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2011/09/25 21:30:39
Rolgeiger
[Regionalforum-Saar] Alkibiades. Staatsmann und Feldherr
Datum 2011/09/27 09:41:38
Rolgeiger
[Regionalforum-Saar] Ringwall Otzenhausen
2011/09/29 08:43:45
Stefan Reuter
Re: [Regionalforum-Saar] das neue Heft der saargeschichte|n ist erschienen
Betreff 2011/09/16 18:10:23
Rolgeiger
[Regionalforum-Saar] der Wandaskaut
2011/09/25 21:30:39
Rolgeiger
[Regionalforum-Saar] Alkibiades. Staatsmann und Feldherr
Autor 2011/09/27 09:41:38
Rolgeiger
[Regionalforum-Saar] Ringwall Otzenhausen

[Regionalforum-Saar] Das Reichskammergericht

Date: 2011/09/26 23:10:20
From: Rolgeiger <Rolgeiger(a)...

Battenberg, Friedrich; Schildt, Bernd (Hrsg.): Das Reichskammergericht
im Spiegel seiner Prozessakten. Bilanz und Perspektiven der Forschung (=
Quellen und Forschungen zur höchsten Reichsgerichtsbarkeit 57). Köln:
Böhlau Verlag Köln 2010. ISBN 978-3-412-20623-9; 427 S.; EUR 59,90.

Rezensiert für H-Soz-u-Kult von:
Matthias Bähr, Historisches Seminar, Westfälische Wilhelms-Universität
Münster
E-Mail: <matthias.baehr(a)... Verzeichnung der Prozessakten, die beim Reichskammergericht
entstanden sind, ist eine der ehrgeizigsten Aufgaben, die die deutschen
Archive in den letzten vierzig Jahren bewältigt haben. Die Bilanz ist
beeindruckend: Bis heute sind knapp 96 Prozent der etwa 78.000
überlieferten Akten nach einheitlichen Grundsätzen inventarisiert
worden. Damit ist ein Quellenbestand verfügbar, der noch eine Generation
zuvor weitgehend unbeachtet in den Magazinen lag.

Der Band "Das Reichskammergericht im Spiegel seiner Prozessakten", der
aus einer Tagung im Jahr 2008 hervorgegangen ist, hat sich selbst die
Aufgabe gestellt, Bilanz zu ziehen und nach vorn zu blicken. Die
Herausgeber wollen die umfangreichen Befunde der Forschung an den
Prozessakten bündeln, aber auch "Defizite" und Perspektiven aufzeigen
(S. XVII). Das erste Wort hat dabei Bernhard Diestelkamp, der das
Inventarisierungsprojekt maßgeblich angestoßen hat. In seiner
Formulierung von der "realistischen Utopie" (S. 5) - gemeint ist die
vollständige Verzeichnung der Bestände - schwingt das ungläubige Staunen
mit, dem man sich kaum entziehen kann, wenn man auf die beeindruckende
'Karriere' der Kameralakten zurückblickt. Raimund J. Weber geht
ausführlich auf die praktischen Probleme ein, die sich bei der
Inventarisierung der Akten noch immer ergeben. Da die Prozessakten in
der Regel "Konglomerate verschiedenster Archivaliengattungen" seien,
erfordere die Verzeichnung große Umsicht (S. 27f.). Weber spricht von
"russischen Puppen" (S. 28), was für jeden Historiker, der die Akten
gegen den Strich liest und dabei immer wieder auf neues Material stößt,
unmittelbar einsichtig sein dürfte. Bernd Schildt gibt einen Einblick in
sein inzwischen viel genutztes Datenbankprojekt, das die Findmittel nach
bestimmten Kriterien zusammenführt und über eine Eingabemaske zugänglich
macht.

Nach diesen grundsätzlichen Beiträgen behandelt der Band vier
"Generalthemen" (S. XIX), die jeweils von einem Kommentar als "Klammer"
(ebd.) zusammengehalten werden: "Personengruppen vor dem
Reichskammergericht" (S. 63-122), "Streitgegenstände vor dem
Reichskammergericht" (S. 123-202), "Das Reichskammergericht und andere
Höchstgerichte im Reich" (S. 203-292) und "Die Erfassung des Raumes
durch das Reichskammergericht" (S. 295-399). Die Sektionen sind
hochkarätig besetzt. Man vermisst kaum jemanden, den man mit der Arbeit
an den Prozessakten in Verbindung bringt.

