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[Regionalforum-Saar] Der Schuh im Nationalsozialismus

Date: 2011/05/09 22:52:15
From: Rolgeiger <Rolgeiger(a)...

 
Sudrow, Anne: Der Schuh im Nationalsozialismus. Eine Produktgeschichte
im deutsch-britisch-amerikanischen Vergleich. Göttingen: Wallstein
Verlag 2010. ISBN 978-3-8353-0793-3; 876 S.; EUR 69,90.

Rezensiert für H-Soz-u-Kult von:
Christof Dipper, Technische Universität Darmstadt
E-Mail: <dipper(a)... diese Idee muss man erst einmal kommen. Gibt es für Historiker etwas
Banaleres als Schuhe, um den Charakter des Nationalsozialismus zu
entschlüsseln? Geht das überhaupt? Ja, es geht, und es geht sogar ganz
großartig, jedenfalls wenn man so viel Einfallsreichtum, Sorgfalt und
Mühe aufwendet wie Anne Sudrow, die dafür 2010 zu Recht mit dem Preis
des Historikerverbandes ausgezeichnet worden ist.

Anne Sudrow hat sich, ungewöhnlich genug, einen Gegenstand der
materiellen Kultur in der Zeit des Nationalsozialismus ausgesucht, und
dabei den modischen Lockungen der Geschichte der Bilder, Zeichen und
Meinungen widerstanden, die neuerdings ja auch - und oft mit Gewinn, wie
man einräumen muss - im Bereich der Technikgeschichte um sich greifen,
aus dem sie herkommt. Ihr ist es gelungen, mit dem banalen Thema 'Schuh'
wesentliche Seiten des Nationalsozialismus bzw. "Dritten Reiches"
anzusprechen, denn zur wohl allgemeinen Überraschung ist die
Produktionsgeschichte des Schuhs mit der expansionistischen und
genozidalen Politik der Nationalsozialisten untrennbar verbunden.
Insofern lassen sich am Alltagsgegenstand 'Schuh' nicht nur technik-,
wissenschafts- und konsumgeschichtliche Fragen klären, sondern auch die
Schattenseiten des nationalsozialistischen Modernisierungsprozesses und
die Ambivalenz der Moderne diskutieren. Und genau dies tut Frau Sudrow
in außergewöhnlich kundiger Weise. Sie kennt sich in allen für ihr Thema
relevanten Theoriefeldern bestens aus und demonstriert scheinbar
anstrengungslos, dass man, um über Produktion und Konsum von Schuhen
zwischen 1933 und 1945 angemessen schreiben zu können, so weit
auseinander liegende Bereiche wie kulturgeschichtliche Interpretamente
mit gründlichen Kenntnissen chemischer Prozesse, technischer Verfahren
und wirtschaftspolitischer Entscheidungskriterien verbinden muss. Das
bedeutet, dass sie, wie sie schreibt, letztlich eine politische
Geschichte ihres Gegenstandes liefern will und dafür eine entschieden
akteurszentrierte Perspektive wählt, die sie im Interesse einer
methodisch sauberen Urteilsbildung auch noch dem Vergleich mit
Großbritannien und den USA unterwirft.

Das Buch ist in vier Teile untergliedert, die den Vorbedingungen, den
wissensmäßigen Kernbereichen des Wandels - Verwissenschaftlichung -
zwischen 1933 und 1945, der Versorgungspolitik und Produktionslenkung im
Nationalsozialismus und abschließend den Fragen nach Vergleich und
Transfer gelten, denen sie sogar bis 1950 nachgeht. Da ihr Ansatz quer
zu den herkömmlichen Disziplinen liegt, ist der Rechercheaufwand
ungeheuer. Wer kommt etwa auf den Gedanken, Material zu diesem Thema im
Freiburger Militärarchiv zu suchen? Es liegt dort reichlich.[1] Um die
Produktionsgeschichte nachzeichnen zu können, sah sich Frau Sudrow nicht
nur das Firmenarchiv von Salamander an, sondern auch das von Bata, dem
wichtigsten Konkurrenten, in Zlin. Für die Wissensgeschichte nur der
deutschen Seite arbeitete sie natürlich die Überreste der
Vierjahresplanbehörde und der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft durch, aber
eben auch die nahezu unbekannten BIOS- und FIAT-Reports der Engländer,
die unmittelbar nach Kriegsende die deutschen Wissenschaftler in
Internierungslagern zwangen, über das zu berichten, was sie in den
vergangenen zwölf Jahren erforscht haben. Für ihren Vergleich suchte
sie, um nur ein paar für Historiker zunächst einmal abseitige Fundorte
zu nennen, das Archiv der "Society of Plastics Industry" und der "Ayers
Advertising Agency" in Nordamerika auf. Und natürlich las sie die
Schuhfabrikanten-Zeitung ebenso wie das "Monthly Bulletin of the British
Boot, Shoe and Allied Trades Association". Um einen authentischen
Eindruck von dem zu erhalten, was sich auf der mörderischen
Schuhprüfstrecke im KZ Sachsenhausen abgespielt hat, interviewte sie
überlebende Häftlinge. Fast am Rande versteht sich, dass unter diesen
Umständen die Literaturliste gigantisch ist: sie umfasst gut und gerne
achthundert Titel - für eine Dissertation! Aber die TU München ist eben
nicht Bayreuth.

