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2017/05/31 20:55:05
Roland Geiger via Regionalforum-Saar
[Regionalforum-Saar] Zeit in den Wissenschaften
Datum

2017/05/29 10:06:27
Roland Geiger via Regionalforum-Saar
[Regionalforum-Saar] Der Deutsche Flottenverein 1898-1934
Betreff 2017/05/17 00:51:08
Roland Geiger
[Regionalforum-Saar] Die mittelalterlichen Stadtbefestigungen im deutschsprachigen Raum. Ein Handbuch
2017/05/31 20:55:05
Roland Geiger via Regionalforum-Saar
[Regionalforum-Saar] Zeit in den Wissenschaften
Autor


[Regionalforum-Saar] Die anwesende Abwesenheit der Vergangenheit

Date: 2017/05/31 20:57:56
From: Roland Geiger via Regionalforum-Saar <regionalforum-saar(a)...

Landwehr, Achim: Die anwesende Abwesenheit der Vergangenheit. Essay zur
Geschichtstheorie. Frankfurt am Main: S. Fischer 2016. ISBN
978-3-10-397205-4; 374 S.; EUR 25,00.

Inhaltsverzeichnis:
<http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/media/beitraege/rezbuecher/toc_26285.pdf>

Rezensiert für H-Soz-Kult von:
Rüdiger Graf, Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam
E-Mail: <graf(a)...
In seinem 1933/34 entstandenen, erst postum veröffentlichten "Blauen
Buch" warnt Ludwig Wittgenstein davor, sich "über die Beschaffenheit der
Zeit den Kopf [zu] zerbrechen", weil uns "der Gebrauch des Substantives
Zeit [...] hinters Licht" führe.[1] In der Substantivierung, meint
Wittgenstein, erscheint uns Zeit "wie ein sonderbares Ding", während wir
deutlich weniger Schwierigkeiten haben zu klären, was die Ausdrücke
"früher", "später" oder "gleichzeitig" bedeuten. Weite Teile der vor
allem anglo-amerikanischen Sprachphilosophie sind Wittgensteins Skepsis
gegenüber den Substantiven gefolgt. Sie fragen nicht, was "die
Wirklichkeit" oder "die Wahrheit" ist, sondern vielmehr, was als
"wirklich" oder "wahr" bezeichnet wird und was damit in bestimmten
Kontexten gemeint ist. Durch diesen Linguistic Turn haben
Sprachphilosophen erheblich zur Klärung, teilweise sogar zur Erledigung
jahrhundertealter philosophischer Probleme beigetragen.

In Achim Landwehrs "Essay zur Geschichtstheorie" wimmelt es demgegenüber
von Substantiven und Substantivierungen. Die 16 Kapitel sind jeweils mit
einem Großbegriff überschrieben. Die meisten dieser Begriffe bezeichnen
grundlegende philosophische Probleme (Gottersatz, Wahrheit,
Wirklichkeit, Negation, Relation, Beschreibung, Möglichkeit, Ethik),
während andere eher auf konkrete Grundlagen bzw. Praktiken der
Geschichtswissenschaft verweisen (Vergangenheit, Material, Medien,
Ereignis, Archiv, Kritik) und zwei weitere Wortneuschöpfungen sind, mit
denen Landwehr seinen eigenen geschichtstheoretischen Ansatz zu fassen
sucht (Chronoferenz und Zeitschaft). Stilistisch hat der Autor ein
Faible für Paradoxien; er fügt Widersprüchliches zusammen, um so auf
einen tieferen, aber nicht genau festzulegenden Sinn zu verweisen und
zugleich Geheimnis und Komplexität zu suggerieren (S. 24ff.). Schon die
titelgebende "anwesende Abwesenheit der Vergangenheit" ist ein Beispiel
für Landwehrs Technik, die auf aphoristische Verdichtung und
changierenden Sinn zielt. Damit bewegt er sich in einer vor allem
kontinentaleuropäischen philosophischen Tradition, die viele ähnliche
Gedankenfiguren hervorgebracht hat, wie zum Beispiel Ernst Blochs
"Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen"[2] oder Giorgio Agambens
"einschließende Ausschließung", über die sich Generationen angehender
Geisteswissenschaftler den Kopf zerbrochen haben.

