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2024/09/02 17:46:53 gerald-sabine . linn [Regionalforum-Saar] (kein Betreff) |
Datum | 2024/09/02 20:54:13 Roland Geiger via Regionalforum-Saar [Regionalforum-Saar] „Chatbots sind kein N ürnberger Trichter“ |
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2024/09/13 07:45:11 Roland Geiger via Regionalforum-Saar [Regionalforum-Saar] Deportiert. |
Betreff | 2024/09/28 09:41:15 Roland Geiger via Regionalforum-Saar [Regionalforum-Saar] genealogisches Seminar Ende Oktober |
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2024/09/05 00:18:20 Robert Groß via Regionalforum-Saar Re: [Regionalforum-Saar] https://www.hfrg.de/index.php?id=1299 |
Autor | 2024/09/02 20:54:13 Roland Geiger via Regionalforum-Saar [Regionalforum-Saar] „Chatbots sind kein N ürnberger Trichter“ |
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Date: 2024/09/02 20:42:50
From: Roland Geiger via Regionalforum-Saar <regionalforum-saar(a)...
Ein deutscher Revolutionär im Amt. Carl Schurz
und der
Niedergang der Minderheitenrechte in den USA der 1870er-Jahre
Autor Julius Wilm
Reihe Dialektik des Globalen
Erschienen Berlin 2024: De
Gruyter Oldenbourg
Anzahl Seiten VI, 78 S., 9 SW-Abb.
Preis € 24,95
ISBN 978-3-11-143082-9
Rezensiert für H-Soz-Kult von Mischa Honeck, Geschichte
Großbritanniens und
Nordamerikas, Universität Kassel
Brauchen Demokratien Helden? Auf diese sehr grundsätzliche Frage
gibt die
exzellente Studie von Julius Wilm keine Antwort, wohl aber auf die
Frage, ob
unkritische Heroisierungen nicht den Weg zu einer
multiperspektivischen und
damit auch ehrlicheren Erinnerungskultur versperren. Wilm
veranschaulicht diese
Problematik am Beispiel des deutsch-amerikanischen Revolutionärs
Carl Schurz,
der im 19. Jahrhundert in seiner zweiten Heimat, den Vereinigten
Staaten von
Amerika, einen atemberaubenden Aufstieg erlebte. Von den Wogen der
fehlgeschlagenen europäischen Revolutionen von 1848 über den
Atlantik gespült
(Schurz entkam wie viele demokratische Aufständische nur knapp mit
dem Leben),
stieg der deutschstämmige Geflüchtete in nur zwei Jahrzehnten in
die höchsten Staatsorgane
der noch jungen USA auf. Er schloss sich der sklavereikritischen
Republikanischen Partei an, ging auf Geheiß Abraham Lincolns als
Botschafter
nach Spanien, nahm als Offizier in den Reihen der Union am
Bürgerkrieg teil und
wurde 1868 von den Wählern Missouris in den Senat geschickt. Den
Höhepunkt
seiner politischen Laufbahn erreichte Schurz 1876, als er den
Posten des
Innenministers im Kabinett von Präsident Rutherford B. Hayes
übernahm. Kein
Einwanderer vor ihm konnte auf eine solch steile Karriere
zurückblicken. Sie
begründete den Mythos des schillernden transatlantischen
Vorzeigedemokraten,
der bis in unsere Gegenwart nachhallt.
„Ein Deutscher Revolutionär im Amt“ knöpft sich diesen Mythos vor.
Das Buch
paart gekonnt historische Analyse mit erinnerungspolitischer
Intervention. Wilm
legt gleich zu Beginn die Karten auf den Tisch, indem er deutlich
macht, dass
ihn die heftige Debatte um die geplante und schließlich geplatzte
Einweihung
einer Schurz-Büste im Schloss Bellevue im Frühjahr 2022, an der er
selbst
beteiligt war, zu dieser Studie animiert hat. Gegenstand des
Meinungsstreits
war die Frage, ob sich hinter dem Bild des „guten Deutschen“, der
sich für
gleiche Rechte und liberale Werte aussprach, nicht auch
rassistische Schatten
verbargen, die Schurz zu einer höchst ambivalenten Figur machten.