In der ersten Sektion ("Personengruppen") gibt Werner Troßbach einen
souveränen Überblick über die Arbeiten, die in den letzten dreißig
Jahren zu "Bauernprozessen" vor dem Reichskammergericht entstanden sind.
Als einer der besten Kenner der Materie wendet er sich gegen neuere
Ansätze, die den Zusammenhang von "Verrechtlichung" (W. Schulze) und
Bauernkrieg in Zweifel ziehen.[1] Anette Baumann beschäftigt sich mit
der Justiznutzung durch Frauen. Es gelingt ihr, den Leser für die
entscheidenden Probleme, etwa die Geschlechtsvormundschaft, zu
sensibilisieren. Allerdings bleibt das Fazit, mit dem Baumann den ersten
Teil ihrer Untersuchung abschließt, unbefriedigend. Für die
Justiznutzung durch Frauen hätten, so Baumann, "neben der Rezeption des
Römischen Rechts die rechtlichen, sozialen und wirtschaftlichen
Gegebenheiten des jeweiligen Territoriums eine bedeutende Rolle"
gespielt (S. 101). Wenn man sich auf derartig allgemeine Ergebnisse
zurückziehen muss, dann sind möglicherweise die Erkenntnismöglichkeiten
quantitativer Untersuchungen ausgereizt. Folgerichtig sieht Baumann
selbst die Notwendigkeit, auch "Einzelfallstudien" einzubeziehen (S.
105). Die Behauptung, Befunde aus der Arbeit am Einzelfall könne man
"kaum verallgemeinern" (S. 102), fällt dabei jedoch hinter den
Diskussionsstand zurück, der in der Debatte um den 'normalen
Ausnahmefall' und die Mikrogeschichte erreicht worden ist. Der
eigentliche Schwachpunkt des ersten Generalthemas ist allerdings, dass
nur die Hälfte der Sektion überhaupt abgedruckt worden ist. Die Beiträge
von Peter Oestmann (Hexen) und Christian Wieland (Reichsadel) muss man
anderswo nachlesen. Jost Hausmann kommentiert damit über weite Strecken
Dinge, die man in dem Band überhaupt nicht findet.

Unter dem Generalthema "Streitgegenstände" gelingt es den Autoren, klare
Schneisen in das umfangreiche Material zu schlagen. Anja Amend-Traut
plädiert für eine stärkere Berücksichtigung von Zivilverfahren, die
einen Großteil der überlieferten Prozessakten ausmachen, die aber
vergleichsweise selten ausdrücklich erforscht werden. Ralf-Peter Fuchs
geht es in seinem Beitrag um das Wechselverhältnis von Wahrheitsdiskurs
und Juristenehre, das er im Umfeld des bekannten Hexenprozesses gegen
Salome Gebweiler nachzeichnet. Er kann dabei zeigen, dass sich
Injurienverfahren gerade auch als "Wettbewerb" (S. 166) um die
überzeugendste 'Wahrheit' lesen lassen, um die im Medium der Ehre
gekämpft wurde. Frank Kleinehagenbrock argumentiert in seinem Beitrag,
dass sich Auseinandersetzungen um Herrschaftsrechte und
Konfessionskonflikte vor dem Reichskammergericht auch nach 1648 vielfach
überlagert hätten. Winfried Schulze geht in seinem Kommentar so weit,
hier von einer allenfalls "katalysatorischen Funktion" zu sprechen, die
die Konfession in Herrschaftskonflikten erfüllt habe (S. 198f.). Mit
teilweise sehr eingängigen Zuspitzungen zeigt Schulze Perspektiven auf,
die in der konkreten Arbeit an den Prozessakten noch ausgelotet werden
müssen.

Der dritten Sektion ("Das Reichskammergericht und andere Höchstgerichte
im Reich"), in der das Reichskammergericht und seine Prozessakten mit
Blick auf die 'Gerichtslandschaft' Altes Reich kontextualisiert werden,
kommt eine wichtige Scharnierfunktion zu. Das Reichskammergericht ist
nicht zuletzt deshalb vergleichsweise gut erforscht, weil die Quellen
gewissermaßen 'vor der Haustür' in den einzelnen Staatsarchiven liegen
und gut erschlossen sind. Bei anderen Höchstgerichten gibt es dagegen
nach wie vor Nachholbedarf. Eva Ortlieb berichtet über den aktuellen
Stand der Verzeichnungsarbeit an den Beständen des Reichshofrats, die
sich an der Inventarisierung der Kameralakten orientiert. Bereits die
Tatsache, dass die so genannten "Frankfurter Grundsätze", die für die
Arbeit an den RKG-Beständen maßgeblich waren, sich nicht immer eins zu
eins auf den Reichshofrat übertragen lassen, deute - so argumentiert
Ortlieb überzeugend - auf die besondere Rolle des Reichshofrats hin.
Siegrid Westphal zeigt am Beispiel der Ernestiner, dass die
Reichsgerichte in dynastischen Konflikten ein wichtiges Instrument der
Konfliktregulierung sein konnten, das nach Einführung der Primogenitur
mit ihrem spezifischen "innerdynastischen Gefälle" (S. 246) gerade von
benachteiligten Familienmitgliedern stark genutzt wurde. Paul L. Nève
weist nach, dass die Sollicitatur, also die Bitte um Beschleunigung und
Erledigung eines Prozesses, nicht auf das Reichskammergericht beschränkt
war, sondern sich etwa auch am Parlement de Paris nachweisen lässt. Nils
Jörn gibt einen Einblick in die Verzeichnungsarbeit am Aktenbestand des
Wismarer Tribunals, dem Oberappellationsgericht für die schwedischen
Reichslehen, das von Anfang an als Alternative zu den Reichsgerichten
konzipiert war. Leopold Auer weist in seinem Kommentar auf die
Möglichkeit hin, Aktenverluste der einzelnen Instanzen mit der
Gegenüberlieferung der jeweiligen Unter- bzw. Obergerichte zu
kompensieren.