Wer Landwehrs Faible für Paradoxie und Tiefsinn teilt, wird seinen Essay
mit Begeisterung lesen. Hegt man jedoch eine Präferenz für begriffliche
Klarheit im Sinne der sprachanalytischen Schule, so hinterlässt die
Lektüre einen zwiespältigen Eindruck. Einerseits ist Landwehrs Buch ein
ungeheuer gelehrter Beitrag zur geschichtstheoretischen
Selbstvergewisserung des Fachs, die in der alltäglichen
historiographischen Praxis oft zu kurz kommt. Es adressiert in
essayistischer, auch einer breiteren Öffentlichkeit zugänglichen Form
wesentliche Fragen der Geschichtstheorie und historischen Erkenntnis.
Anhand vielfältiger Beispiele und mit guten Argumenten widerlegt
Landwehr das populäre Missverständnis, die Quellen seien so etwas wie
Fenster, die den Blick auf eine Vergangenheit eröffneten, die in der
historischen Erzählung abgebildet werden könnte. Überzeugend plädiert er
dafür, die Konstruktion des Kollektivsingulars "Geschichte" und die
Fiktion eines umfassenden, einheitlichen Geschichtsverlaufs aufzugeben
und durch komplexere temporale Ordnungsmodelle zu ersetzen, für die er
in Analogie zur "Landschaft" den Begriff "Zeitschaft" einführt.
Andererseits werden aber auch einfache Zusammenhänge unnötig
verkompliziert, Probleme und Geheimnisse erzeugt, wo eigentlich keine
sind, und essenzielle Begriffe verworfen, die nicht aufgegeben werden
sollten. Dabei geht Landwehrs Konstruktivismus in vielen Formulierungen
zu weit, während er in anderen zu kurz greift.

Der Gedankenreichtum und die argumentative Fülle des Essays sind
unmöglich in einer kurzen Rezension wiederzugeben; Leistungen und
Schwächen von Landwehrs Ansatz können hier nur exemplarisch diskutiert
werden. Im Zentrum des Buches steht der Begriff "Chronoferenz", den
Landwehr definiert als "diejenige Relationierung", "mit der anwesende
und abwesende Zeiten gekoppelt, Vergangenheiten und Zukünfte mit
Gegenwarten verknüpft werden können" (S. 28). Chronoferenzen sind für
ihn das, was in der historiographischen Praxis erzeugt wird und worüber
in der Geschichtswissenschaft diskutiert werden sollte. Gegenstand der
Historiographie ist also nicht, wie Landwehr mit Verweis auf Droysen
immer wieder betont, die Vergangenheit, die eben schlicht vergangen ist.
So unbestreitbar es nun ist, dass die Vergangenheit vergangen ist, so
zweifelhaft ist es doch, ob es ein Differenzkriterium der
Geschichtswissenschaft zu "allen anderen Wissenschaften" ist, dass sie
sich mit etwas beschäftigt, was es nicht mehr gibt, wie Landwehr
behauptet (S. 33). Zwar verweist er immer wieder mit Recht auf den
fragmentarischen Charakter der Überlieferung und die essenzielle
Bedeutung von Medien und Hilfsmitteln für die Konstruktion von Wissen
über Vergangenes. Aber auch die modernen Naturwissenschaften
beschäftigen sich mit Phänomenen, die ohne technische Instrumente für
Menschen nicht wahrnehmbar wären. Trotzdem erscheint es mir
kontraintuitiv zu behaupten, dass ihr Gegenstand deshalb nicht die Natur
ist, also etwa die Zellen des menschlichen Körpers, die Mikroorganismen
in Gewässern oder die Beschaffenheit des Weltalls, bloß weil diese nicht
unmittelbar wahrnehmbar sind. Analog spricht auch nichts dagegen, die
Vergangenheit weiterhin als Gegenstand der Geschichtswissenschaft zu
bezeichnen, in der es schließlich darum geht, etwas über die
Vergangenheit zu sagen, wie perspektivisch das auch immer sein mag.

Landwehrs Ablehnung dieser Common-Sense-Annahme resultiert aus einem
unklaren Verständnis der Begriffe Vergangenheit, Wirklichkeit und
Wahrheit, die er alle unausgesprochen mit Vorstellungen von Totalität,
Vollständigkeit und Objektivität koppelt. Zwar erklärt er, wie
unfruchtbar Debatten über Konstruktivismus und eine unabhängige
Wirklichkeit seien, plädiert dann aber dafür, an die Stelle der
"Objektivität totaler Wirklichkeit" die "Relationalität bezüglicher
Wirklichkeit" zu setzen (S. 101). Die Realität gebe es nur, "insofern
wir sie für uns verwirklichen" (S. 120), und die Wirklichkeit sei nichts
Anderes als "der letzte Stand der Dinge" (S. 131, S. 153). Das meinen
wir aber nicht, wenn wir sagen, dass etwas wirklich der Fall ist oder
war. Wir haben keine Schwierigkeit damit, den Gedanken zu fassen, dass
selbst der universale Konsens einer idealen Forschergemeinde falsch sein
kann, weil letztlich die Beschaffenheit der Welt darüber entscheidet, ob
eine Faktenbehauptung wahr ist oder nicht. Landwehr verwechselt hier
unsere immer historisch kontingenten und falliblen Praktiken der
Verifikation mit der Bedeutung des Prädikats "wahr", das nicht so leicht
aufgegeben werden kann, weil es eine zentrale sprachliche Funktion
erfüllt, wie Arbeiten zur wahrheitskonditionalen Semantik gezeigt
haben.[3]