Im hinführenden Teil erfahren wir zunächst etwas über die Grundmuster
des Schuhgebrauchs in den 1920er- und frühen 1930er-Jahren. Die beiden
wichtigsten Entwicklungstrends waren die Einführung des Halbschuhs und
der Übergang zum modischen Gebrauch, vor allem bei Frauen und jungen
Menschen - und dies in einer Zeit, in der selbst in Deutschland von
einer Vollversorgung der Bevölkerung mit Schuhen noch nicht wirklich die
Rede sein konnte. Damals wurde auch der Welthandel mit Schuhen, die
darum zu Marken werden mussten und in standardisierten Größen
hergestellt wurden, durchgesetzt. Bata und Bally haben das im
Wesentlichen besorgt. Das gelang ihnen, weil sie den Produktionsprozess
auf Maschinen, die fast ausnahmslos aus den USA kamen, umstellten, was
zur Folge hatte, dass angesichts der gleichartigen technischen Verfahren
die Wettbewerbsvorteile eher von Absatzstrategien und Markt- sowie
Seriengröße abhing. Gleichzeitig brachte der Übergang zum modischen
Schuh bislang unbekannte Risiken, die die Hersteller umso mehr
beklagten, als sie keinen Einfluss auf die Mode hatten, denn diese wurde
in Paris, Wien und Rom gemacht. In Deutschland etwa erlangte erst durch
die Abschnürung vom Weltmarkt die innerbetriebliche Produktgestaltung an
Bedeutung. Da gleichzeitig aber Leder größtenteils importiert werden
musste, lag es nahe, diesem Rohstoff nun besondere Aufmerksamkeit
zuzuwenden.

Die Nationalsozialisten standen also mit ihrer Autarkiepolitik auch und
gerade beim Massenprodukt Schuh vor riesigen Problemen, die sie im
Ganzen zwar erfolgreich lösten, aber eben auf ihre Weise. Beim Leder
gelang die Schließung der Lücke letzten Endes nur durch Eroberung und
Ausbeutung sowie durch die Umstellung auf teils brauchbare, teils
zukunftsfähige - Gummi - Ersatzstoffe. Auch hier schlug deshalb 1933 die
Stunde der chemischen Industrie, die das herzustellen suchte, was unter
labormäßigen Bedingungen von Forschungsinstituten erforscht worden war.
Der Wissenszuwachs beim Leder bzw. dem, was es ersetzen sollte, war
deshalb in diesen zwölf Jahren ungeheuer; schon 1936 fanden die ersten
vollsynthetischen Kunststoffe Verwendung in Schuhen, die bisher fast
ausschließlich aus Leder bestanden. Für deren experimentelle Erprobung
durch das Militär sorgte die Vierjahresplanbehörde ebenso wie für die
Finanzierung der Forschung, so dass im Ergebnis der Schuh ebenfalls
einem Verwissenschaftlichungsprozess, und zwar auf vier Feldern
(Zweckmäßigkeit, Gebrauchswert, Passform und Verbrauch), unterlag.
Versorgungspolitik und Produktionslenkung unterlagen à la longue typisch
nationalsozialistischen Bedingungen, insofern alles Gerede über
Rücksichten auf Mode und Imperative der Exportsteigerung der
Uniformierung großer Teile der (männlichen) Bevölkerung zum Opfer fiel.
Der Stiefel besaß folglich höchste Priorität, aber selbst in diesem
Bereich hatte die Rationalisierung ihre Grenzen, weil aus Gründen des
Distinktionsgewinns Wehrmacht, SS, SA und RAD auf je eigenen Modellen
beharrten und zugleich verhinderten, dass diese aus anderem Material als
Leder gefertigt wurden. Die Hierarchie war damit auch bei der
Fußbekleidung klar: Nach den Uniformierten kamen die männlichen
Zivilisten, dann die Frauen und Kinder, und wer außerhalb der
'Volksgemeinschaft' stand - dazu gehörte auch das besetzte Europa -,
litt unter extremem Mangel und verheerender Qualität.

