Monatsdigest

[Regionalforum-Saar] (kein Betreff)

Date: 2024/09/02 17:46:53
From: gerald-sabine . linn <gerald-sabine.linn(a)t-online.de>

Hallo zusammen, der Heimatverein Eitzweiler fährt am kommenden  Sonntag nach Oberalben ins Auswanderermuseum. 14.00 Uhr würde es mit einer einstündigen Führung beginnen und mit Kaffee und Kuchen und vielleicht mit interessanten Gesprächen enden.
Wer Lust und Zeit hat, kann sich gerne bei mir anmelden.
Mit freundlichen Grüßen Sabine Linn, Vorsitzende

[Regionalforum-Saar] Ein deutscher Revolutionär im Amt. Carl Schurz und der Niedergang der Minderheitenrechte i n den USA der 1870er-Jahre

Date: 2024/09/02 20:42:50
From: Roland Geiger via Regionalforum-Saar <regionalforum-saar(a)genealogy.net>

Ein deutscher Revolutionär im Amt. Carl Schurz und der Niedergang der Minderheitenrechte in den USA der 1870er-Jahre

Autor Julius Wilm
Reihe Dialektik des Globalen
Erschienen Berlin 2024: De Gruyter Oldenbourg
Anzahl Seiten VI, 78 S., 9 SW-Abb.
Preis € 24,95

ISBN 978-3-11-143082-9

Rezensiert für H-Soz-Kult von Mischa Honeck, Geschichte Großbritanniens und Nordamerikas, Universität Kassel

Brauchen Demokratien Helden? Auf diese sehr grundsätzliche Frage gibt die exzellente Studie von Julius Wilm keine Antwort, wohl aber auf die Frage, ob unkritische Heroisierungen nicht den Weg zu einer multiperspektivischen und damit auch ehrlicheren Erinnerungskultur versperren. Wilm veranschaulicht diese Problematik am Beispiel des deutsch-amerikanischen Revolutionärs Carl Schurz, der im 19. Jahrhundert in seiner zweiten Heimat, den Vereinigten Staaten von Amerika, einen atemberaubenden Aufstieg erlebte. Von den Wogen der fehlgeschlagenen europäischen Revolutionen von 1848 über den Atlantik gespült (Schurz entkam wie viele demokratische Aufständische nur knapp mit dem Leben), stieg der deutschstämmige Geflüchtete in nur zwei Jahrzehnten in die höchsten Staatsorgane der noch jungen USA auf. Er schloss sich der sklavereikritischen Republikanischen Partei an, ging auf Geheiß Abraham Lincolns als Botschafter nach Spanien, nahm als Offizier in den Reihen der Union am Bürgerkrieg teil und wurde 1868 von den Wählern Missouris in den Senat geschickt. Den Höhepunkt seiner politischen Laufbahn erreichte Schurz 1876, als er den Posten des Innenministers im Kabinett von Präsident Rutherford B. Hayes übernahm. Kein Einwanderer vor ihm konnte auf eine solch steile Karriere zurückblicken. Sie begründete den Mythos des schillernden transatlantischen Vorzeigedemokraten, der bis in unsere Gegenwart nachhallt.

„Ein Deutscher Revolutionär im Amt“ knöpft sich diesen Mythos vor. Das Buch paart gekonnt historische Analyse mit erinnerungspolitischer Intervention. Wilm legt gleich zu Beginn die Karten auf den Tisch, indem er deutlich macht, dass ihn die heftige Debatte um die geplante und schließlich geplatzte Einweihung einer Schurz-Büste im Schloss Bellevue im Frühjahr 2022, an der er selbst beteiligt war, zu dieser Studie animiert hat. Gegenstand des Meinungsstreits war die Frage, ob sich hinter dem Bild des „guten Deutschen“, der sich für gleiche Rechte und liberale Werte aussprach, nicht auch rassistische Schatten verbargen, die Schurz zu einer höchst ambivalenten Figur machten. Wilm unterfüttert diese These angenehm quellennah und unpolemisch, was in dieser Debatte keine Selbstverständlichkeit ist. Auf nur knapp siebzig Seiten konzentriert sich der Autor auf Schurzʼ politisches Wirken an der Schwelle von der Reconstruction zum sogenannten Gilded Age. In diesem Zeitraum bestimmte Schurz in führender Position das Schicksal der Afroamerikaner und der indigenen Bevölkerung innerhalb des Staatsgebietes der USA entscheidend mit. Das Ergebnis: Schurz hat sich früher und konsequenter als bisher in der Öffentlichkeit bekannt von radikaldemokratischen Überzeugungen verabschiedet und eine keineswegs alternativlose Minderheitenpolitik verfolgt, die zur Verschlechterung der Lage für beide Gruppen beitrug.

