden seien (S. 90). Er begründet die Verwendung dieser Quellen damit,
dass es ihm nicht um exakte quantitative Befunde gegangen sei, sondern
darum, "ein qualitatives Erinnerungsbild zu zeichnen, das verschiedene
Einzelschilderungen zu einem Mosaik zusammenfügt" (S. 90). Und
schließlich argumentiert er - etwas überraschend - damit, dass die
Aussagen trotz der Nichtrepräsentativität eine hohe Aussagekraft
besäßen, weil das Sample sozial heterogen sei und die geäußerten
Einstellungen "in ihrer grundlegenden Tendenz mit demoskopischen
Erhebungen des Allensbacher Instituts für Demoskopie übereinstimmen"
(ebd.).

Alle, die selbst einmal Interviews geführt und sie für eine
wissenschaftliche Arbeit ausgewertet haben, wissen, dass es sich dabei
um ein zeitlich und inhaltlich sehr anspruchsvolles Verfahren handelt.
Dies ist häufig der Grund, weswegen Historikerinnen und Historiker auf
Interviews lieber verzichten oder sich auf wenige, exemplarische
Gespräche beschränken. Die Quellenbasis lag in diesem Fall aber bereits
vor, und wie im Buch häufig erwähnt wird, bestand sie aus knapp 40.000
Manuskriptseiten. Um wie viele Interviewstunden es sich handelt, hat
sich mir nicht erschlossen. Es gibt auch keine Angaben darüber, wie lang
die einzelnen Interviews waren. Im Anhang findet sich lediglich eine
Liste mit den Nummern der Interviews sowie dem Reihen- und Sendetitel
des Fernsehbeitrags und der Angabe des Jahres, in dem das Interview
geführt, oder vielleicht genauer: der Film gedreht wurde.
Charakterisiert werden die Quellen also vor allem durch ihren
unmittelbaren Entstehungs- und Verwendungskontext, die
Fernsehtauglichkeit. Leider hat der Autor davon abgesehen, dieses
grundlegende Kriterium zu problematisieren oder in seine Analyse
einzubeziehen. Da es seit längerem en vogue ist, Personen als
"Zeitzeugen" zu bezeichnen und ihre Aussagen audiovisuell aufzuzeichnen,
wäre es anregend und methodisch notwendig gewesen, dieses besondere
Quellenformat kritisch zu würdigen[2]: Warum gibt es solche Quellen
überhaupt, und wie wirken sich die Produktions- und
Distributionsbedingungen auf die Erzählinhalte aus?

Marc J. Philipps Dissertation ist ein Versuch, mit für das Fernsehen
gedrehten Massenquellen wissenschaftlich umzugehen. Der Autor folgt der
populären Annahme, dass mündliche Aussagen von zu "Zeitzeugen" geadelten
Personen per se wertvoll und aussagekräftig seien.[3] Die Lücken dieses
Ansatzes werden sehr deutlich. Von Oral History sollte man besser nur
dann sprechen, wenn zumindest die Interviews so erhoben wurden, dass es
dieser anspruchsvollen Methode gerecht wird. Audiovisuelle Quellen
bedürfen einer umfangreichen Deutung, bei der auch ihre Materialität und
ihr Entstehungskontext einzubeziehen sind. Dies leistet das vorliegende
Buch nicht.


Anmerkungen:
[1] Siehe z.B. den klassischen Aufsatz von Arnold Esch,
Überlieferungs-Chance und Überlieferungs-Zufall als methodisches Problem
des Historikers, in: Historische Zeitschrift 240 (1985), S. 529-570.
[2] Vgl. etwa die Dissertation von Judith Keilbach, Geschichtsbilder und
Zeitzeugen. Zur Darstellung des Nationalsozialismus im bundesdeutschen
Fernsehen, Münster 2008 (rezensiert von Frank Bösch, in H-Soz-u-Kult
17.4.2009:
<http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/2009-2-041>
[16.11.2011]).
[3] Vgl. dazu exemplarisch die "Videobotschaft" von Christian Wulff:
"Das ist ein Projekt von nationalem Rang." Siehe
<http://www.gedaechtnis-der-nation.de> (16.11.2011).

Diese Rezension wurde redaktionell betreut von:
Jan-Holger Kirsch <kirsch(a)... zur Zitation dieses Beitrages
<http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/2011-4-184>