Wilm
unterfüttert diese These angenehm quellennah und unpolemisch, was
in dieser
Debatte keine Selbstverständlichkeit ist. Auf nur knapp siebzig
Seiten
konzentriert sich der Autor auf Schurzʼ
politisches Wirken an der Schwelle von der Reconstruction zum
sogenannten Gilded
Age. In diesem Zeitraum bestimmte Schurz in führender Position das
Schicksal
der Afroamerikaner und der indigenen Bevölkerung innerhalb des
Staatsgebietes
der USA entscheidend mit. Das Ergebnis: Schurz hat sich früher und
konsequenter
als bisher in der Öffentlichkeit bekannt von radikaldemokratischen
Überzeugungen verabschiedet und eine keineswegs alternativlose
Minderheitenpolitik verfolgt, die zur Verschlechterung der Lage
für beide Gruppen
beitrug.
Die folgenschwere Wende in Schurzʼ
nachlassender Unterstützung der Schwarzen Bürgerrechte ereignete
sich nach Wilm
in den Jahren 1870 und 1871. Er orientiert sich damit an den
Arbeiten anderer
Historiker, erweitert die Forschung aber zugleich mit
zeitgenössischen
kritischen Stimmen aus der afroamerikanischen Community.1 Auf diese Weise wird klar,
dass Schurz
nicht einfach einem generellen Trend in Richtung Wiederherstellung
der weißen
Vorherrschaft im Süden der USA folgte, sondern diese Entwicklung
aktiv beförderte
– sehr zur Empörung afroamerikanischer Intellektueller wie
Frederick Douglass
und William G. Brown, die Schurz als Abtrünnigen brandmarkten.
Minutiös
dokumentiert Wilm, wie der deutsch-amerikanische Senator die
eskalierende
Gewalt im Süden zunehmend als Reaktion auf überbordende
bundesstaatliche
Eingriffe und nicht als das Fanal einer rassistischen
Konterrevolution deutete.
Bemerkenswerterweise näherte sich Schurz dabei jener Doktrin der
„statesʼ rights“ an, welche
die Sklavenhalter des
Südens vor dem Bürgerkrieg in Stellung gebracht hatten, um ihre
Interessen zu
sichern. Afroamerikaner, so Schurz, müssten mit gutem Beispiel
vorangehen und
ihren Beitrag zur Aussöhnung mit ihren ehemaligen Herren leisten.
Der
Minderheitenschutz hätte vor den „Rechte(n) und Freiheiten des
gesamten
amerikanischen Volkes“ (S. 23) zurückzutreten. Schurzʼ Vorstellung von Volkssouveränität vertrug sich nur noch
schwer
mit dem Ideal eines universalistischen Liberalismus.
Erfreulich quellengesättigt sind auch die Passagen zur
Indianerpolitik, die
Schurz als Innenminister zu verantworten hatte. Selbstverständlich
begann und
endete der Genozid an den Native Americans nicht mit Schurz.
Dennoch korrigiert
Wilm auch hier Darstellungen, die den Deutsch-Amerikaner dafür
loben, weitaus
brutalere Vernichtungsaktionen verhindert zu haben. Wie viele
liberale Reformer
seiner Zeit sah Schurz in der „kulturellen Hebung“ nicht-weißer
Menschen den
Schlüssel zu einer progressiven und humanitären
Minderheitenpolitik. Für den
Umgang mit der indigenen Bevölkerung bedeutete dies, auf
Assimilationsvorhaben
zu setzen, die Überzeugungsarbeit und Zwangsmaßnahmen verbanden.