Die vierte Sektion steht unter dem Generalthema "Die Erfassung des
Raumes durch das Reichskammergericht". Der Bezug zum Titel des
Sammelbandes und zum "Raum" ist in den Beiträgen Bernd Schildts und
Jürgen Weitzels offensichtlich. Schildt stellt die fast schon klassische
Frage nach der Nähe und Ferne bestimmter Regionen zum
Reichskammergericht. In seiner quantitativen Untersuchung kann er sich
auf die über 36.000 Kameralprozesse stützen, die bereits in das
Datenbankprojekt eingespeist worden sind. Weitzel resümiert die
inzwischen sehr reichhaltige Forschung zu Exemtionen und
Appellationsprivilegien, die zu einem großen Teil auf ihn selbst
zurückgeht. Der Aufsatz von Ingrid Männl fällt dann allerdings aus dem
Rahmen. Männl geht es in erster Linie um die Frage, aus welchen
'Juristenlandschaften' sich die gelehrten Juristen im Fürstendienst
zwischen 1250 und 1440 rekrutierten. Erst auf den letzten Seiten spielen
"personale Kontinuitäten" (S. 348) zwischen dem königlichen
Kammergericht und dem Reichskammergericht eine Rolle. Männl leistet
wichtige und quellenkritisch fundierte Grundlagenarbeit, gerade mit
Blick auf weitergehende Fragen, die Sigrid Jahns in ihrem Kommentar
anspricht: Wie wirken sich die "Juristenlandschaften" auf die
Richterrekrutierung nach 1495 aus? Welche Rolle spielt das
Präsentationssystem, das sich nach 1500 etabliert? Es kostet allerdings
einige Mühe, den Anspruch, das Reichskammergericht "im Spiegel seiner
Prozessakten" darzustellen, mit Männls Beitrag zu verbinden. Maximilian
Lanzinner zeigt am Beispiel des Reichstags von 1566, dass gelehrte
Juristen gewissermaßen das "Rückgrat der Reichstage" waren, die die
Gewähr für eine "Kontinuität der Politik" und eine "Kontinuität der
Inszenierung" boten (S. 384). Vieles von dem, was Lanzinner aus den
Quellen herausarbeitet, ist bestechend klar. So kann er zum Beispiel
nachweisen, dass bereits die bloße Beschäftigung mit der Justiz von den
Akteuren als Dienst am Gemeinwohl gedeutet wurde - ganz unabhängig
davon, ob tatsächlich auch konkrete Beschlüsse gefasst wurden. Mit dem
Generalthema hat Lanzinners Beitrag allerdings nichts zu tun. Sigrid
Jahns spricht diese Tatsache in ihrem Kommentar auch ausdrücklich an.
Insgesamt wäre es also wünschenswert gewesen, wenn sich einige der
Beiträge stärker an Fragen abgearbeitet hätten, die sich eindeutig mit
der Chiffre "Raum" verbinden lassen. Auch der Bezug zu Prozessakten als
Quelle ist nicht immer klar. Die von Sigrid Jahns aufgeworfene Frage,
wie sich die Erfassung des Raumes durch das Reichskammergericht auf den
Rechtspluralismus im Reich ausgewirkt hat, wäre hier anschlussfähig
gewesen und hätte der aktuellen Forschungsdiskussion eher
entsprochen.[2] Man hätte auch danach fragen können, ob und wie sich
Kameralprozesse auf die Raumwahrnehmung des Gemeinen Mannes ausgewirkt
haben.[3]

Trotz dieser Kritikpunkte: Es ist eine erstaunliche Leistung, dass es
den Herausgebern und den Autorinnen und Autoren gelungen ist, einen Band
zu erarbeiten, der - wenn auch auf dem rechtshistorischen 'Kerngebiet' -
die vielfältige Arbeit an den Prozessakten überzeugend dokumentiert.
Eben weil die Akten "russische Puppen" sind, die für immer neue Fragen
immer neue Quellen liefern, ist jede Bilanz eine besondere
Herausforderung. Hier ist die Bilanz gelungen.

Anmerkungen:
[1] So zum Beispiel Malte Hohn, Die rechtlichen Folgen des Bauernkrieges
von 1525. Sanktionen, Ersatzleistungen und Normsetzung nach dem
Aufstand, Berlin 2004, bes. S. 316, 347f.
[2] Grundlegend ist das Buch von Peter Oestmann, Rechtsvielfalt vor
Gericht. Rechtsanwendung und Partikularrecht im Alten Reich, Frankfurt
am Main 2002.
[3] Ralf-Peter Fuchs, "Ob Zeuge wisse, was das Burggraftum Nürnberg
sei?" Raumkenntnisse frühneuzeitlicher Untertanen, in: Achim Landwehr
(Hrsg.), Beiträge zur Sozial- und Kulturgeschichte des Wissens, Augsburg
2002, S. 93-114.