Suche Sortierung nach Monatsdigest
2011/05/22 21:23:33
Rolgeiger
[Regionalforum-Saar] Rezension "Medienlandschaft Saar. von 1945 bis in die Gegenwart"
Datum 2011/05/26 17:59:40
Rolgeiger
[Regionalforum-Saar] Wo die Saar am schönsten is t.
2011/05/01 18:46:23
Rolgeiger
[Regionalforum-Saar] Die Erfindung des jüdischen Volkes
Betreff 2011/05/15 12:43:53
Rolgeiger
[Regionalforum-Saar] Eisenbahn nach Bingerbrück
2011/05/22 21:23:33
Rolgeiger
[Regionalforum-Saar] Rezension "Medienlandschaft Saar. von 1945 bis in die Gegenwart"
Autor 2011/05/26 17:59:40
Rolgeiger
[Regionalforum-Saar] Wo die Saar am schönsten is t.

[Regionalforum-Saar] eine frage der ehre

Date: 2011/05/23 22:02:20
From: Rolgeiger <Rolgeiger(a)...

Speitkamp, Winfried: Ohrfeige, Duell und Ehrenmord. Eine Geschichte der
Ehre. Stuttgart: Reclam 2010. ISBN 978-3-15-010780-5; geb. mit
Schutzumschlag; 366 S.; EUR 24,95.

Rezensiert für H-Soz-u-Kult von:
Florian Kühnel, Exzellenzcluster "Religion und Politik in den Kulturen
der Vormoderne und der Moderne", Westfälische-Wilhelms-Universität
Münster
E-Mail: <florian.kuehnel(a)... Buch will zeigen, was Menschen unter Ehre verstanden haben und
warum sie ihnen wichtig war. Es ist ein Buch über die Unvermeidlichkeit
von Ehrvorstellungen" (S. 22). So umreißt Winfried Speitkamp sein
Programm. Um die kulturübergreifende Bedeutung von Ehre aufzuzeigen,
analysiert er ihren Entwicklungsverlauf von den homerischen Epen bis in
die moderne Nachkriegsgesellschaft. Dabei geht es ihm nicht zuletzt
darum, das weit verbreitete Narrativ eines mit Beginn der Moderne
zunehmenden Bedeutungsverlusts der Ehre zu relativieren. Es versteht
sich von selbst, dass eine derart dimensionierte Untersuchung in erster
Linie auf Basis von Fachliteratur durchgeführt werden konnte.

Speitkamp beginnt seine Untersuchung mit einem Exkurs, einer "Geschichte
der Ohrfeige". Als Mittel der Demütigung bedeute der physische Akt der
Ohrfeige vor allem einen Angriff auf die Ehre. Wegen der
kulturübergreifenden Bedeutung von Ehre sei daher die Ohrfeige eine
"zeitübergreifende und offenbar auch transkulturelle Praxis" (S. 67).
Doch während die Ohrfeige in der Vormoderne dazu gedient habe,
ständische Hierarchien zu reproduzieren (S. 33f.), könne sie in der
modernen Gesellschaft dazu in der Lage sein, soziale Hierarchien
umzukehren (S. 62ff.).

Der chronologisch erste Teil widmet sich der Entwicklung der Ehre bis
ins 19. Jahrhundert, beginnend mit dem "Anfang aller Deutung" (S. 71),
der Ilias. In der homerischen Gesellschaft sei Ehre hauptsächlich agonal
angelegt gewesen, bevor sich unter dem Einfluss griechischer Philosophie
und des Christentums Vorstellungen von innerer Ehre ausgebildet hätten.
In Mittelalter und Früher Neuzeit sei Ehre weiterhin der grundlegende
Bezugsrahmen geblieben, auch wenn sich für die verschiedenen sozialen
Gruppen in der sich ausdifferenzierenden Gesellschaft unterschiedliche
Ehrvorstellungen entwickelten. Im Zuge des Individualisierungsprozesses
hätten dann zunehmend Formen von individueller und innerer Ehre an
Bedeutung gewonnen.

Im darauf folgenden Abschnitt wendet sich Speitkamp der Kultur der Ehre
im 19. Jahrhundert zu. Dabei sieht er in der 'Verbürgerlichung' des
Duells einen deutlichen Hinweis auf die Herausbildung eines allgemeinen
bürgerlichen Ehrbegriffes, der nicht mehr nach ständischen Grenzen
differierte. Gleichzeitig, so Speitkamp, sei die Vorstellung von Ehre
mit Beginn der Kriege gegen Napoleon immer stärker auf 'die Nation'
ausgeweitet worden, bis sie schließlich im Versailler Vertrag in "die
niederschmetternde Empfindung absoluter nationaler Schmach" gemündet sei
(S. 160). Trotz verschiedentlich vorgebrachter Kritik am Kult der Ehre
sei ihre grundsätzliche Geltung jedoch niemals in Zweifel gezogen
worden.

Im Zeitalter der Weltkriege habe sich dann ein regelrechter Ehrenkult
entwickelt. Allerdings sei die individuelle Ehre nahezu vollständig von
der kollektiven Ehre einer abstrakten Gemeinschaft abgelöst worden. Nur
die Teilhabe an Ehre habe die "Integration in den Staat" ermöglicht,
wodurch im Gegenzug der Entzug von Ehre zum "Ausschluss aus der
Gemeinschaft" geführt habe (S. 203). Die Kennzeichnung jüdischer Bürger
mit einem gelben Stern sei so "gewissermaßen das Gegenteil der Ehrung"
gewesen (S. 203).

