In einer eMail vom 05.10.2010 19:06:39 Westeuropäische Sommerzeit schreibt
hsk.mail(a)...
From: Matthias Hardt
<hardt(a)... 06.10.2010 Subject:
Rez. MA: J. Oberste: Der Schatz der
Nibelungen ------------------------------------------------------------------------
Oberste,
Jörg: Der Schatz der Nibelungen. Mythos und Geschichte. Bergisch Gladbach:
Lübbe 2008. ISBN 978-3-7857-2318-0; Gebunden; 304 S.; EUR
19,95.
Rezensiert für H-Soz-u-Kult von: Matthias Hardt,
Geisteswissenschaftliches Zentrum und Kultur Ostmitteleuropas Leipzig,
GWZO E-Mail: <hardt(a)... und
Stoffgeschichte des Nibelungenliedes faszinieren trotz lang anhaltender
ideologischer Instrumentalisierung im 19. und 20. Jahrhundert weite Kreise
bis zum heutigen Tag. Jörg Oberste, Professor für mittelalterliche
Geschichte an der Universität Regensburg, nimmt die deutlichen
Nibelungen-Anklänge in Tolkiens "Herr der Ringe" zum Anlass, in einem
"Artur und allen kleinen Rittern und Prinzessinnen" gewidmeten Buch, das
auch als Begleitbuch einer Fernsehserie der ARD diente, "Mythos und
Geschichte" im Nibelungenlied darzustellen und dabei den aktuellen
philologischen, historischen und archäologischen Forschungsstand zu
berücksichtigen. Der "Staatsschatz der Nibelungen", der im Epos des
Passauer Dichters aus der Zeit um 1200 die beiden Hauptteile um "Siegfried
und Brünhild" und den "Nibelungenuntergang" zusammenhält, dient auch Jörg
Oberste nur als spektakulärer Titel seines Buches, denn in dem locker und
ohne wissenschaftlichen Apparat geschriebenen Band wird der Versuch
unternommen, die schwer zu durchschauenden, aus nordischen Mythen, der
Geschichte der Völkerwanderungs- ebenso wie der Stauferzeit entnommenen und
weiter entwickelten Handlungsstränge, ihre Überlieferung hin zum
Nibelungenlied und schließlich dessen Rezeptionsgeschichte bis zur
Gegenwart verständlich zu machen.
Nach einer Einführung (Spurensuche
- Der lange Weg der Nibelungen, S. 8-27) stellt Jörg Oberste "Runensteine
und Heldenlieder - die ältesten Spuren der Nibelungen" vor (S. 28-69). Es
sind zunächst szenische Darstellungen auf Runensteinen, Stabkirchen und
Grabbeigaben, die aufgrund späteren Kenntnisstandes als Abbildungen
nibelungischen Stoffes interpretiert werden können. Sie gehen, wie wohl
auch die erst im 13. Jahrhundert aufgezeichneten, aber deutlich älteren
Lieder um Atli und Sigurd in der Lieder-Edda, bis ins 9. Jahrhundert
zurück, in die gleiche Zeit, als auf dem Kontinent mit dem Hildebrandslied
und dem lateinischen Waltharius-Epos und etwas später in England mit dem
Beowulf verschriftlichte Heldendichtung feststellbar ist.
Aus diesen
"alten maeren" mündlicher, aber eben auch schon schriftlicher Überlieferung
schöpfte der Dichter des "mittelhochdeutsche[n] Nibelungenlied[es]", das im
Kapitel III in der Abfolge seiner 39 Aventiuren inhaltlich vorgestellt wird
(S. 70-125). Zwischen Siegfrieds Ankunft am mittelrheinischen Burgunderhof
und dem Untergang der in der zweiten Hälfte des Epos als Nibelungen
bezeichneten Burgunderkönige und ihres Heeres an der Residenz des
Hunnenkönigs Etzel breitet sich das ganze Spektrum einer Erzählung um
persönliche Bindungen und vasallitische Treue, Betrug, Mord und Rache aus
und gipfelt schließlich in Kriemhilds inzwischen völlig unzeitgemäß
gewordener Hortforderung. Dieses alte Element liedhafter Überlieferung vom
Burgundenuntergang ist für Jörg Oberste dann Anlass, seinem Buchtitel
angemessen, im IV. Kapitel die mythischen und heroischen Traditionen des
Nibelungenstoffes in Völkerwanderungs- und Merowingerzeit, vielleicht sogar
in der Römischen Kaiserzeit auszubreiten (Drachenschätze und
Völkerschlachten - Mythos und Geschichte in der Nibelungensage, S.
