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2017/05/29 10:06:27
Roland Geiger via Regionalforum-Saar
[Regionalforum-Saar] Der Deutsche Flottenverein 1898-1934
Datum 2017/05/31 20:57:56
Roland Geiger via Regionalforum-Saar
[Regionalforum-Saar] Die anwesende Abwesenheit der Vergangenheit
2017/05/05 09:37:39
Roland Geiger
[Regionalforum-Saar] Zeit für Wanderungen
Betreff 2017/05/18 22:09:29
Roland Geiger
[Regionalforum-Saar] zum Vortrag über die Auswande rungen
2017/05/29 10:06:27
Roland Geiger via Regionalforum-Saar
[Regionalforum-Saar] Der Deutsche Flottenverein 1898-1934
Autor 2017/05/31 20:57:56
Roland Geiger via Regionalforum-Saar
[Regionalforum-Saar] Die anwesende Abwesenheit der Vergangenheit

[Regionalforum-Saar] Zeit in den Wissenschaften

Date: 2017/05/31 20:55:05
From: Roland Geiger via Regionalforum-Saar <regionalforum-saar(a)...

Kautek, Wolfgang; Neck, Reinhard; Schmidinger, Heinrich (Hrsg.): Zeit in
den Wissenschaften (= Wissenschaft - Bildung - Politik 19). Wien: Böhlau
Verlag 2016. ISBN 978-3-205-20499-2; 262 S.; EUR 35,00.

Inhaltsverzeichnis:
<http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/media/beitraege/rezbuecher/toc_27045.pdf>

Rezensiert für H-Soz-Kult von:
Achim Landwehr, Historisches Seminar VIII, Heinrich-Heine-Universität
Düsseldorf
E-Mail: <landwehr(a)...
Man beginne die Lektüre des Sammelbandes "Zeit in den Wissenschaften"
mit dem Beitrag des Medientheoretikers Stephan Günzel. Denn Günzel klärt
uns Lesende über die Irrealität der Zeit auf. Unter Rückgriff auf die
bekannte Argumentation des Sprachphilosophen John McTaggart weist Günzel
die Zeit als ein Differenzierungsphänomen aus, das seine einzige
Konkretisierung in Raumverhältnissen beziehungsweise in räumlichen
Bewegungen finde. Während er selbst diese grundsätzliche These durch die
Untersuchung unterschiedlicher medialer Formen weiterführt, mit denen
die Zeit ins (gemalte, fotografische, filmische, digitale) Bild gesetzt
wird, bleibt die Leserschaft rätselratend zurück mit der Frage, ob sich
eine weitere Lektüre dieses Sammelbandes jetzt noch lohnen könne.
Immerhin hat sich diese Publikation eben die "Zeit in den
Wissenschaften" als Gegenstand vorgenommen - nur um mit Günzel
festzustellen, dass es diesen Gegenstand überhaupt nicht gibt?

Die Österreichische Forschungsgemeinschaft organisiert jedes Jahr einen
Wissenschaftstag zu einem disziplinär übergreifenden Thema, und nachdem
bei vorherigen Gelegenheiten unter anderem die Freiheit, die Ethik, die
Kommunikation, die Globalisierung oder die Wahrheit verhandelt worden
waren, war im Jahr 2015 die Zeit an der Reihe. Und wie es kaum anders
sein kann, wenn Menschen mit sehr unterschiedlichen wissenschaftlichen
Ansätzen über ein so allumfassendes und ubiquitäres - und offenbar
irreales - Thema wie die Zeit räsonieren, kommt nicht unbedingt ein
konzises Ergebnis in Form einer inhaltlich geschlossenen
Veröffentlichung heraus.

Man darf daher dieses Buch trotz des vollmundigen Titels nicht mit allzu
hohen Erwartungen überfrachten. Hier wird weder geklärt, was die Zeit
ist (Günzels Überlegungen stellen da eher eine hervorzuhebende Ausnahme
dar), noch finden sich 'die Wissenschaften' in einer halbwegs
repräsentativen Form vertreten. Hier liegt vielmehr ein Buch vor, das
einige höchst individuell operierende Menschen versammelt, die
versuchen, dem Thema der Zeit mit Blick auf ihr Spezialgebiet einige
Erkenntnisse abzuringen. Für das spezialisierte Publikum wird dabei in
den jeweiligen Themenbereichen kaum Neues oder Erkenntnisreiches zu
holen sein. Aber für diejenigen, die sich dem Thema 'Zeit' von der Warte
anderer wissenschaftlicher Ansätze widmen wollen, bietet dieser Band
eine passende Gelegenheit.

Gerhard Dohrn-van Rossum geht in seinem Beitrag einem nahezu klassischen
Thema der Zeitforschung nach, nämlich der Geschichte der Uhren. Bereits
vor 25 Jahren hat Dohrn-van Rossum einen rasch zur Standardlektüre
gewordenen Band über die "Geschichte der Stunde" vorgelegt. Im
vorliegenden Aufsatz fasst er daraus wesentliche Ergebnisse zur
Entwicklung der Räderuhr mit Hemmung zusammen und fragt nach den
möglichen Bedeutungen der Zeitmessung in den Wissenschaften um 1300.

