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2011/05/01 17:10:06
Rolgeiger
[Regionalforum-Saar] nochmal Wareswald
Datum 2011/05/02 08:09:39
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[Regionalforum-Saar] Neues Buch zur jüdischen Fa milienkunde erschienen
2011/05/09 22:52:15
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[Regionalforum-Saar] nochmal Wareswald
Autor 2011/05/02 08:09:39
Rolgeiger
[Regionalforum-Saar] Neues Buch zur jüdischen Fa milienkunde erschienen

[Regionalforum-Saar] Die Erfindung des jüdischen Volkes

Date: 2011/05/01 18:46:23
From: Rolgeiger <Rolgeiger(a)...

Sand, Shlomo: Die Erfindung des jüdischen Volkes. Israels
Gründungsmythos auf dem Prüfstand. Berlin: Propyläen Verlag 2010. ISBN
978-3-549-07376-6; 505 S.; EUR 24,95.

Rezensiert für H-Soz-u-Kult von:
Luise Hirsch, Heidelberg
E-Mail: <luise.hirsch(a)... Folge des cultural turn ist, dass sich die Distanz zwischen
Fachhistorikern und "Laien" stark vergrößert hat: Historiker gehen von
selbstverständlichen Voraussetzungen aus, die Nicht-Historikern fremd
sind. Wenn dann das offene Geheimnis "verraten" wird, herrscht
Fassungslosigkeit, gefolgt von Empörung bei den meisten und Triumph bei
einigen. Nur unter diesen Bedingungen konnte aus Shlomo Sands Buch "Die
Erfindung des jüdischen Volkes" die Sensation werden, die es zumindest
in Israel ist - denn für die Fachwelt ist die grundsätzliche
"Erfundenheit" jeder Nation eine Binsenweisheit.

Mit der Frage "Wer ist Jude?" haben sich Historiker bisher kaum
beschäftigt, zumindest nicht epochenübergreifend. Theologisch gesehen
war sie freilich immer zentral: Schon in der Hebräischen Bibel findet
sich der nie aufgelöste Widerspruch zwischen Universalismus und
Partikularismus. Die rabbinische Antwort lautet seit der Antike: Jude
wird man entweder durch Abstammung oder durch Konversion. Nicht zufällig
erinnert diese pragmatische Doppelstrategie an die moderner
Staatsangehörigkeit: Auch sie wird entweder durch Abstammung oder durch
einen Rechtsakt begründet, und tatsächlich sind Nationen immer eine
unauflösliche, gänzlich "unreine" Mischung aus beiden Komponenten. Das
"jüdische Volk" (um den strittigen Begriff zu benutzen) imaginiert sich
schon seit mindestens zweitausend Jahren als mehr oder weniger endogame
und dabei geographisch über die halbe Welt verstreute Gemeinschaft, die
in ungebrochener Kontinuität fortexistiert. Dass zu diesem "Volk" immer
auch Konvertiten gehörten, war nie ein Geheimnis oder gar ein Tabu. Im
Selbstbild dominierte zwar die Abstammungsgemeinschaft, aber in der
Realität war das "jüdische Volk" immer ein Hybrid. Und es unterscheidet
sich von anderen, ebenso hybriden und imaginierten Völkern lediglich
dadurch, dass es diesen Imaginations-Diskurs schon in der Antike
begonnen hat. Man könnte durchaus zuspitzend sagen, dass das jüdische
Volk die Erfindung des Volkes erfunden hat.

Ausgangspunkt von Sands Argumentation ist zu zeigen, dass diese
Erfindung aber tatsächlich, kurz gesagt, auf den deutsch-jüdischen
Historiker Heinrich Graetz und seine elfbändige "Geschichte der Juden
von den Anfängen bis auf die Gegenwart" (ab 1853) zurückgeht, also ein
Produkt des 19. Jahrhunderts und des modernen Nationalismus ist und dem
außerdem ein unhaltbares teleologisches Geschichtsbild des Zionismus
zugrunde liegt. Im Folgenden macht sich Sand daran, die Graetzsche
Totalkonstruktion Baustein für Baustein, in chronologischer Reihenfolge,
einzureißen, also quasi einen "Anti-Graetz" zu schreiben. Dass er dabei
weit über die Grenzen seines Fachgebiets hinausgehen und sich auf die
Forschung anderer verlassen muss, ist ihm nicht vorzuwerfen. Aber seine
Auswahl von Richtigem und Absurdem - und vielem dazwischen - in seinen
"Belegen" ist höchst kritikwürdig. Noch ärgerlicher ist die das ganze
Buch durchziehende Verschwörungsrhetorik, deren Tenor man ungefähr so
paraphrasieren könnte: Die Historiker (vom Zionismus korrumpiert) haben
die Wahrheit immer nur unterdrückt. Ich aber sage euch: Es war alles
ganz anders.