126-189).
Der von einer hunnischen Foederatenarmee in römischen
Diensten herbeigeführte Untergang des rheinischen Burgunderreiches in
den 430er-Jahren, Attilas Tod an der Seite Ildicos im Jahr 453 und
die Auseinandersetzungen zwischen den merowingischen Teilreichen in
der Mitte und der zweiten Hälfte des 6. Jahrhunderts sind der
geschichtliche Nährboden des Epos, daneben aber wohl auch schon Lieder um
den Sieg des Arminius in der Varusschlacht und seine Ermordung im Streit
mit den eigenen Verwandten. Aber nicht nur Heldenlieder und Mythen, die
Oberste etwas allgemein als "Erzählungen aus der Vorzeit einer
Gemeinschaft" definiert, sondern auch zahlreiche Anleihen aus der höfischen
Kultur der Kreuzzüge und der Stauferzeit haben Eingang in die
nibelungischen Dichtungen gefunden wie lokale Umdeutungen und regionale
Anpassungen.
Aus diesem Grund befasst sich der Autor im V. Kapitel mit
den von den unterschiedlichen Ausformungen der Dichtung präsentierten Orten
der Handlung (Attila in Soest - Schauplätze und
lokale Nibelungen-Traditionen, S. 190-245). Den westfälischen Ort
Soest präsentiert die norwegische Thidrekssaga aus dem späten 13.
Jahrhundert als Schauplatz des Nibelungenuntergangs, inspiriert
wahrscheinlich durch Erzählungen niederdeutscher hansischer Kaufleute. Man
braucht deshalb nicht wie Heinz Ritter-Schaumburg phantasiereich die
Nibelungen nordwärts ziehen lassen; vielmehr wird daran zu denken sein,
dass in die im nördlichen Deutschland erzählten Versionen des
Nibelungenstoffes örtliche Namen und Verkehrswege Eingang gefunden
hatten. "Regionalisierungen dieser Art sind für mittelalterliche
Erzählungen nicht untypisch, da sie als Identifikationsangebot für die
Hörer und Leser solcher Dichtungen verstanden werden können." (S. 203)
Xanten und Worms gehören in ältere Ebenen der Stoffgeschichte, ohne dass
ihr Zusammenhang mit den Anfängen sicher ist. Die Identifizierung
jenes Tronje, aus dem der Mörder Siegfrieds kam, schwankt zwischen
der Herleitung von fränkischen Troja-Mythen und den Sitzen
staufischer Reichsministerialer. Die zahlreichen Lokalisierungen der
Brunnen im Odenwald, an denen Siegfried ermordet worden sein soll, sind
dagegen erst in den vergangenen beiden Jahrhunderten vorgenommen
worden.
Damit ist bereits der Zugang zum letzten Kapitel (Macht der
Mythen - die moderne Suche nach den Nibelungen, S. 246-291) erreicht, in
dem der Umgang mit dem Nibelungenstoff seit der frühen Neuzeit geschildert
wird. Das von einem Regensburger Geistlichen verfasste Kudrun-Epos,
ein "gescheiterter Versuch der Höfisierung" des Nibelungenstoffes (S.
248) und die Volksbücher der frühen Neuzeit waren wie die nach
der Wiederauffindung der drei bis heute maßgeblichen Handschriften
des Nibelungenliedes im 18. Jahrhundert einsetzenden
Bühneninszenierungen, unter denen Friedrich Hebbel und Richard Wagner
besonders hervorgehoben werden müssen, Bemühungen um die Bewältigung der
epischen Erzählung. Nicht erst durch den Bayreuther Spielbetrieb, von
diesem aber ebenso wie durch Fritz Langs filmische Inszenierung befördert,
erhielt die Nibelungentreue Eingang in die Kriegsrhetorik, die in Hermann
Görings Nibelungenrede vom Januar 1943 mit Bezugnahme auf die in
Stalingrad eingeschlossene 6. Armee und die von Wagners Trauermarsch
umrahmte Rundfunkmeldung vom Tod Adolf Hitlers am 30. April 1945 ihre
Höhepunkte fand. Bayreuth spielte schon 1951 wieder und versucht sich bis
heute an modernen Zugängen zum Ring der Nibelungen.