Die folgenschwere Wende in Schurzʼ nachlassender Unterstützung der Schwarzen Bürgerrechte ereignete sich nach Wilm in den Jahren 1870 und 1871. Er orientiert sich damit an den Arbeiten anderer Historiker, erweitert die Forschung aber zugleich mit zeitgenössischen kritischen Stimmen aus der afroamerikanischen Community.1 Auf diese Weise wird klar, dass Schurz nicht einfach einem generellen Trend in Richtung Wiederherstellung der weißen Vorherrschaft im Süden der USA folgte, sondern diese Entwicklung aktiv beförderte – sehr zur Empörung afroamerikanischer Intellektueller wie Frederick Douglass und William G. Brown, die Schurz als Abtrünnigen brandmarkten. Minutiös dokumentiert Wilm, wie der deutsch-amerikanische Senator die eskalierende Gewalt im Süden zunehmend als Reaktion auf überbordende bundesstaatliche Eingriffe und nicht als das Fanal einer rassistischen Konterrevolution deutete.

Bemerkenswerterweise näherte sich Schurz dabei jener Doktrin der „statesʼ rights“ an, welche die Sklavenhalter des Südens vor dem Bürgerkrieg in Stellung gebracht hatten, um ihre Interessen zu sichern. Afroamerikaner, so Schurz, müssten mit gutem Beispiel vorangehen und ihren Beitrag zur Aussöhnung mit ihren ehemaligen Herren leisten. Der Minderheitenschutz hätte vor den „Rechte(n) und Freiheiten des gesamten amerikanischen Volkes“ (S. 23) zurückzutreten. Schurzʼ Vorstellung von Volkssouveränität vertrug sich nur noch schwer mit dem Ideal eines universalistischen Liberalismus.

Erfreulich quellengesättigt sind auch die Passagen zur Indianerpolitik, die Schurz als Innenminister zu verantworten hatte. Selbstverständlich begann und endete der Genozid an den Native Americans nicht mit Schurz. Dennoch korrigiert Wilm auch hier Darstellungen, die den Deutsch-Amerikaner dafür loben, weitaus brutalere Vernichtungsaktionen verhindert zu haben. Wie viele liberale Reformer seiner Zeit sah Schurz in der „kulturellen Hebung“ nicht-weißer Menschen den Schlüssel zu einer progressiven und humanitären Minderheitenpolitik. Für den Umgang mit der indigenen Bevölkerung bedeutete dies, auf Assimilationsvorhaben zu setzen, die Überzeugungsarbeit und Zwangsmaßnahmen verbanden. Besonders deutlich wird dieses Mischverhältnis am Beispiel der Boarding Schools – Internatsschulen für indigene Kinder, für deren Aufbau Schurz mit Nachdruck warb. Heute wissen wir, dass diese Umerziehungspolitik unzählige Opfer forderte. Doch bereits in den 1870er- und 1880er-Jahren gab es zahlreiche Kritiker, die Wilm zu Wort kommen lässt. Darunter befanden sich führende Native Americans, die Schurz vorwarfen, seine Pläne würden auf eine schleichende Zerstörung indigener Lebensgrundlagen hinauslaufen. Schurz ließ sich von den Protestnoten nicht beirren – vermutlich auch deshalb, weil sich bei ihm im Laufe der Jahre die rassistische Überzeugung verfestigt hatte, dass Indigene aus sich selbst heraus nicht zur Kultur und zu produktiver Arbeit fähig seien.

Wilm gelingt eine präzise Rekonstruktion von Schurzʼ politischer und intellektueller Biografie in den zwei Jahrzehnten nach dem Ende des Bürgerkriegs. Wer mehr über die Limitationen liberaler weißer Freiheitsideale in einem Jahrhundert der Nationsbildungen und imperialen Landnahmen erfahren möchte, sollte unbedingt zugreifen. Freilich bleiben einige Fragen offen. Rückte Schurz aus rein machtpolitischen Gründen von der Reconstruction ab? Spielte das transnationale Ideal einer zivilisierten Weltgemeinschaft bestehend aus starken, möglichst homogenen und von weißen Männern angeführten Nationalstaaten eine Rolle, das Schurz und andere Achtundvierziger unter anderem zu euphorischen Solidaritätsbekundungen mit dem neu gegründeten Deutschen Reich veranlasste? Hier hält sich Wilm mit einem Urteil zurück, wohl auch weil die Quellen keine eindeutigen Schlüsse zulassen. Etwas unterbeleuchtet bleiben die Kontinuitäten in Schurzʼ Haltung gegenüber den Native Americans. Herablassende Aussagen über die amerikanischen Ureinwohner, mit denen sich die siedlerkoloniale Expansion der USA rechtfertigen ließe, finden sich bereits in Schurzʼ früheren Reden aus der Vor-Bürgerkriegszeit, sodass eher von einer Verhärtung rassistischer Einstellungen als von einer Abkehr von universalistischen Prinzipien gesprochen werden sollte.2 Dies ändert aber nichts daran, dass es nach der Lektüre des Buches schwerfällt, in Schurz einen vorbildlichen Bürgerrechtler oder gar einen Antirassisten zu sehen. Seine Politik war auf widersprüchliche und oft schmerzhafte Weise anschlussfähig an revolutionäre wie auch reaktionäre Diskurse. Ob Wilm damit die erinnerungspolitische Debatte, in der viel Halbwissen und noch mehr Emotionen kursieren, versachlichen kann, bleibt abzuwarten. Verdient hätte es das Thema allemal.

