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2010/05/03 08:31:07
FJ Marx
Re: [Regionalforum-Saar] ein Vortrag in Amerika
Datum 2010/05/04 22:09:35
Rolgeiger
[Regionalforum-Saar] Die Familie in der Gesellschaft des Mittelalters
2010/05/08 00:25:35
Rolgeiger
[Regionalforum-Saar] Neuerscheinung. Moselfrän kisches Mundartwörterbuch
Betreff 2010/05/15 10:12:16
Rolgeiger
[Regionalforum-Saar] SZ: Vortrag zum Turiner Grabtuch
2010/05/03 00:44:43
Rolgeiger
[Regionalforum-Saar] ein Vortrag in Amerika
Autor 2010/05/04 22:09:35
Rolgeiger
[Regionalforum-Saar] Die Familie in der Gesellschaft des Mittelalters

[Regionalforum-Saar] Rezension "Ländliche Gese llschaft und Agrarwirtschaft im Hunsrück"

Date: 2010/05/03 22:23:12
From: Rolgeiger <Rolgeiger(a)...

From:    Ulrich Kluge <u.kluge2006(a)...   04.05.2010
Subject: Rez. NG: A. Bauer: Ländliche Gesellschaft
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Bauer, Alfred: Ländliche Gesellschaft und Agrarwirtschaft im Hunsrück
zwischen Tradition und Innovation (1870-1914) (= Trierer Historische
Forschungen 64). Trier: Kliomedia 2009. ISBN 978-3-89890-123-9; geb.;
507 S.; EUR 76,00.

Rezensiert für H-Soz-u-Kult von:
Ulrich Kluge, Buchenbach-Wagensteig
E-Mail: <u.kluge2006(a)... wissenschaftlichen Bemühungen um die Aufarbeitung der neuzeitlichen
Landwirtschaftsentwicklung, insbesondere der des 19. Jahrhunderts, haben
mit vorliegender Arbeit von Alfred Bauer einen deutlichen Impuls
erhalten. Als Regionalstudie konzipiert ist diese Arbeit - um ihr
zentrales Merkmal vorwegzunehmen - weit mehr als ein Beitrag zur
Geschichte einer entlegenen Agrarlandschaft. Sie umfasst die Geschichte
der bäuerlichen Familienbetriebe in ihrer Umbruchphase bis zum Beginn
des Ersten Weltkriegs.

Im Mittelpunkt der an Quellenkenntnis und Detailwissen reichen Arbeit
steht die Modernisierung der bäuerlichen Familienbetriebe. Es geht
hierbei um die ökonomische Festigung des Hunsrücker Kleingrundbesitzes
mit seinem bescheidenen Nutzflächenanteil von maximal 10 Hektar. Wo dies
bei ungünstigen Ausgangsbedingungen nicht gelang, drohte die Abwanderung
in die rasch aufstrebenden Industriegebiete.

Die Arbeit ist übersichtlich gegliedert. Ihre Lektüre ermüdet in keinem
Kapitel. Die abwechslungsreiche Gestaltung von Analysetext, Zitaten,
Tabellen, Graphiken und vertiefenden Anmerkungen weckt das Leseinteresse
stets neu. Nach einer ausführlichen Einleitung über Agrartheorien,
Begriffe, Analysekonzepte, Forschungsstand und Untersuchungsprozess (S.
15-54) geht es im ersten Kapitel um die "Strukturelemente der
Agrarverfassung" (S. 55-120). Gesellschaftlichen Problemen, die Alfred
Bauer "am Rande von Industrialisierung und Urbanisierung" sieht, ist das
zweite Kapitel gewidmet (S. 121-198). Staat und landwirtschaftliches
Vereinswesen erscheinen im dritten Kapitel (S. 199-270) als
"Schrittmacher der Agrarmodernisierung". Wie die Familienbetriebe
moderner wurden, mit welchen Mitteln "Produktions- und
Produktivitätszuwächse" erreicht wurden, das wird im vierten Kapitel (S.
271-320) übersichtlich und überzeugend dargestellt. Im fünften Kapitel
(S. 321-356) geht es um Finanzprobleme, beispielsweise um die Praktiken
des Geldverleihs und des Agrarkredits. Abschließend, im sechsten Kapitel
(S. 357-408), entfaltet Alfred Bauer ein breites
betriebswirtschaftliches Spektrum am Beispiel eines Hofes aus Wahlbach
auf der Basis einer "einfachen Buchführung" zwischen 1890 und 1922 mit
zahlreichen Einblicken in die keineswegs unkomplizierten
Wirtschaftsstrukturen eines bäuerlichen Kleingrundbesitzes. Ein Anhang
mit Textdokumenten, Tabellen und Graphiken sowie mit einem ausführlichen
Quellen- und Literaturverzeichnis bildet den Abschluss der Studie.