Am Ende seiner
Darstellung heißt es bei Jörg Oberste: "Auf den Spuren der Nibelungen lässt
sich die Geschichte von Jahrhunderten aufspüren, die Hoffnungen und Ängste
von Menschen, die verbindende und zerstörerische Kraft von Mythen, die
Chancen und Grenzen der Wissenschaften, die verschlungenen Wege durch das
schattenhafte Gestern und durch das vielschichtige Heute" (S. 291). Dies zu
zeigen, ist dem Autor wirklich gelungen, denn das Buch enthält weit mehr,
als der lediglich auf den Nibelungenschatz bezogene Titel andeutet. Nahezu
alle Aspekte der Nibelungen-Forschung sind in dem
populärwissenschaftlich geschriebenen Band angesprochen worden. Ob Jörg
Oberstes lockere Art zu schreiben jedoch den schwierigen Stoff wirklich den
oft vielleicht noch jugendlichen Lesern näher zu bringen vermag, darf
mindestens bezweifelt werden. Auf jeden Fall geht dieser Stil auf Kosten
der Qualität. Da ist von "hunnischen Verdrängungskämpfen gegen germanische
Völker" (S. 236) die Rede, wo solche Gentes in eine reiternomadische
Herrschaft integriert wurden, oder dem angeblich im Auftrag Friedrich
Barbarossas vom Kölner Erzbischof Philipp von Heinsberg aus Mailand nach
Köln entführten Dreikönigsschrein, "wo er bis heute eine
wesentliche Attraktionen des Kölner Doms ist" (S. 220), was eben nur die
Reliquien betrifft, nicht aber den Schrein, der erst in Köln angefertigt
wurde.
Die archäologischen Kenntnisse von Jörg Oberste sind überhaupt
bisweilen grenzwertig. Das Pektorale aus dem Grabfund im
mittelrheinischen Wolfsheim mit der inschriftlichen Nennung des
sassanidischen Königs Ardaschir ist für ihn Zeugnis eines "Fernhandel[s]
mit Luxuswaren" (S. 170), obwohl hier eher an persönliche Beziehungen und
Gabentausch auf verschiedenen Ebenen und unbekannten Wegen zu denken ist,
vielleicht auch an jene tatsächlich iranischsprachigen Alanen, die wenige
Seiten später von Oberste jedoch als "germanisch" charakterisiert werden
(S. 173). Die angebliche Münze der Königin Brunichildis, die auf den
Seiten 178f. abgebildet wird, ist ein in Worms geschlagener Triens
des Münzmeisters Dodo, dessen Beziehung zu der merowingischen Königin
jedoch höchst spekulativ ist. Reich ausgestattete Gräber, zum Beispiel
solche mit goldbeschlagenen Reflexbögen aus dem hunnischen Bereich, sind
für Jörg Oberste häufig "Adelsgräber", obwohl anhand der Grabbeigaben nur
in den seltensten Fällen etwas über die Rechtsstellung der
Bestatteten ausgesagt werden kann (S. 174).
Während solche Aussagen
mit Oberstes geringem Kenntnisstand der aktuellen Fachdiskussion erklärt
werden können, sind weitere Fehler einfach nur ärgerlich: so soll Ammianus
Marcellinus der erste gewesen sein, der behauptete, Attila sei von Ildico
ermordet worden (S. 176), obwohl der spätantike Historiograph schon im Jahr
395, der Hunnenkönig aber erst 453 starb. Theoderich der Große soll wie
Aetius Geisel am Hunnenhof gewesen sein (ebd.), obwohl er erst nach der
Schlacht am Nedao im Jahr 454 wohl in Pannonien das Licht der Welt
erblickte. Tatsächlich war der spätere König der Ostgoten in jungen Jahren
Geisel am Kaiserhof in Byzanz. Auch bei den Abbildungen ist Oberste eine
Panne passiert: auf S. 235 wird nicht, wie der Bildtext angibt, die
arpadische Königsburg Gran gezeigt, sondern der in anderem Zusammenhang
erwähnte niederösterreichische Aggstein.
Das Buch, dem trotz dieser
Mängel eine zahlreiche Leserschaft zu wünschen ist, enthält insgesamt 115
Abbildungen sowie fünf Karten und wird durch eine Zeittafel (S. 292f.), ein
viel zu kurzes Literaturverzeichnis (S. 294-296) und ein ausführliches
Register (S. 297-303) abgeschlossen.
Diese Rezension wurde
redaktionell betreut von: Wolfgang Eric Wagner
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