Anmerkungen:
1 Exemplarisch sind Bruce Levine, The Spirit of 1848. German Immigrants, Labor Conflict, and the Coming of the Civil War, Urbana 1992; Alison Efford, German Immigrants, Race, and Citizenship in the Civil War Era, New York 2013.
2 Siehe zum Beispiel Carl Schurz, “The Doom of Slavery”. August 1, 1860, in: Frederic Bancroft (Hrsg.), Speeches, Correspondence and Political Papers of Carl Schurz. Vol. 1, New York 1913, S. 158.

Zitation

Mischa Honeck, Rezension zu: Wilm, Julius: Ein deutscher Revolutionär im Amt. Carl Schurz und der Niedergang der Minderheitenrechte in den USA der 1870er-Jahre. Berlin 2024 , ISBN 978-3-11-143082-9, In: H-Soz-Kult, 03.09.2024, <www.hsozkult.de/publicationreview/id/reb-143297>.





[Regionalforum-Saar] „Chatbots sind kein N ürnberger Trichter“

Date: 2024/09/02 20:54:13
From: Roland Geiger via Regionalforum-Saar <regionalforum-saar(a)genealogy.net>

heute in der Saarbrücker Zeitung, Saarland-Teil:

„Chatbots sind kein Nürnberger Trichter“

Gerade ist Armin Weinberger – seit 2011 Saarbrücker Professor für Bildungstechnologie – zum Präsidenten der größten europäischen Bildungsorganisation EARLI gekürt worden. Er erforscht, wie man KI für computerunterstütztes Lernen nutzen kann – ob an Unis oder Schulen. Weinberger entwickelt auch KI-gestützte Mikrokurse, in denen Alleinerziehende oder Fischer in Südostasien Mikrozertifikate erwerben, um Kompetenzen zu belegen. Ein von ihm geleitetes EU-Förderprojekt unterstützt etwa „Locals“, die auf Öko-Tourismus setzen. ChatGPT verbreitete eine Goldgräberstimmung, so Weinberger. Zu Recht?

Von Christoph Schreiner

SAARBRÜCKEN | Der (englischsprachige) Masterstudiengang „EduTech“, den Armin Weinbergers Saarbrücker Lehrstuhl für Biildungstechnologie seit gut zehn Jahren anbietet, ist hoffnungslos überbucht. Auf jeden Studienplatz kommen zehn, manchmal auch 20 Bewerber, weil in jedem Wintersemester weniger als 30 zur Verfügung stehen. Die Studierenden kommen aus der ganzen Welt. Entweder haben sie einen Bachelor in Pädagogik oder Psychologie oder in Informatik. Der „EduTech“-Master zielt darauf, sozialwissenschaftliche Forschungsmethoden und Informatik-Knowhow zu kombinieren. Ein eigener Bachelor-Unterbau fehlt in Saarbrücken noch, ist aber geplant.

„Die Idee unseres Masters ist“, holt Weinberger aus, „dass beide Seiten – Informatiker und Pädagogen/Psychologen – sich besser verstehen“. Dass das dauert, weiß er aus eigenen Forschungsvorhaben. In vielen kommen Chatbots zum Tragen, die für ihren Einsatz als „technische Assistenten“ vorher am Saarbrücker Lehrstuhl gezielt trainiert werden. Ein Schwerpunkt von Weinbergers Forschung ist die Analyse der Interaktionen zwischen Lehrenden und Lernenden. Dass sie im Team Diskursverläufe „sehr feinkörnig“ analysieren, kommt ihnen beim Coachen der Chatbots zugute. Wie auch die Rasanz, mit der sich die Dialogsysteme verbessern: „Was vorher zwei Jahre dauerte, geht heute in zwei Monaten.“

Weinberger kennt die Frage zu Genüge, ob die KI in zehn Jahren womöglich Lehrer ersetzen könne. Er weicht nicht aus, sondern antwortet diplomatisch. Es nütze nichts, sich der Zeit zu verschließen: „Gute Lehrer orchestrieren immer unterschiedliche Sozialformen des Lernens. Mit KI-Services wird dieser Baukasten massiv erweitert, aber nicht ersetzt.“ Vereinfacht gesprochen, gebe es heute zwei technische Nutzermentalitäten, schickt er nach: Die einen schalten ihr Gehirn quasi aus und lassen ChatGPT die Arbeit machen, die anderen nutzen KI nur punktuell und sehr gezielt zur „Verfeinerung der eigenen Gedanken“. Weinberger warnt vor den gesellschaftlichen Folgeeffekten: Die Bildungsschere werde durch den Einsatz von Künstlicher Intelligenz weiter auseinanderklaffen. „Wir laufen darauf zu, dass sich das noch weiter verschärft, weil wir dank KI nicht nur ein Denktool haben, sondern auch eine Art Denkfaulheitstool.“ Umso wichtiger sei es, den kritischen Umgang damit zu lehren.

