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[Regionalforum-Saar] Rezension "Ländliche Gese llschaft und Agrarwirtschaft im Hunsrück"
Datum 2010/05/07 09:16:23
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[Regionalforum-Saar] Rezension "Ländliche Gese llschaft und Agrarwirtschaft im Hunsrück"
Autor 2010/05/07 09:16:23
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[Regionalforum-Saar] 650 Jahre Wendalinus-Basilika

[Regionalforum-Saar] Die Familie in der Gesellschaft des Mittelalters

Date: 2010/05/04 22:09:35
From: Rolgeiger <Rolgeiger(a)...


Spieß, Karl-Heinz (Hrsg.): Die Familie in der Gesellschaft des
Mittelalters (= Konstanzer Arbeitskreis für Mittelalterliche Geschichte:
Vorträge und Forschungen 71) [Tagung (Reichenau) 2005]. Ostfildern: Jan
Thorbecke Verlag 2009. ISBN 978-3-7995-6871-5; geb.; 391 S.; EUR 54,00.

Inhaltsverzeichnis:
<http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/media/beitraege/rezbuecher/toc_14081.pdf>

Rezensiert für H-Soz-u-Kult von:
Claudia Moddelmog, Historisches Seminar, Universität Zürich
E-Mail: <C.Moddelmog(a)... auf eine Tagung des Konstanzer Arbeitskreises für mittelalterliche
Geschichte von 2005 zurückgehende Sammelband über die mittelalterliche
Familie ist gespannt erwartet worden. Besonderes Interesse sichert ihm
nicht nur die gesellschaftliche Aktualität des Themas "Familie", sondern
auch die innerfachliche Situation. Denn obwohl Karl-Heinz Spieß, der
Herausgeber der Bandes, in seiner Einführung konstatiert, dass im
Bereich der mediävistischen Forschung nur wenige
Überblicksdarstellungen, Monographien und Sammelbände vorliegen, die das
Wort "Familie" im Titel führen, ist doch die Literatur umso
reichhaltiger, wenn man diese Engführung aufgibt und im weiteren Sinne
Verwandtschaft als Forschungsfeld begreift. Genau diese Öffnung
allerdings führt direkt hinein in eine Debatte, die bereits auf der
Reichenauer Tagung geführt wurde und die in der Publikation nicht
verdeckt, sondern explizit gemacht ist. Im Mittelpunkt steht dabei die
Frage, ob die Kernfamilie mit Karl Heinz Spieß "im Sinne eines
besonderen emotionalen Bezugssystems [...] als eine anthropologische
Konstante" (S. 14) zu sehen ist und der fehlenden quellensprachlichen
Entsprechung zum Trotz als geeigneter Forschungsbegriff und -zugriff
gelten kann oder nicht. Der Band fordert damit zu einer
Grundlagenklärung heraus.

Zudem und teils abseits davon geht es um eine Bestandsaufnahme der
Forschung, um Übertragungen, Ambivalenzen und Medialisierung familiärer
Konzepte sowie um Einbettung und Ausgreifen der
Verwandtschaftsbeziehungen in andere soziale Felder. Weil der Band
selbst über eine hervorragende Zusammenfassung verfügt und die
konzeptionellen Fragen von besonderem Interesse sein müssen, seien über
die unten angeführte Inhaltübersicht hinaus hier die meisten Beiträge
nur in Stichworten behandelt.