Bei der Erhebung des Gebrauchswerts sank die Forschung dann aber auf
dasselbe Niveau moralfreier Tests wie die Medizin, indem sie sich
bedenkenlos der "Schuhprüfstrecke" im KZ Sachsenhausen bediente, wo die
Häftlinge reihenweise zu Tode kamen oder ermordet wurden. Aber mit der
Moral gab die Forschung auch gleich noch die wissenschaftliche Vernunft
preis, denn dass es bei Strafe verboten war, die 'Testpersonen' sich
subjektiv äußern zu lassen, ja dass die Firmen nicht einmal
kontrollierten, ob diese die passende Schuhgröße erhielten, machte die
Qualität der Testergebnisse auch in dieser Hinsicht fragwürdig. Einen
Nutzen hatten gleichwohl Konzerne wie Freudenberg und Salamander,
beispielsweise weil sie "im letzten Kriegsjahr" als Folge der Speerschen
Rüstungspolitik "de facto unter sich [entschieden], was produziert und
welche Unternehmen der Branche ausgeschaltet wurden" (S. 554). Für ihre
Entscheidungen benötigten sie eine wie auch immer beschaffte
wissenschaftliche Legitimation. Aber die Geschichte ging noch weiter.
Weil sich die Alliierten 1945/46 von Freudenberg und anderen hinters
Licht führen ließen, übernahmen sie von den Deutschen das System der
Trageversuche und machten es zum zentralen Gegenstand ihres
Methodenkanons, das noch Ende der 1960er-Jahre jeder mechanischen
Prüfung als überlegen galt. Insofern, schließt Sudrow ihr Buch, waren
die Menschenversuche im KZ Sachsenhausen "ein durchaus funktionaler und
erschreckend effektiver Bestandteil moderner Wissenschaft in Deutschland
im 20. Jahrhundert" (S. 786).

Sudrows Buch ist ein Musterbeispiel gelungener Technikgeschichte gleich
in mehrfacher Hinsicht. Erstens lenkt sie den Blick auf einen
Alltagsgegenstand und demonstriert an diesem vorbildlich Aspektreichtum
und Methodenvielfalt. Zweitens ist ihr Hinweis wichtig, dass
Alltagsgegenstände immer auch eine politische Seite haben. Für das Salz
in der Frühneuzeit mag das noch ein Randthema sein, für das 20.
Jahrhundert gilt es diese Tatsache zu respektieren. Drittens schließlich
bringt sie ganz nebenbei und behutsam eine Korrektur an der
einflussreichen These ihres Mitbetreuers Ulrich Wengenroth von der
"Flucht in den Käfig" durch deutsche Techniker und Wissenschaftler als
Folge der Autarkiepolitik an. Nicht nur das hier als einziges genannte
Beispiel ist ein Gegenbeweis. Man kann wohl insgesamt sagen, dass die
intensive Erforschung der Kunststoffe zwischen 1933 und 1945 der
deutschen Chemie wohl bis in die 1960er-Jahre einen internationalen
Vorsprung verschafft hat. Die "Chemisierung der deutschen
Volkswirtschaft" (Werner Abelshauser) ist vielleicht die
zukunftsträchtigste Erbschaft wenn schon nicht der Nationalsozialisten,
so doch der nationalsozialistischen Zeit.

Anmerkung:
[1] Um nur einmal einen Blick in die komplexen und 'normalen'
Historikern unbekannten Zusammenhänge zu erlauben, denen Anne Sudrow
nachgegangen ist, sei folgendes Beispiel aufgeführt: Im Oberkommando der
Wehrmacht gab es u.a. ein Referat "Leder und Rauchwaren", dessen Leiter
Fritz Stather war, der aus dem Kaiser-Wilhelm-Institut für
Lederforschung in Dresden hervorgegangen war, seit 1930 Direktor der
Deutschen Versuchsanstalt für Lederchemie in Freiberg/S. und seit 1935
Ordinarius an der TH Dresden; 1958 Mitglied der Sächsischen Akademie der
Wissenschaft. Stather erhielt 1942 das Kriegsverdienstkreuz 1. Klasse
für seine Verdienste um den Leder-Ersatz (vgl. Sudrow, S. 385, Anm. 149)
und war, wenn auch nicht führend, an Trageversuchen im KZ beteiligt
(ebd., S. 543). Einen besseren Fachmann konnte das Militär nicht finden.

Diese Rezension wurde redaktionell betreut von:
Dirk van Laak <dvanlaak(a)... for citation of this contribution
<http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/2011-2-094>

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