Rufen die teilweise etwas schematischen Aussagen über 'die Ehre' bis zu
dieser Stelle im Buch allenfalls eine gewisse Skepsis hervor, so stellt
sich bei der Charakterisierung der Behandlung der Juden im
Nationalsozialismus als "Schmähung und Entehrung" (S. 203) ein
wirkliches Unbehagen ein. Es erscheint doch fraglich, ob dieser Aspekt
der Geschichte angemessen mit Begrifflichkeiten von Ehre und Ehrentzug
beschrieben werden kann. Das Problem wird auch nicht dadurch behoben,
dass Speitkamp Ehrkonflikte im 'Dritten Reich' als eine "reale soziale
und politische Praxis" von teilweise "existenzieller Bedeutung"
beschreibt - zumal er mit der Abgrenzung und Abqualifizierung von
Ehrkonflikten anderer Zeiten als "bloß symbolische" (ebd.) die
grundlegende gesellschaftliche Bedeutung symbolischer Kommunikation für
die beteiligten Akteure verkennt.

Insgesamt bleibt offen, was als 'Ehre' verstanden wird. Speitkamp selbst
stellt die Frage, wie Ehre gleichzeitig "Gegenstand der Untersuchung"
und "analytische Kategorie" sein kann (S. 12), gibt hierauf aber keine
Antwort. Explizit wendet er sich gegen einen Kulturrelativismus, der von
der "soziokulturellen Bedingtheit von Werten und Normen" ausgeht (S.
281, ähnlich S. 319). 'Ehre' sei, wenn schon keine anthropologische, so
doch wohl zumindest eine "empirisch feststellbare soziale Konstante" (S.
17, ähnlich S. 319), auf die keine Gesellschaft verzichten könne (S.
315). Zur gleichen Zeit sei 'Ehre' aber auch ein "offenes, wandelbares
kulturelles Konzept" (S. 22), dessen "Inhalte" sich ständig änderten (S.
67, 139, 314): "Ehre ist ein Chamäleon. [...] Ständig wechselt sie nicht
nur die Farbe und das Aussehen, sondern auch den Inhalt und den Namen.
Und doch geht es im Kern um dasselbe." (S. 319) Was aber diesen Kern
ausmacht, wird nicht klar. An verschiedenen Stellen im Verlauf des
Buches bleibt fraglich, warum bestimmte kulturelle Praktiken unter die
Kategorie 'Ehre' fallen, andere aber nicht. Speitkamp lässt daher in
Bezug auf die Ehre auch bewusst offen, "was immer man darunter konkret
versteht" (S. 10f., ähnlich S. 320).

In anderen Passagen hingegen arbeitet er sehr sorgfältig gegen gängige
Klischees an. Dies ist besonders im Abschnitt über die Ehre von
Migranten in Deutschland der Fall. Dem gängigen Deutungsmuster nach
würden fremde, häufig mediterrane Ehrvorstellungen "quasi nach
Deutschland importiert" und gerieten dann mit westlichen Werten in
Konflikt. Die Probleme, beispielsweise Ehrenmorde an Geschwistern,
resultierten demnach aus der Unvereinbarkeit zwischen archaischen und
modernen Kommunikationscodes. Zu Recht kritisiert Speitkamp, dass die
Verwendung des Ehrbegriffs in der Öffentlichkeit in diesem Zusammenhang
"nicht sehr sorgfältig" bzw. "zu plakativ" sei (S. 275f.). Denn bei der
'Migrantenehre' handle es sich gerade nicht um ein traditionales Relikt
aus einer eigentlich längst vergangenen Welt, "sondern [um] ein neues,
hybrides Produkt" (S. 269). Diese spezifischen Ehrvorstellungen mit
ihren oft äußerst gewalttätigen Konsequenzen seien eine Folge der
kulturellen Unsicherheit bzw. der "Grenzsituation zwischen den
Kulturen", in der sich viele Migranten befänden. Sie resultierten damit
aus einer "spezifische[n] Konstellation der Moderne" (S. 277) und hätten
also "weit mehr mit der Gegenwart als mit Tradition und Vergangenheit zu
tun" (S. 268).

Mit diesen Abschnitten führt Speitkamp deutlich vor Augen, wie wichtig
es ist, 'Ehre' in historischer Perspektive differenziert zu betrachten.
Das Beziehungsgefüge, in das Ehrpraktiken eingebunden sind, ist in aller
Regel zu komplex, als dass man ihm mit eindimensionalen Erklärungen
gerecht werden könnte. Gleichzeitig zeigt das Buch aber auch, welche
Grenzen dem Versuch, "[e]ine Geschichte der Ehre" zu schreiben, gesetzt
sind. Trotz der vielen interessanten Denkanstöße, die es liefert, bleibt
das Problem bestehen, dass es nicht möglich ist, 'die Ehre' als
überzeitliche Konstante zu untersuchen.


Diese Rezension wurde redaktionell betreut von:
Ewald Frie <ewald.frie(a)... zur Zitation dieses Beitrages
<http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/2011-2-151>

------------------------------------------------------------------------
Copyright (c) 2011 by H-Net, Clio-online, and the author, all rights
reserved. This work may be copied and redistributed for non-commercial,
educational purposes, if permission is granted by the author and usage
right holders. For permission please contact H-SOZ-U-KULT(a)... Sie Fragen oder Anmerkungen zu Rezensionen haben, dann schreiben
Sie bitte an die Redaktion von H-Soz-u-Kult:
<hsk.redaktion(a)...   HUMANITIES - SOZIAL- UND KULTURGESCHICHTE
           H-SOZ-U-KULT(a)... hsk.redaktion(a)...   http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de
_________________________________________________