Wenn Landwehr eine Korrespondenztheorie der Wahrheit ablehnt (S. 63) und
gegen die Idee der historischen Wahrheit im Sinne einer vollständigen
und objektiven Beschreibung vergangener Wirklichkeit argumentiert,
entwirft er einen Popanz. Kein ernstzunehmender Historiker würde heute
noch behaupten, einen objektiven Geschichtsverlauf in seiner Totalität
abbilden zu können, und in jedem ordentlichen historischen Proseminar
wird die Bedeutung der Frage für die historische Erkenntnis
hervorgehoben. Landwehrs Ausweg, zwar keine historische Wahrheit, wohl
aber "wahre Geschichten" zuzulassen (S. 207), bleibt dann aber unklar.
Denn das Wahrheitsprädikat bezieht sich zunächst einmal auf Sätze, und
seine Übertragung auf narrative Strukturen ist problematisch. Implizit
erkennt Landwehr das auch an, wenn er meint, es gebe "im Historischen
eine ganze Menge Wahres zu entdecken"; dessen Zusammenstellung sei aber
uninteressant, weil sie nur zu einer Chronologie führe (S. 203). Gerade
bei der Anerkennung solcher historischen Fakten bleibt Landwehr aber an
verschiedenen Stellen hinter den eigenen konstruktivistischen Einsichten
zurück. Einerseits negiert er die bloße Entgegensetzung von Fakten und
Fiktionen und hebt die geistige und sprachliche Konstitution
historischer Fakten hervor. Andererseits betont er jedoch, bestimmte
Ereignisse seien "unwiderruflich und unwiderrufbar": "Ohne Zweifel ließ
sich Karl der Große zum Kaiser krönen, suchte Kolumbus den westlichen
Seeweg nach Indien und brach 1939 der Zweite Weltkrieg aus." (S. 121)
Hier verblüfft die Nonchalance, mit der Landwehr bestimmte sprachliche
Fassungen von Ereignissen gelten lässt.

Die grundsätzliche sprachliche Verfasstheit unseres Wissens muss aber
radikaler gedacht werden: Wir haben unzählige sprachliche Möglichkeiten,
jeden beliebigen Gegenstand aus der Welt herauszugreifen, und nichts in
der Welt entscheidet darüber, welche wir wählen. Genausowenig
entscheidet die Welt über die Art und Weise, wie wir Fakten, die nicht
in der Welt sind, sondern in der Form von "dass-Sätzen" existieren,
auswählen und zueinander in Beziehung setzen. Das heißt aber nicht, dass
sie sich nicht auf die Welt oder eben die Vergangenheit beziehen, über
die wir wahre Aussagen treffen wollen. Dass wir uns über Geschichte
mitunter heftig streiten, liegt unter anderem daran, dass wir nicht nur
Chronoferenzen produzieren, sondern doch auch sagen wollen, wie es
eigentlich gewesen. Und wir müssen dem Anderen zuhören und dissidenten
Meinungen Raum eröffnen, weil es vielleicht auch ganz anders gewesen sei
könnte, als wir nach dem letzten Stand der Dinge glauben. Das klingt
weniger geheimnisvoll als Achim Landwehrs geschichtstheoretischer Essay,
aber ich habe den Eindruck, er sagt letztlich etwas ganz Ähnliches.
Weiterführend erscheinen mir vor allem Landwehrs Überlegungen, dass wir
uns von der Vorstellung eines einheitlichen Geschichtsverlaufs, der in
einer Narration zusammengefasst werden kann, verabschieden und
stattdessen über neue Formen nachdenken müssen, Vergangenheit, Gegenwart
und Zukunft miteinander in Beziehung zu setzen.


Anmerkungen:
[1] Ludwig Wittgenstein, Werkausgabe, Bd. 5: Das Blaue Buch. Eine
Philosophische Betrachtung (Das Braune Buch), hrsg. von Rush Rhees,
Frankfurt am Main 1984, S. 22.
[2] Siehe zu diesem Topos auch Achim Landwehr, Von der 'Gleichzeitigkeit
des Ungleichzeitigen', in: Historische Zeitschrift 295 (2012), S. 1-34.
[3] Donald Davidson, Inquiries into Truth and Interpretation, Oxford
1984; ders., Truth, Language, and History, Oxford 2005.