„Chatbots sind keine Nürnberger Trichter.“ Man müsse die Leute vielmehr fit machen, sinnvoll damit umzugehen. Sinnvoll meint in dem Fall: selbstbestimmt. Mit ChatGPT & Co sei es nicht anders wie mit anderen Technologien: So wie unser räumliches Vorstellungsvermögen durch die ständige Nutzung des „Navis“ schrumpft, verkümmere auch unser Verstand, wenn wir generative Sprachmodelle für uns alles ausspucken ließen. Um ein tieferes Verständnis von ChatGPT zu gewinnen, zwinge er sich mittlerweile dazu, mit dem Sprachbot zu kommunizieren, weil es angesichts der KI-Goldgräberstimmung allenthalben nicht mehr lange dauere, „bis wir fast alle unseren persönlichen KI-Assistenten haben“.

Ein wissenschaftliches Steckenpferd Weinbergers ist das Einüben von Argumentationstechniken. Dinge abzuwägen und Meinungen zu verteidigen – um das zu erreichen, versucht Weinberger, in „kooperativen Lernszenarien“ dialogbasierte Interaktionsmuster zu schulen. Zielführend waren dabei lenkende Satzphrasen à la „Ich habe noch nicht genau verstanden, was du meinst“, die Dialoge strukturieren und das Diskussionsniveau heben. Derlei „Kooperationsskripts“ erwiesen sich als sehr wirkungsvoll. Als Bildungstechnologe, der er ist, erprobt Weinberger zugleich aber auch, wie Chatbots ausgestaltet sein müssen, um Gesprächsverläufe konstruktiv mitzuformen. Bisherige Erkenntnis seiner Forschung: „Wir sehen, dass ein Bot, der eher moderierend und sokratisch fragend agiert, viel hilfreicher ist als Sprachmodelle, die vollständige Erklärungen geben und dadurch eher demotivieren.“

Um die von ihm entwickelten Lernumgebungen möglichst praxistauglich zu halten, hat Weinberger immer schon auch mit Lehrkräften kooperiert. Meist hätten die Lehrer, nachdem sie als Forscher wieder „abgezogen“ seien, das Setting dann „geplündert, einzelne Bausteine herausgenommen und ihren eigenen Stiefel gemacht“, erzählt der 1973 in Landshut Geborene mit unverwechselbar bayerischem Idiom. Deshalb bauten er und sein Team mittlerweile die Praxiserfahrungen der Lehrkräfte noch dezidierter in Unterrichtspläne und Lernsettings ein. Co-Design nennt er das Verfahren. Erstaunlich eigentlich, dass das saarländische Bildungsministerium, das Digitalisierung groß schreibt, sich für Weinbergers Forschungen bislang nicht interessiert.

Auch wenn er gerade erst zum Präsidenten der größten europäischen Bildungsorganisation EARLI (European Association for Research on Learning and Instruction) gewählt worden ist, in der mehrere tausend Bildungswissenschaftler vereint sind, meint der 51-Jährige, dass er „nicht der beste Lobbyist“ sei, was die Vermarktung seiner Arbeit angeht. Klar, sein Lehrstuhl ist keine Firma. Auch hat er weder Zeit noch Interesse daran, seine Anwendungen zu verkaufen. Gefragt, ob sie nutzbar zu machen wären, ist die Antwort dennoch deutlich: „Doch. Im Prinzip könnte man unsere Tools in der Praxis einsetzen.“

Ein Beispiel dafür ist der „Patientenfallsimulator“ für Homburger Medizinstudierende, den Weinbergers Team gemeinsam mit dem Homburger Universitätsklinikum entwickelt hat. Ziel ist es, diagnostische und therapeutische Verfahren anhand virtueller Patienten und einem Online-Zugriff auf die Krankenakte möglichst realistisch zu üben. Die Medizinstudenten schlüpfen in die Rolle von Hausärzten. Drei Jahre lang gab es eine schmale Förderung, nun läuft das Projekt aus, ohne dass eine Anschlussfinanzierung in Sicht ist. Und das, obwohl sich die Homburger Simulator-Erfahrungen prinzipiell auch für andere angehende Mediziner nutzbar machen ließen.

Daneben ist Weinberger mit seinem Lehrstuhl auch in mehrere EU-geförderte ErasmusPlus-Projekte eingebunden. Eines davon nennt sich „L2BGreen“ und zielt darauf, grünes Unternehmertum durch KI-gestützte Online-Lernkurse voranzutreiben. Konkret geht es darum, wie man vom Wissen über die notwendige Transformation zu Verhaltensänderungen kommt. „Dazu kreieren wir Szenarien, um Einstellungen zu ändern“, skizziert Armin Weinberger den Part, den er dabei übernimmt. „Microcasa“ heißt ein anderes EU-Förderprojekt, bei dem er selbst den Hut aufhat. Ziel ist es, der einfachen Bevölkerung in Südostasien zum Aufbau einer bescheidenen Existenz zu verhelfen. Alleinerziehende oder benachteiligte Berufsgruppen sollen mittels Online-Tutorials Kompetenzen erwerben und sich zertifizieren lassen können. Weinberger erzählt etwa von Fischern in Indonesien, die angesichts leergefischter Küsten nun auf ökologischen Tourismus setzen wollen. Das leidige Schicksal solcher multiprofessionellen Projekte unter Beteiligung mehrerer europäischer Universitäten ist, dass sie immer nur über drei Jahre gefördert werden. Und damit, sofern sie bis dahin nicht ausreichend etabliert sind, leicht verpufft, was gerade aufgebaut worden ist.