Besonders
deutlich wird dieses Mischverhältnis am Beispiel der Boarding
Schools –
Internatsschulen für indigene Kinder, für deren Aufbau Schurz mit
Nachdruck
warb. Heute wissen wir, dass diese Umerziehungspolitik unzählige
Opfer
forderte. Doch bereits in den 1870er- und 1880er-Jahren gab es
zahlreiche
Kritiker, die Wilm zu Wort kommen lässt. Darunter befanden sich
führende Native
Americans, die Schurz vorwarfen, seine Pläne würden auf eine
schleichende
Zerstörung indigener Lebensgrundlagen hinauslaufen. Schurz ließ
sich von den
Protestnoten nicht beirren – vermutlich auch deshalb, weil sich
bei ihm im
Laufe der Jahre die rassistische Überzeugung verfestigt hatte,
dass Indigene
aus sich selbst heraus nicht zur Kultur und zu produktiver Arbeit
fähig seien.
Wilm gelingt eine präzise Rekonstruktion von Schurzʼ politischer und intellektueller Biografie in den zwei
Jahrzehnten nach dem Ende des Bürgerkriegs. Wer mehr über die
Limitationen
liberaler weißer Freiheitsideale in einem Jahrhundert der
Nationsbildungen und
imperialen Landnahmen erfahren möchte, sollte unbedingt zugreifen.
Freilich bleiben
einige Fragen offen. Rückte Schurz aus rein machtpolitischen
Gründen von der Reconstruction
ab? Spielte das transnationale Ideal einer zivilisierten
Weltgemeinschaft
bestehend aus starken, möglichst homogenen und von weißen Männern
angeführten
Nationalstaaten eine Rolle, das Schurz und andere Achtundvierziger
unter
anderem zu euphorischen Solidaritätsbekundungen mit dem neu
gegründeten
Deutschen Reich veranlasste? Hier hält sich Wilm mit einem Urteil
zurück, wohl
auch weil die Quellen keine eindeutigen Schlüsse zulassen. Etwas
unterbeleuchtet bleiben die Kontinuitäten in Schurzʼ Haltung gegenüber den Native Americans. Herablassende
Aussagen
über die amerikanischen Ureinwohner, mit denen sich die
siedlerkoloniale
Expansion der USA rechtfertigen ließe, finden sich bereits in
Schurzʼ früheren Reden aus
der Vor-Bürgerkriegszeit,
sodass eher von einer Verhärtung rassistischer Einstellungen als
von einer
Abkehr von universalistischen Prinzipien gesprochen werden sollte.2 Dies ändert aber nichts
daran, dass es
nach der Lektüre des Buches schwerfällt, in Schurz einen
vorbildlichen
Bürgerrechtler oder gar einen Antirassisten zu sehen. Seine
Politik war auf
widersprüchliche und oft schmerzhafte Weise anschlussfähig an
revolutionäre wie
auch reaktionäre Diskurse. Ob Wilm damit die erinnerungspolitische
Debatte, in
der viel Halbwissen und noch mehr Emotionen kursieren,
versachlichen kann,
bleibt abzuwarten. Verdient hätte es das Thema allemal.
Anmerkungen:
1 Exemplarisch sind Bruce
Levine, The Spirit
of 1848. German Immigrants, Labor Conflict, and the Coming of the
Civil War,
Urbana 1992; Alison Efford, German Immigrants, Race, and
Citizenship in the
Civil War Era, New York 2013.
2 Siehe zum Beispiel Carl
Schurz, “The Doom of
Slavery”. August 1, 1860, in: Frederic Bancroft (Hrsg.), Speeches,
Correspondence and Political Papers of Carl Schurz. Vol. 1, New
York 1913, S.
158.
Zitation
Mischa Honeck, Rezension zu: Wilm, Julius: Ein deutscher
Revolutionär im Amt.
Carl Schurz und der Niedergang der Minderheitenrechte in den USA
der
1870er-Jahre. Berlin 2024 , ISBN 978-3-11-143082-9, In:
H-Soz-Kult, 03.09.2024,
<www.hsozkult.de/publicationreview/id/reb-143297>.