Um die bildliche Repräsentation von (zumeist gleichzeitig lebenden)
Familienangehörigkeiten in der Nähe von Heiligen geht es bei Matthias
Müller, während Christian Kiening die verchristlichende Modellierung
spezifischer familiärer Relationen (der Haushaltsfamilie) im Medium des
"Familienromans" verfolgt. Im Anschluss geben Cordula Nolte
(aspektreich) und Hans Werner Rösener (in breiter Einbettung) einen
Überblick über Familienstrukturen und Haushaltskonstellationen im
(hohen) Adel und im bäuerlichen Bereich, während Gerhard Fouquet,
"bloßes Handbuchwissen" und Typenbildung verweigernd, an Nürnberger
Beispielen die Durchdringung ökonomischer und verwandtschaftlicher
Netzwerke, die variable Ausgestaltung von Haushalten und die Modi der
Eheanbahnung erörtert. Seine im Grundsatz schon bekannte Beschreibung
von Patenschaft als spezifisch europäischem Bestandteil des
Verwandtschaftssystems erweitert Michael Mitterauer um einen
kontrastierenden Vergleich mit dem Phänomen der Milchgeschwisterschaft.
Klaus van Eickels nimmt mit "Brüderlichkeit" ein sozial integratives
Konzept genau in den Blick, kontrastiert gegebene und gemachte
Bruderbeziehungen und kommt zu einer Begriffsbestimmung von fraternitas
als adhortativ-legitimierend (statt deskriptiv) und performativ: Als
Bruder habe man sich immer erst zu erweisen. Eine multiperspektivische
Darstellung zum Ineinander verwandtschaftlicher Strategien und
geistlicher Institutionen anhand des Klostereintritts von adligen
Töchtern im späten Mittelalter bietet Eva Schlotheuber. Christian Lübke
kontrastiert zwei theokratisch überhöhte Darstellungen der Rjurikiden
aus dem 11. Jahrhundert als generationen- und geschlechterübergreifend
einträchtige Familie mit einem gänzlich anderen Befund der zeitgleichen
schriftlichen Quellen, die allein um gespannte Bruderbeziehungen, dann
auch das "Vatererbe" von Brüdern kreisen.

Nun zu den konzeptionellen Beiträgen: Bernhard Jussen skizziert in
zuspitzender Rückschau Ausrichtungen und Ergebnisse der westeuropäischen
Forschungen, die seit Jack Goodys Thesen über die "Entwicklung von Ehe
und Familie in Europa" entstanden sind (Adoption, Eheverbote, Scheidung
und geistliche Verwandtschaft, Konkubinat, Polygynie, Bastarde,
kinderlose Erblasser).[1] Seine Bilanz: Verwandtschaft im
mittelalterlichen Europa verfüge kaum über Korrekturtechniken
biologischen Zufalls, sei weitgehend bilateral und kontraktuell
(Prämierung der Ehe statt patrilinearer Abstammung), zudem ein
dreigliedriges System (Abstammungs-, Heirats- und geistliche
Verwandtschaft) - er folgt hier oft der 2003 erschienen Synthese Michael
Mitterauers.[2] Im Unterschied dazu hält er jedoch die These vom
agnatischen Wandel der (adligen) Familie im hohen Mittelalter für
"zunehmend bestritten" (S. 302), weshalb die spätmittelalterliche
Tendenz zu agnatischer Repräsentation neu zu deuten sei - Diskussionen
hierzu werden nicht ausbleiben.[3] Eine sehr bedenkenswerte Neubewertung
schlägt er als Arbeitshypothese vor: Das europäische sei ein
Verwandtschaftssystem ohne Memorialfunktion (Gedenken stattdessen durch
geistliche Experten).

Abschließend skizziert Jussen den Entwurf eines Forschungsprogramms, das
es ermöglichen soll, verschiedene Verwandtschaftssysteme vergleichend in
den Blick zu nehmen. Wie und von wem, so die Leitfrage dabei, werden
nachrückende Mitglieder in verschiedenen Gesellschaften gezeugt,
gebildet, mit Besitz, Status und Herrschaft ausgestattet und so fort -
was also sind die Mechanismen "intergenerationeller Übertragung" (S.
320)? Wie sind die entsprechenden Funktionen verteilt, welches
Aufgabenbündel übernehmen dabei Verwandte? Welche Mechanismen stehen für
die Delegation solcher Aufgaben etwa in Krisensituationen zur Verfügung?
Und wie werden die entsprechenden Übertragungstechniken modelliert?

Das Bestechende dieses Entwurfs liegt auf der Hand: Hier steht die
Erstellung eines Tableaus in Aussicht, das für feine Differenzierungen
ebenso Raum lässt wie für kühne Kontrastierungen und jedenfalls enormes
heuristisches Potential haben dürfte. Das Programm ist nicht um die
Kern- oder auch Haushaltsfamilie zentriert, steht aber der Erforschung
nahverwandtschaftlicher Beziehungen nicht im Weg. Allerdings blendet die
Orientierung an intergenerationeller Übertragung auch eine ganze Reihe
von (etwa inner-generationellen) Phänomenen aus, zudem wird die
funktionalistische Ausrichtung nicht auf ungeteilte Zustimmung treffen.
Wie integrativ das Konzept wirklich sein kann, ist also in verschiedener
Hinsicht fraglich.