Als er 2010 nach Saarbrücken berufen und dort die Professur für Bildungstechnologie begründete, war Armin Weinberger in Deutschland auf seinem Feld ein Pionier. Anders als in den USA, Skandinavien oder Holland, war sein Forschungsfeld hier noch weitgehend unbeackert. Ein gutes Jahrzehnt später ist die nationale Konkurrenz an Bildungstechnologen größer geworden. Umso mehr freut es ihn, dass sein Masterstudiengang weiterhin viel Magnetkraft hat.

[Regionalforum-Saar] Über den Wolken

Date: 2024/09/02 21:03:41
From: Roland Geiger via Regionalforum-Saar <regionalforum-saar(a)genealogy.net>

heute in der SZ, Saarland-Teil

Über den Wolken
Von Wolfram Goertz

In der Schule sehen viele das Auswendiglernen als unnützen, stupiden Akt der Bildungsvermehrung an. Dabei lernen wir fortwährend auswendig, vor allem Liedtexte. Funktioniert ja auch ganz leicht: Meistens ist eine einprägsame Melodie das Vehikel, das die Worte mit ins Hirn befördert.

Manchmal sind die Texte auch selbst die Knaller. In den 70ern wurden hierzulande viele von Liedern angesprungen, die unverwechselbare neue Gedanken und Weisheiten in die Welt brachten. Alles wurde memoriert: dass der Mörder immer der Gärtner ist. Dass es keine Maikäfer mehr gibt. Dass jemand Klempner von Beruf ist und Annabelle völlig intellektuell. Sogar das widerspenstige Lied vom „Antrag auf Erteilung eines Antragsformulars“ ging ins Gedächtnis und blieb dort als bürokratische Nonsensparade stecken: Ein verzweifelter Bittsteller benötigt beim Amt einen bestimmten Wisch, ein schreckliches Behördenformblatt, ebenso sinnfrei wie entbehrlich. Wer dessen Wortlaut aussprechen muss, der bekommt einen Zungenknoten. Aber mit der Zeit lernte man – fast ein Wunder – auch diesen Refrain auswendig.

Er stammt wie alles hier von Reinhard Mey. Seit Ende der 1960er-Jahre war er der Orpheus der Liedermacher-Szene, ein musikalisch und textlich fabelhaft origineller Integralkünstler. Vor allem lehrte er seine Kollegen die Kunst der Beherrschung. Bei aller Volkstümlichkeit blieb er auch beim „Antrag auf Erteilung“ immer kontrolliert, wenn er die Kaskade der Verzweiflung des Bürgers bis zu deren heiterer finaler Verpuffung vortrug. Während sein Publikum unter den Stühlen lag – bei Mey verstand man jedes Wort –, blieb der Sänger der Inbegriff der Kühle. Zugleich war er ein netter, sympathischer Typ, keine Spur blasiert. Es gab damals Glaubenskriege, ob Stephan Sulke euphorisierender war, Konstantin Wecker drastischer, Hannes Wader politischer, Wolf Biermann radikaler. Doch an Reinhard Mey kam man nicht vorbei, er füllte die Mitte Deutschlands aus, und er tat es mit Bravour. Und selbst wenn ihm hin und wieder Allgemeinplätze aufs Reißbrett der Wort- und Themenfindung gerieten, so war er doch der Großmeister seiner Kunstform. In etlichen Liedern bewies er es.

Ein Werk allerdings hat Reinhard Mey für die Unsterblichkeit komponiert: „Über den Wolken“. Vor 50 Jahren, im August 1974, kam es zum ersten Mal als Single heraus, einen Platz fand es zudem auf einer Langspielplatte unter dem Titel „Wie vor Jahr und Tag“. Bald eroberte es die Welt, Mey textete eine französische Version („Au-dessus des nuages“) und organisierte eine auf Niederländisch, alle summten es, grölen ließ es sich nicht. Es erzeugte Sehnsucht, Wehmut und sogar Andacht, denn es ging um ein erhabenes Ziel, das vielen Menschen das wichtigste war und ist: Freiheit. Und wer hat diese Freiheit, wenn nicht ein Pilot, der mit einem Flugzeug die Wolkendecke durchdringt? Die Toten Hosen fanden Lied und Inhalt so wichtig, dass sie den Freiheitsgedanken später in „Unter den Wolken“ aufgriffen.

Dabei startet das Lied ungewöhnlich technisch – mit einer Windangabe und einer navigatorischen Positionsbestimmung: „Wind Nord-Ost, Startbahn null-drei“. Das erinnert an große Romane, die ebenfalls mit Wind, Wetter und Luftdruck beginnen, etwa Robert Musils „Der Mann ohne Eigenschaften“ oder „Zwillingssterne“ von Michel Tournier. Doch während sich dort die Welt in ihren klimatischen Phänomenen abbildet, ist die erste Zeile von Meys Lied der Anker, der die Fantasie für wenige Sekunden an einen Ort bindet: den Flughafen. Dort startet „sie“, die ungenannte, aber von allen Hörern geahnte Maschine, sie lärmt, ihre Motoren sind unüberhörbar, „wie ein Pfeil zieht sie vorbei“. Und auf allen Flughäfen der Welt ist das Faszinosum das gleiche – der Moment, da „sie abhebt und sie schwebt, der Sonne entgegen“.