Dem Buch ist zugute zu halten, dass Sand mit einigen populären Legenden
aufräumt, die Fachhistoriker freilich ohnehin längst ad acta gelegt
haben. Es ist an der Zeit, dass auch der Allgemeinheit zur Kenntnis
gelangt, dass alle Gemeinschaften zu einem gewissen Grad imaginiert
sind. Ebenso, dass die biblischen Erzählungen von den Erzvätern, vom
Auszug aus Ägypten und der Landnahme in Kanaan just von der israelischen
Archäologie als unhistorisch entlarvt wurden, die eigentlich angetreten
war, sie zu beweisen. Oder die weithin ignorierte Tatsache, dass in der
Spätantike vor dem Aufstieg des Christentums eine große Anzahl von
Menschen zum Judentum konvertiert ist - was den Schluss zulässt, dass
auch die heutigen Juden zum Teil auf Proselyten zurückgehen. Die
wichtigste dieser Klarstellungen ist vielleicht, dass es eine
umfassende, systematische "Vertreibung" der Juden aus Palästina durch
die Römer nie gegeben hat - dies ist vornehmlich ein antijüdisches
christliches Interpretament, das die Verstoßung der Juden durch Gott
untermauern sollte.

So weit, so akzeptabel. Jedoch sind diese Teile des Buches nicht frei
von Ideologie: Das von Sand behauptete "Verschweigen" besagter Fakten
durch jüdische Historiker (Stilprobe: "Doch bekanntlich ignoriert die
Historikerzunft einfach die Dinge, die ihr nicht in den Kram passen", S.
276f.) ist unwahr, wie schon ein kurzer Blick in die Bibel der
Mainstream-Judaistik, die Encyclopaedia Judaica, belegt.[1] Sie sind
vielmehr unbestrittener Konsens. Eher schon lässt sich Sand Verschweigen
vorwerfen: Die wirtschaftlich motivierte Emigration großer Teile der
jüdischen Bevölkerung aus Palästina in andere Teile des Römischen Reichs
in der Spätantike, durch Quellen gut belegt, kommt bei ihm nicht vor.
Diese Emigranten gründeten Diasporagemeinden im gesamten Mittelmeerraum
und darüber hinaus (die älteste belegte Präsenz von Juden auf deutschem
Boden datiert auf das Köln des 4. Jahrhunderts). Dass zu diesen
Gemeinden auch Konvertiten gehörten, ist wahrscheinlich, widerspricht
aber offenbar Sands extrem vereinfachendem Geschichtsbild. Er stellt der
(nirgends seriös vertretenen) Vorstellung, "alle" Juden seien biologisch
verwandt, die Behauptung entgegen, dass die gesamte jüdische Präsenz
außerhalb Palästinas bis auf unbedeutende Ausnahmen auf Konversion
zurückgehe. Die einzigen "Original-Juden" sind für ihn die heutigen
Palästinenser, die er als zum Islam konvertierte Nachfahren der antiken
jüdischen Bevölkerung betrachtet.

Je weiter die "Beweiskette" chronologisch fortschreitet, desto absurder
werden die Behauptungen. Um den Ursprung der osteuropäischen Juden zu
erklären, greift Sand zu der Legende vom im Kaukasus gelegenen
Chasarenreich. Die Existenz dieses Reichs und die Konversion des
Königshauses sowie vermutlich einer kulturellen Elite zum Judentum um
das Jahr 800 kann als belegt gelten. Dass aber mehr als ein kleiner Teil
der osteuropäischen Juden auf die Chasaren zurückgeht, glaubt kein
ernstzunehmender Historiker. Sands Argumentation kulminiert darin, die
Migration großer Teile der deutschen Juden ins polnisch-litauische
Großreich ab dem Hochmittelalter zu bestreiten. Diese Migration ist
durch zahlreiche Quellen belegt, von Erlassen des polnischen Königs bis
hin zu den mittelhochdeutschen Wurzeln der jiddischen Sprache. Wer sie
bestreitet, stellt sich endgültig außerhalb des fachwissenschaftlichen
Minimalkonsenses.

Am Beispiel der Palästinenser als Nachfahren konvertierter Juden lässt
sich Sands unseriöse Argumentationsweise gut verdeutlichen: historische
Quellen, so viel ist klar, gibt es nicht. Das Zeitalter der arabischen
Eroberung liegt weitgehend im Dunkeln. Sand kann sich lediglich auf
andere moderne Autoren berufen, und diese akzeptiert oder verwirft er je
nach ideologischer Agenda. Kronzeuge ist für ihn vor allem der aus
Russland stammende frühe Zionist Israel Belkind, der 1882 mit der Ersten
Alija ins Land kam. Belkind, vielleicht ein origineller Kopf, aber kein
Wissenschaftler, stellte die rein spekulative Behauptung auf, die im
Land lebende arabische Bevölkerung sei "ein Teil unseres Volkes" und
"unser Fleisch und Blut" (S. 278). Als Beweis diente ihm unter anderem
die Beobachtung, "die besondere Mentalität" der Araber "erinnere [...]
sehr an das Benehmen der hebräischen Erzväter" (also der biblischen
Gestalten Abraham, Isaak und Jakob).