Die Arbeit geht mit ihren zahlreichen Erkenntnissen gleichermaßen in die
agrarwirtschaftliche wie -soziale Breite und Tiefe. Die regionalen
Modalitäten der Vererbung der Bauernhöfe dienten vor allem der
Existenzsicherung der bäuerlichen Erbmasse. In den Vererbungsprozessen
ging es um die Ausbalancierung der Ansprüche aller Erbschaftsparteien,
also auch erbberechtigter Frauen (S. 409). Alfred Bauer kennzeichnet den
Hunsrück als ein "erbrechtliches 'Mischgebiet'" von Anerbenrecht und
Realteilungspraxis (S. 411). Betriebs- und Bodenzersplitterung kamen
hier nicht vor; dementsprechend unterblieb die "Proletarisierung der
unterbäuerlichen Bevölkerung" (S. 411). Der positive Entwicklungstrend
vom Kleinst- über den Klein- zum mittleren Grundbesitz hielt langfristig
- bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts - an. "Die eine Dorfgesellschaft
gab es nicht, sondern in ihrer sozialen Ausprägung durchaus nuanciert
divergierende dörfliche Konstellationen" (S. 412). Unterschiedliche
Berufsgruppen in agrarischen und nichtagrarischen Tätigkeitsfeldern
existierten nebeneinander und waren durch spezifische Interessen
miteinander konstruktiv vernetzt. Es kam in Form der "saisonalen
Pendelarbeit" (S. 413) zu Wanderungen von Landarmen und abhängig
Beschäftigten ins industriell-gewerbliche Wirtschaftsmilieu. Die
bäuerlichen Betriebsinhaber und ihre Familien produzierten überwiegend
zur eigenen Bedarfsdeckung bei wachsendem Interesse an marktgerechter
Produktion für städtische Abnehmer. In engem Zusammenhang mit der
Existenzsicherung von Grund und Boden, des Familienhaushalts sowie von
Absatz und Bedarf entstanden Gesellschaften für die Produktion von
Grundnahrungsmitteln (Müllerei, Bäckerei), für die Erhaltung der
Bodenfruchtbarkeit und schließlich für die Tierzucht (S. 413).

Alfred Bauer widerspricht für den Hunsrück dem landläufigen Begriff der
"ländlichen Klassengesellschaft". Die Hunsrücker Bauern nahmen als
Vereinsmitglieder "Anteil an den politischen Diskursen des ausgehenden
19. Jahrhunderts". Sie befanden sich nicht auf antistaatlichem Kurs,
weil die staatliche Agrarpolitik als "Wohlfahrtspolitik und
Interventionismus" in willkommenem Sinne erfahren wurde (S. 414). Für
die hohe Integrationskraft des Hunsrücker Bauernvereins spricht das
breite Mitgliederfundament, wovon hauptsächlich das nationalliberale
Lager profitierte (S. 415). Die Entstehung und Entwicklung einer lokalen
Führungselite von zeitlich weitreichendem Einfluss ging auf die
landwirtschaftlichen Winterschulen zurück (S. 416-417). Aus Bauern
wurden "modern agierende und arrivierte Landwirte" (S. 416) und "es war
eine junge Generation von Bauern, die meist in der Tradition familialer
Qualifikationen und Leistungen sich bemühte, das 'Obenbleiben' ihrer
Familien durch entsprechende Leistungsmerkmale dauerhaft zu sichern" (S.
419). Die Hunsrücker Landwirtschaft befand sich seit den 1880er-Jahren
bis 1914 in einem tiefgreifenden Strukturwandel (S. 419-420). Der
agrarwirtschaftliche Modernisierungsprozess förderte die
"Verbäuerlichung" der Landwirtschaft und des dörflichen Sozialgefüges.
Der Preis, den die Modernisierung forderte, war jedoch hoch. Der
Umstellungsprozess belastete vor allem die Frauen; er nahm aber auch
alle anderen Familienmitglieder (Altenteiler, Kinder) stärker als bisher
in die Pflicht.

Mit Respekt vor der wissenschaftlichen Leistung Alfred Bauers, der durch
seinen Tod 2008 die Veröffentlichung seiner Dissertation nicht mehr
erlebte, sollten die Ergebnisse als Anregung und konzeptionelle
Grundlage bei der Untersuchung aller bisher unbeachtet gebliebenen
Agrarlandschaften Deutschlands dienen. Alfred Bauer hat der Hunsrücker
Landwirtschaft ein Denkmal gesetzt, insbesondere dem "bäuerlichen
Familienbetrieb mittlerer Größe", wie Lutz Raphael als
wissenschaftlicher Betreuer der Dissertation in seinem Geleitwort
zustimmend betont, dem Familienbetrieb, "der sich als anpassungsfähiger
und innovationsfähiger Protagonist des Strukturwandels erwies".


Diese Rezension wurde redaktionell betreut von:
Ewald Frie <ewald.frie(a)... zur Zitation dieses Beitrages
<http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/2010-2-095>

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