Erde und Anziehungskraft, Metaphysik und Luftgewinn – das sind die Pole dieses Lieds, die einander magnetisch bedingen. Ohne „nassen Asphalt“ und Regen, der „wie ein Schleier staubt“, gibt es keine wahrnehmbare Beschleunigung, ohne Flughöhe keine spätere Landung. In diesen sich öffnenden, doch recht konstanten Raum dringt der Hörer vor, und die Musik verschafft ihm dabei eine sehr simple, doch wirkungsvolle Stütze.

Die Harmonien wiederholen sich nämlich immerzu, in allen Strophen und im Refrain: G-Dur, a-Moll, D-Dur, G-Dur. Das ist eine typische Kadenz: Tonika, Subdominante (hier vertreten durch die parallele Molltonart), Dominante, Tonika. Erst in der vorletzten Zeile kommt die Tonart, auf die wir die ganze Zeit schon warten: C-Dur, und zwar bei „würde was uns groß und wichtig erscheint“. Man nimmt Platz in dieser Tonart wie in einem First-Class-Sessel, doch muss man gleich wieder zurück in die harmonische Holzklasse. Dort hat man die rechte Demut, um in den Genuss der Freiheit zu kommen – vor allem, wenn der Flieger endlich am Gate des Zielflughafens andockt und die Passagiere aussteigen dürfen.

Mey hat sich den Traum des Fliegens selbst erfüllt. Der 1942 in Berlin geborene Künstler war ein typisches Tegel-Kind: am Rand dieses Flughafens im Norden Berlins stehen und den Maschinen zuschauen. Schon damals, bei seinen Besuchen am Zaun, hatte er ein Gefühl von Fernweh. Er träumte davon, selbst ein Flugzeug zu steuern. Im beengten Berliner Luftraum während des Kalten Kriegs war eine Flugausbildung jedoch unmöglich. Auf einer Konzertreise lernte er einen Piloten aus Norddeutschland kennen, der ihm den Flugplatz Wilhelmshaven-Mariensiel nahebrachte. Dort ließ Mey fliegerische Taten folgen. Wie es heißt, hat er während der Ausbildungszeit auch am Flugplatz gewohnt. Diese Impressionen flossen in sein Lied ein. Er blieb lebenslang beim kleinen Fluggerät; das größte, das er selbst flog, war eine zweimotorige Cessna 340A mit sechs Sitzen.

Mey war ein Perfektionist, das hatte für sein Publikum sein Gutes: Es bekam den Künstler stets mit dem Instrument zu hören, das er glänzend beherrschte – seine Gitarre. Zwar hat man seine Lieder bereits in allen möglichen Versionen gehört, sogar einmal mit neuem Text in der „Sesamstraße“, im hinreißenden Terzett mit Ernie und Bert. Doch mit Gitarre und unplugged, wie man heute sagt, war Mey ganz bei sich. Die Saiten des Instruments waren das Trampolin, das federte und Luftsprünge auslöste, es pickte den Rhythmus in den Klang und gab den Künstler als reisenden, mobilen Gesellen zu erkennen, der sich auch schnell wieder vom Acker machen konnte, wenn es ihm zu ungemütlich wurde. Tatsächlich ist gerade Meys Gitarre das ikonische Instrument der Freiheit – leicht zu stimmen, relativ wenig verwüstlich und gut zu transportieren. Vor allem in einer Cessna 340A.

Der Freiheitsgedanke, den es äußert, hat dem Lied eine beispiellose Karriere beschert. Filmregisseur Christian Petzold nannte es „das einzige gute deutsche Volkslied“, tatsächlich gehört es in eine Reihe mit „Die Gedanken sind frei“. Auch in der DDR wurde „Über den Wolken“ aufmerksam und inbrünstig gehört, nicht wenige dort stellten sich vor, selbst die Freiheit zu suchen und zu fliehen, und setzten es mit Helfern um. Manche starben dabei. Und wurden zu jenem abstürzenden Ikarus, den Mey selbst besungen hatte.

Überhaupt ist sein Lied „Ikarus“ gleichsam der Zwilling von „Über den Wolken“, vor allem, weil es fast genauer erklärt, warum Mey die Flugleidenschaft umtrieb und er so gern abhob: „Vielleicht, um über alle Grenzen zu geh’n / Vielleicht, um über den Horizont hinaus zu seh’n / Und vielleicht, um wie Ikarus / Aus Gefangenschaft zu flieh’n.“ Dieses „Ikarus“ ist ein nicht minder ergreifendes, womöglich sogar das stärkere Lied, dabei hat es nicht einmal einen Wikipedia-Eintrag. Sein musikalischer Höhepunkt im Re­frain ist der höchste Ton des Lieds, natürlich auf dem Wort „Ikarus“. In solchen Details war Mey ein Artist alter Schule.