Diese Ethnoromantik folgte, wie Shlomo Sand darlegt, einem klaren
erkenntnisleitenden Interesse: in bester orientalistischer Tradition
waren Belkind und andere zionistische Vordenker (der prominenteste war
der junge David Ben Gurion) überzeugt, dass die angebliche
Blutsverwandtschaft von Juden und palästinensischen Arabern "die
Aufnahme der [zionistischen] Siedler durch die eingesessene Bevölkerung
erleichtern würde. Da ihre Kultur auf einer niedrigeren Stufe stünde,
würden die [...] Fellachen sich schnell an die hebräischen kulturellen
Gepflogenheiten gewöhnen und schließlich völlig in ihnen aufgehen" (S.
279). Nachdem sich diese Erwartung als strategischer und grundsätzlicher
Irrtum erwiesen hatte (die zionistische Besiedlung beschleunigte
vielmehr die Entstehung eines modernen arabischen Nationalismus, der die
Juden als "das Andere" benutzt), wandten sich ihre Urheber von ihr ab.
Nach den arabischen Aufständen in den 1920er-Jahren war von den
Fellachen als den Abkömmlingen konvertierter antiker Juden keine Rede
mehr. Die gesamte Diskussion entbehrt so, wie sie Sand selektiv
darstellt, der empirischen Grundlage.

Dabei existieren einige ernstzunehmende Belege, die Sand heranziehen
könnte. Sie kommen von einer ganz anderen Seite: der
Populationsgenetik.[2] Tatsächlich gibt es signifikante genetische
Gemeinsamkeiten von Palästinensern und Juden, die sie nicht mit anderen
teilen. Die Forschung auf diesem Gebiet ist noch jung und ihre Rezeption
in der Allgemeinheit ist stark behindert durch die Tatsache, dass
Naturwissenschaft auf populäre Darstellungen angewiesen ist, um Laien
verständlich zu sein. Einiges ist dennoch "übersetzt" worden.[3] Dass
Sand diese Publikationen ignoriert, mag an einem prinzipiellen
methodischen Problem liegen, das man als die Crux des gesamten cultural
turn bezeichnen könnte: Was ist, wenn das hypostasierte kulturelle
Konstrukt selber eines ist? Oder anders gefragt: Wie viel Respekt
schuldet die Geschichts- der Naturwissenschaft?

Nach den bisherigen Ergebnissen der Populationsgenetik ist das "jüdische
Volk" womöglich tatsächlich mehr als nur ein kulturelles Konstrukt. Es
gibt genetische Gemeinsamkeiten von jüdischen Populationen auf der
ganzen Welt (aschkenasische und sefardische), die den vorsichtigen
Schluss auf gemeinsame Vorfahren bis in die Zeit des Babylonischen Exils
zulassen.[4] Es gab auch immer wieder genetische "Beimischungen", die
entweder durch Konversionen zum Judentum oder durch "Mischehen"
erklärlich sind. Es könnte möglicherweise sogar nachweisbare
"chasarische" Gene bei einigen osteuropäischen Juden geben.[5] Und es
gibt eben Hinweise auf eine Verwandtschaft von Juden und
Palästinensern.

Mit anderen Worten: Für Sands Behauptungen über die "wahren"
historischen Ursprünge sowohl des jüdischen (zum Judentum konvertierte
Heiden) als auch des palästinensischen Volkes (zum Islam konvertierte
Juden) gibt es naturwissenschaftliche Belege. Aber in seinem
manichäischen Weltbild, in dem es entweder nur "reine" Juden oder eben
nur Konvertiten geben kann, ist für ein "Mischvolk" kein Platz. Das ist
umso unverständlicher, als Sands eingestandenes, wortreich dargelegtes
erkenntnisleitendes Interesse, dass Israel sich nicht länger als eine
ethnische, sondern als politische Nation aus gleichberechtigten Bürgern
definieren soll, dass seine Existenzberechtigung einfach in seiner
Existenz begründet ist und nicht in einer mythischen "Heimkehr",
zumindest der Rezensentin vollkommen einleuchtet. Aber wenn dieses
respektable Ziel von solchen Publikationen gestützt wird, bleibt nur das
bekannte Bonmot, dass, wer solche Freunde hat, keine Feinde braucht.

Anmerkungen:
[1] So z.B. unter dem Stichwort "History", in: Encyclopaedia Judaica, 2.
Aufl., Bd. 9, S. 163-285, Detroit 2007.
[2] Populärwissenschaftlich dargestellt z.B. bei Jon Entine, Abrahams's
Children, New York 2007, S. 332 und passim.
[3] Siehe neben Entine auch David Goldstein, Jacob's Legacy. A Genetic
View of Jewish History, New Haven 2008.
[4] Doron Behar u.a., The genome-wide structure of the Jewish people,
in: Nature, 466 (7303), (8. Juli 2010), S. 238-242; Gil Atzmon u.a.,
Abraham's Children in the Genome Era: Major Jewish Diaspora Populations
Comprise Distinct Genetic Clusters with Shared Middle Eastern Ancestry,
in: The American Journal of Human Genetics 2010 86, S. 850-859.
[5] Goldstein (wie Anm. 3), Kap. 3.