Ludolf Kuchenbuch benennt zusammenfassend als wichtigste Erträge der
Tagung: Erweis der Unfestigkeit 'kernfamilialer' Konstellationen (1.),
der Gewalt des "Vater-Herrn" und Ambivalenz von erborenen
Primärbeziehungen sowie der konstitutiven Funktion externer Umstände für
die Gestalt der Primärgruppe (3.) und der Tendenz zur klerikalen
Schwächung oder Umprägung von Verwandtschaftsbeziehungen (4.). Er
unterstreicht das Fehlen eines auf das verwandtschaftliche Ganze
gerichteten Denkens und mahnt an, mit größerer Variabilität von
Familienformen in den unterschiedlichen sozialen Milieus zu rechnen.
Dies konsequent weiterführend, macht er sich in mehreren gedankenreichen
und inspirierenden Exkursen (zugleich teils Forschungsberichten) zum
"Anwalt einer gezielten Skepsis" (S. 339) hinsichtlich des
kernfamilialen Modells. Fundament seiner Argumente ist immer wieder die
Semantik. Er bringt den späten Wandel zur heute geläufigen Bedeutung
"Familie" erst im 19. Jahrhundert in Erinnerung und arbeitet heraus,
dass das mittellateinische familia Herrschaftsensembles bezeichne, denen
der "familiale oder domestische Kern" gerade fehle (S. 375).
Insbesondere für den bäuerlichen Bereich bezweifelt er die frühe
Durchsetzung normkirchlich verstandener Ehe und Monogamie; er sieht den
Hof, nicht das (mobile!) Haus als herrschaftlich verordnetes Zentrum der
zum Bleiben gezwungenen Abhängigen und vermutet eine weit größere
Verwiesenheit bäuerlicher Nachbarn aufeinander, als das
kernfamilial-gattenzentrierte Modell beschreibt. Seine Alternative zur
Verwendung von Begriffen wie Kern-, Haushalts- oder
Verwandtschaftsfamilie ist die auf den Mann ausgerichtete Formulierung
"mit Weib und Kind und ...". Der durch die Paarbeziehung gestiftete
Konnex bleibe also zentral, der Typ dieser Verbindung jedoch, die
Durchsetzung der (kirchlichen) Ehe und damit verbundener Wirkungen müsse
verstärkt erforscht werden.

Im Hinblick auf die Debatte um Kernfamilie und Verwandtschaft ragen im
vorliegenden Band mithin skeptische Wortmeldungen hervor, wobei sich nur
in einer Minderheit der Beiträge so klare Stellungnahmen finden. Kaum
diskutiert wird insbesondere die von Karl Heinz Spieß vorgenommene
nähere Bestimmung der Kernfamilie als emotionales Bezugssystem, wozu der
Herausgeber selbst allerdings auch keinerlei weitere Hinweise gibt. Wie
Familie und Verwandtschaft übergreifend zu erforschen sein könnten,
dafür sind nun teils stark differierende Vorschläge gemacht, die in den
nächsten Jahren Wellen schlagen dürften.


Anmerkungen:
[1] Jack Goody, Die Entwicklung von Ehe und Familie in Europa, Berlin
1986.
[2] Michael Mitterauer / Andreas Gestrich / Jens-Uwe Krause, Geschichte
der Familie, Stuttgart 2003.
[3] Vgl. etwa die anders gelagerten Charakterisierungen in: Jon Mathieu
/ David Warren Sabean / Simon Teuscher (Hrsg.), Kinship in Europe.
Approaches to long-term development (1300-1900), New York 2007.

Diese Rezension wurde redaktionell betreut von:
Wolfgang Eric Wagner <wolfgang-eric.wagner(a)... zur Zitation dieses Beitrages
<http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/2010-2-098>

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