Dabei hat auch „Über den Wolken“ etliche Pointen, die schönste ist das Reimpaar der letzten Strophe. Dort heißt es: „Dann ist alles still, ich geh, / Regen durchdringt meine Jacke. / Irgendjemand kocht Kaffee / In der Luftaufsichtsbaracke.“ Für diese kleine lautmalerische Sensation allein, kombiniert mit einer Wortneuschöpfung, muss man dieses Lied lieben. Und die Baracke von Wilhelmshaven gibt es noch heute. Am Jade-Weser-Airport, wie der Flugplatz heute heißt, sind alle stolz darauf. Jetzt hat die dortige Motorfluggruppe den Winzlingsbau in Beschlag genommen.

Als Flieger musste einer wie Mey natürlich die Physik der Atmosphäre beherrschen. Sein Lied „Weil ich ein Meteorologe bin“ packte das Thema allerdings von der ironischen Seite an. Er wusste nur zu gut, dass sich das Wetter alle paar Stunden ändern kann. Für die französische Version von „Über den Wolken“ drehte er dann auch den Beginn: „Vent sud-ouest, piste vingt-trois“ (also: Wind Süd-West, Startbahn zwo-drei). Hauptsache, die Motoren gehen an, die Luft flirrt – und kleine und große Jungs stehen am Zaun und murmeln die letzte Zeile: „Ich wär gern mitgeflogen.“

INFO

Noten im Internet

Jubiläumsbuch „Über den Wolken. Eine Liebeserklärung an Reinhard Mey“ heißt ein flammneues, entzückendes Buch von Oliver Wurm und Thilo Komma-Pöllath, das auch die fliegerischen Anfänge von Mey in Wilhelmshaven schildert. Es hat 100 Seiten, kostet zwölf Euro und ist zu beziehen über: www.fussballgold.de

Noten Mey hat alle Lieder mit Noten und Harmonien ins Internet gestellt: reinhard-mey.de/noten

[Regionalforum-Saar] Tag der offenen Tür,,im K reisarchiv Saarlouis am Sonntag, 6. Oktober 2024

Date: 2024/09/03 18:19:04
From: Roland Geiger via Regionalforum-Saar <regionalforum-saar(a)genealogy.net>

Vereinigung für die Heimatkunde im Landkreis Saarlouis e.V.

 

 

Tag der offenen Tür

im Kreisarchiv Saarlouis

- Zentrum für Familienforschung -

 

Landratsamt Saarlouis, Eingang Kreisständehaus,

Kaiser-Wilhelm-Str. 4-6, 66740 Saarlouis

 

Sonntag,6. Oktober 2024

10 – 17 Uhr

 

Programm

 

Eröffnung durch den 1. Vorsitzenden, Herrn Landrat Patrik Lauer

 

Ausstellung:

Max Scheid

geb. 1856 in Saarlouis, gest. 1944 in Heppenheim

 

Autor der „SaalujerVozehlcher“ und "Bilder aus Alt=Saarlouis"

Direktor der Kristallerie Wadgassen und Kunstmaler

 

Die Saarlouiser Heimatvereine stellen sich vor

 

Verband der heimatkundlich-historischen Vereine Saarlouis e.V.

Rodener Geschichtskreis e.V.

Verein für Geschichte u. Heimatkunde Fraulautern e.V.

Verein für Heimatkunde Lisdorf e.V.

Verein für Mundart u. Geschichte Beaumarais e.V.

Rodena Heimatkundeverein Roden e.V.

Heimatkunde- und Geschichtsverein Picard e.V.

Verein für Heimatkunde SLS-Neuforweiler e.V.

 

 

Weitere Programmpunkte

 

Die familienkundlichen Bestände im Kreisarchiv

 

Vorstellung der Totenbildsammlung

 

Informationen zur Familienforschung

 

Verkauf vereinseigener Publikationen

 

 

Bücherflohmarkt mit seltenen antiquarischen Büchern

 

Eine Veranstaltung der „Vereinigung für die Heimatkunde im Landkreis Saarlouis e.V.“ und des Landkreises Saarlouis

[Regionalforum-Saar] Prof. Dr. Benno Rech aus Thalexweiler gestorben

Date: 2024/09/04 13:15:18
From: Roland Geiger via Regionalforum-Saar <regionalforum-saar(a)genealogy.net>

Sehr geehrte Damen und Herren,  

Knapp ein Jahr nach dem Tod des saarländischen Dichters Johannes Kühn ist auch dessen langjähriger Freund und Mentor Prof. Dr. Benno Rech aus Thalexweiler gestorben. Wie die Johannes-Kühn-Gesellschaft am heutigen Mittwoch, dem 4. September 2024 mitteilte, erlag der Germanist und Gymnasiallehrer in der Nacht zuvor im Alter von 89 Jahren einer schweren Krankheit.

Alles Weitere entnehmen Sie bitte der anhängenden Pressemitteilung. Sie enthält gegenüber früheren Informationen, die ich Ihnen zugesandt hatte, einige Ergänzungen, z. B. betreffend das Studium des Verstrobenen.

