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2011/12/12 22:33:56
Rolgeiger
[Regionalforum-Saar] "Hitler ist tot, aber ich lebe noch"
Datum 2011/12/15 08:23:32
Rolgeiger
[Regionalforum-Saar] neues Amt für Kultur und St adtmarketing in St. Wendel
2011/12/04 00:11:32
Stephan Friedrich
Re: [Regionalforum-Saar] Bücherbinden auf günstige Art
Betreff 2011/12/06 14:26:57
Rolgeiger
[Regionalforum-Saar] Die Abtei steht auf den Ruine n eines römischen Badetraktes
2011/12/12 22:33:56
Rolgeiger
[Regionalforum-Saar] "Hitler ist tot, aber ich lebe noch"
Autor 2011/12/15 08:23:32
Rolgeiger
[Regionalforum-Saar] neues Amt für Kultur und St adtmarketing in St. Wendel

[Regionalforum-Saar] Der Geschmack des Archivs

Date: 2011/12/15 00:40:07
From: Rolgeiger <Rolgeiger(a)...

Farge, Arlette: Der Geschmack des Archivs. Mit einem Nachwort von Alf
Lüdtke. Aus dem Französischen übersetzt von Jörn Etzold, in
Zusammenarbeit mit Alf Lüdtke. Göttingen: Wallstein Verlag 2011. ISBN
978-3-8353-0598-4; 118 S.; EUR 14,90.

Rezensiert für H-Soz-u-Kult von:
Martin Kröger, Politisches Archiv des Auswärtigen Amts, Berlin
E-Mail: <martin.kroeger(a)... jeden Zweifel haben Archive ihre sensorische Komponente. Soweit die
menschlichen Sinne betroffen sind, mag es im Archiv auf eine spezifische
Art riechen. Der Geruch wird ganz ähnlich dem von Büchern in
Bibliotheken sein; die gleichbleibende Temperatur und die geringe
Luftfeuchtigkeit verhindern das Modrige eines zu feuchten Kellers -
zumindest sollte das so sein. Dafür sorgt die Klimaanlage, deren
Dauergeräusche das Gehör in einer Weise ansprechen, die es geboten
erscheinen lässt, mit MP3-Player und Kopfhörern zu arbeiten. Dagegen ist
es im Lesesaal flüsterleis - in der besten aller Welten ist es
jedenfalls so. Ertasten lässt sich das Spezifische alter Materialien:
das Papier natürlich; der Rost der Klammern - sollte nicht sein, kommt
aber vor; raue Kordeln - werden immer weniger. Am reizlosesten bleiben
die Augen: Ein modernes Archiv ist noch weniger reizvoll als ein
Schuhkartonlager. Farblos reihen sich graue Regale voller grauer Kartons
aneinander, gut möglich, dass der Raum grau gefliest ist. Im Archiv
überwiegt eine Nichtfarbe, schmucklos wie der passend graue
Schutzumschlag von Arlette Farges Buch, dem sie den mysteriösen und auch
nicht wirklich erklärten Titel "Der Geschmack des Archivs" gegeben hat
("Le goût de l'archive"). Der Geschmack dürfte der Sinn sein, den man am
wenigsten mit Archivarbeit in Verbindung bringen kann.

Es ist also trotz des Titels kein Buch über Archive als solche. Diese
sind - Stereotype bleiben unüberwindlich - staubig, irgendwie nicht von
dieser Welt. Auch die Archivare bleiben - obwohl man die Sympathie der
Autorin durchaus spürt - seltsam blass, wenn nicht ein wenig weltfremd
oder autoritär, wie der "Saalvorsteher" (S. 41). Tatsächlich ist es ein
Buch über die Nutzung des Archivs, genauer: Es beschreibt den
Blickwinkel der Historiker auf Archive. Noch genauer: Es vermittelt uns
die Perspektive einer ganz bestimmten Historikerin - Arlette Farge - auf
ein ganz bestimmtes Archiv, in dem sie ganz bestimmte Akten eingesehen
hat. Und es ist ein Buch, dessen französische Originalausgabe 1989
erschienen ist. Der Erfahrungshorizont ist also ein französischer der
1980er-Jahre. Eine aktuelle Archivwirklichkeit kann hier nicht
abgebildet sein - eine deutsche nicht, wahrscheinlich nicht einmal mehr
eine französische.