Die Japanologin Brigitte Steger wendet sich einem nicht minder
etablierten Gegenstand in der Erforschung der Zeit zu, nämlich der
Kontrastierung eigener, für selbstverständlich gehaltener Zeitmodelle
europäischer Provenienz mit gänzlich anders gearteten aus anderen
Kulturkreisen. Für das Japan des 7. bis 19. Jahrhunderts (wohlgemerkt:
nach christlicher Zeitrechnung) fragt Steger insbesondere nach den
Möglichkeiten und Formen der Zeitmessung, und zwar zur Tages- wie zur
Nachtzeit. Denn wie man sich in unserer vollständig durchgezeiteten
Gegenwart des frühen 21. Jahrhunderts kaum noch vorzustellen vermag, war
es in Gesellschaften ohne flächendeckende Versorgung mit mechanischen
Uhren so gut wie unmöglich, des nachts herauszufinden, wie 'spät' es
eigentlich ist. Von astrologischen Kalendern über unterschiedliche
Formen der Stundenmessung bis zur Einführung des Gregorianischen
Kalenders in Japan bietet dieser Aufsatz einen guten Überblick.

Christian Korunka widmet sich als Psychologe der Frage der Zeit wiederum
von einer ganz anderen Warte. Sein Beitrag fasst vor allem die
Ergebnisse empirischer Forschungen zusammen, welche die Auswirkungen von
Beschleunigungsprozessen auf gegenwärtige Arbeitswelten haben. Von der
Dauerverfügbarkeit aufgrund entsprechender Kommunikationsmöglichkeiten
über die Auflösung der Trennung von Arbeitszeit und Freizeit bis zur
Burnout-Diagnose werden hier aktuelle Diskussionspunkte vorgestellt.

Der aufgrund zahlreicher Veröffentlichungen bekannte Sprachforscher
Harald Haarmann geht das Zeitthema in seinem Beitrag etwas anders an. Er
verfolgt in höchster Verdichtung die Entwicklung menschlicher
Sprachfähigkeit von ihren möglichen Anfängen bis zur Ausbildung
komplexer Sprachen. Leider reserviert er nur einen letzten, kurzen
Abschnitt für die Frage, wie sich in Sprachen die Möglichkeiten
verändert haben, unterschiedliche Zeitformen zu bezeichnen und
insbesondere Zukünftiges sprachlich zum Ausdruck zu bringen.

Der Anglist Ansgar Nünning spürt den Zeitvorstellungen nach, wie sie
sich insbesondere in der Literatur des 20. Jahrhunderts manifestieren,
wie dort Vielzeitigkeit thematisiert wird oder ein sogenanntes
"Achtsamkeitstempo" eine Rolle spielen kann. Unter Rückgriff auf
etablierte Beispiele aus der erzählenden Literatur, in der auch immer
wieder Zeitkulturen eine Rolle spielen - Virginia Woolf ist hier die
wichtigste Gewährsfrau - betont Nünning vor allem die Eigenzeiten, die
sich in diesem ästhetischen Kontext ausbilden.

Werner Goebl konzentriert sich in seinem Beitrag auf diejenige Form
ästhetischer Erfahrung, von der regelmäßig und durchaus nachvollziehbar
behauptet wird, sie sei die Zeit-Kunst schlechthin: Musik wird in seinem
Beitrag aber nicht in einem allgemeinen Sinn als sich in der Zeit
vollziehende Kunst vorgeführt, sondern als ein empirisch zu
untersuchender Faktor in der Aufführungspraxis. Es geht, mit anderen
Worten, um die Analyse individueller Tempi bei der Interpretation ein
und desselben Stücks. Musik wird damit, im wahrsten Sinn des Wortes,
sichtbar nicht nur als eine Kunst, die sich in der Zeit ausbreitet,
sondern die Formen von Zeitlichkeit selbst hervorbringt.

Den Abschluss bildet Anne Koch mit einem religionswissenschaftlichen
Blick auf die Frage, wie wir in unserer Gegenwart die Zeit
bewirtschaften, mit welchen Zeitformen das frühe 21. Jahrhundert also
operiert und seinen Alltag gestaltet. Die religionswissenschaftliche
Perspektive ist dabei hilfreich, weil sie für einen weiteren
gesellschaftlichen Zusammenhang Formen von Endzeitlichkeit, aber auch
von Geburtszeiten entsprechend einordnen kann.

Bleibt die Frage, wie sich angesichts so vieler Beispiele von
Zeitlichkeit die These aufrechterhalten lässt, dass Zeit irreal sei.
Nun, genau in dem Sinn, wie Stephan Günzel diese Aussage verstanden
wissen wollte, indem man Zeit nämlich nicht als apriorische Größe, als
gewissermaßen eigenständige Dimension voraussetzen kann, sondern Zeit
immer nur in dem Sinn hervorgebracht wird, wie man sich gegenwärtig auf
etwas bezieht, das es nicht mehr oder noch nicht gibt - also auf
Nicht-Existentes. Genau dafür liefert dieser Band instruktive Beispiele.

Diese Rezension wurde redaktionell betreut von:
Stefan Jordan <
jordan(a)...
URL zur Zitation dieses Beitrages
<
http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/2017-2-143>