Die Autorin, die sich mit ihren sozialhistorischen Forschungen über die
Pariser Unterschichten einen Namen gemacht hat, arbeitete damals im
französischen Nationalarchiv mit Gerichtsakten des 18. Jahrhunderts. Ihr
Blick auf "das Archiv" und "die Akten" ist ein romantisch verklärter,
ein literarischer. Ihr ist das Archiv ein "Schatzhaus", aus dem heraus
sie glaubt, mittels der alten Gerichtsakten die Stadt von einst wieder
mit Leben erfüllen zu können. Farge lehnt es ab, lediglich "mit den
greifbaren und sicheren Auskünften des Archivs zu arbeiten" (S. 26). Ihr
Zugriff ist anderer Natur: "Diese leidenschaftliche Art, eine Erzählung
zu konstruieren, eine Verbindung zum Dokument und zu den Personen
aufzubauen, die es zutage fördert, kann als ein Relikt heute verstummter
Forderungen erscheinen, die nicht mehr zu einer intellektuellen Epoche
passen, die zugleich traditioneller - also konservatorischer - ist wie
auch weniger interessiert an der Beschreibung des Alltäglichen" (S.
42f.). Was vor mehr als zwanzig Jahren ungewöhnlich gewesen sein mag -
leise Zweifel sind hier angebracht -, ist nach zahllosen "Turns" der
Geschichtswissenschaft selbstverständlicher Teil der Fachpluralität.

So ist denn auch das Motiv für das vorliegende Buch eher im
Literarischen zu suchen. Farge nähert sich ihrem Thema mit kleinen
erzählerischen Skizzen, in denen sie die - manchmal skurrilen -
Begebenheiten ihrer Pariser Archivaufenthalte schildert. Beispielhaft
das Folgende: "In den Sälen der Archive kräuselt das Flüstern die
Oberfläche der Stille, verlieren sich die Augen, entscheidet sich die
Geschichte. Das Wissen und die Unsicherheit vermischen sich, werden in
einem anspruchsvollen Ritual angeordnet, in dem die Farbe der Formulare,
die Strenge der Archivare und der Geruch der Manuskripte als Wegweiser
in einer Welt dienen, die immer wieder eine Initiation fordert. Jenseits
der Arbeitswelt findet sich das Archiv. Stets erinnert es an König Ubu."
(S. 44) Das ist gebildetes Schwadronieren, aber nur selten humorvoll.
Mit König Ubu ruft man "Merdre!"

In anderen Teilen des Bändchens konzentriert sich Farge auf die
Beschreibung der Arbeit des Historikers, auf das Suchen und Sammeln,
Exzerpieren, das Zusammensetzen der gefundenen Versatzstücke ("Puzzle")
zu einer Geschichte, auf deren Verdichtung beim Schreiben des Textes.
Hier ist das Buch nicht sonderlich anregend, es handelt Allgemeinplätze
in einer gestelzten Sprache ab. Dort, wo die Autorin ihren forschenden
Zugriff auf das Archivmaterial verteidigt, wird es dann ermüdend. Diese
Passagen sind vollständig aus der Zeit gefallen. Weder die Alltags-,
noch die Unterschichten-, noch die Geschlechtergeschichte bedürfen heute
solcher Rechtfertigungen. Nach der Lektüre fragt man sich, was eine
Übersetzung nach so langer Zeit noch bringen kann. Die Antwort lautet im
konkreten Fall: nicht viel. Immerhin zeigt sich unbeabsichtigt, aber
nicht uninteressant, welche inzwischen trivial wirkenden Methoden und
Erkenntnisziele in der französischen Geschichtswissenschaft der
1980er-Jahre offenbar noch strittig waren.

Diese Rezension wurde redaktionell betreut von:
Jan-Holger Kirsch <kirsch(a)... zur Zitation dieses Beitrages
<http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/2011-4-194>