Außerdem übersende ich Ihnen ein paar Informationen zur Johannes-Kühn-Gesellschaft, die sich unlängst gegründet hat. Ab sofort ist auch unsere WEbsite  www.johannes-kuehn.de freigeschaltet.

Mit freundlichen Grüßen und herzlichem Dank

Ihr Klaus Brill

Vorstandsmitglied der Johannes-Kühn-Gesellschaft  06455-755.195, 0176-4191.5502

[Regionalforum-Saar] Tradition und Innovation im kirchl ichen Recht. Das Bußbuch im Dekret des Bischofs Burchard von Worms Ostfildern

Date: 2024/09/04 13:29:06
From: Roland Geiger via Regionalforum-Saar <regionalforum-saar(a)genealogy.net>

Tradition und Innovation im kirchlichen Recht. Das Bußbuch im Dekret des Bischofs Burchard von Worms Ostfildern

Autor Birgit Kynast
Reihe Quellen und Forschungen zum Recht im Mittelalter
Erschienen Eschbach 2020: Jan Thorbecke Verlag
Anzahl Seiten 541 S.
Preis € 68,00
ISBN 978-3799560900

Inhalt meinclio.clio-online.de/uploads/media/book/toc_book-59774.pdf

Rezensiert für H-Soz-Kult von Greta Austin, Religion, University of Puget Sound
[Originalrezension in Englisch, mit google translator ins Deutsche übertragen]

Haben Sie getan, was manche Frauen zu tun pflegen? Sie mischen Menstruationsblut in Speisen oder Getränke und geben es ihren Ehemännern, damit diese sie mehr lieben. Wenn Sie das getan haben, sollten Sie an den entsprechenden Fastentagen fünf Jahre lang Buße tun.1

Viele verlockende Passagen wie diese erscheinen in einem langen Fragebogen am Ende eines kanonischen und Bußhandbuchs, dem Decretum von Burchard, Bischof von Worms (gest. 1025). Kanon 5 von Buch 19, das sich auf Buße konzentriert, enthält 196 Fragen. Der Fragebogen ist umfassend und lang. Er untersucht eine breite Palette von Vergehen, beginnend mit den schwerwiegendsten wie Mord, Meineid, Unzucht und Ehebruch. Er geht weiter zu Vergehen, die gleichgeschlechtlichen sexuellen Kontakt, Ernährungsvorschriften und Völlerei sowie Praktiken betreffen, die das Übernatürliche anrufen. Er endet mit bestimmten Vergehen, „die Frauen betreffen“, einschließlich Abtreibung und Zugang zum Übernatürlichen. Im Gegensatz zu anderen Kanons fehlen den Fragen Zuschreibungen (d. h. Inschriften). Burchard oder seine Assistenten haben wahrscheinlich einige der Fragen verfasst, insbesondere im letzten Abschnitt über Frauen. Der Fragebogen ist daher eine sehr hilfreiche Methode, um die Sammlung und Burchards Interessen zu verstehen. Burchards Sammlung hatte viele mögliche Verwendungszwecke: für den Bischof, wenn er seine Diözese besuchte und Synoden abhielt; für den Lehrer, wenn er Schüler unterrichtete; und für den Priester, wenn er Buße tat.

Das Decretum hat seit der wegweisenden Studie von Hartmut Hoffmann und Rudolf Pokorny beträchtliche wissenschaftliche Aufmerksamkeit auf sich gezogen.2 Sie identifizierten die frühesten Manuskripte, die im Wormser Skriptorium angefertigt wurden, und zeigten, dass es sich dabei um Arbeitskopien mit vielen Löschungen und Änderungen handelte. Sie lieferten Tabellen mit den formalen und materiellen Quellen der Kanons – allerdings nicht für die Fragen in 19.5, eine Lücke, die Kynasts Buch füllt. Die Forschung von Hoffmann und Pokorny ebnete den Weg für weitere wissenschaftliche Untersuchungen zum Decretum. Dieser Rezensent argumentierte, dass der Sammlung eine umfassende Vision von Gesetzen und Buße zugrunde lag.3 Das Interesse an Burchards Sammlung gipfelte in einem mehrjährigen Projekt in Mainz, das die Sammlung herausgab und ihre Manuskripttradition untersuchte.4

Burchards Sammlung wurde als nützliches Nachschlagewerk charakterisiert. Ebenso ist Birgit Kynasts Buch – ursprünglich eine Dissertation der Universität Mainz – ein außerordentlich nützliches Nachschlagewerk und eine unschätzbare Quelle. Im Gegensatz zu Burchards Sammlung, die so konzipiert war, dass sie von Bischöfen, die ihre Diözese besuchen, leicht mitgenommen werden konnte, umfasst Kynasts Monographie über 500 Seiten. Durch ihre detaillierten Vergleiche der Texte mit ihren Quellen zeigt Kynast, wie aktiv Burchard seine Sammlung gestaltete. Sie liefert umfassende Beweise für das Argument dieses Rezensenten, dass Burchard Regeln und Praktiken systematisierte und aneinander anpasste. Er präsentierte seine Texte klar und umfassend, aber prägnant. Er arbeitete auch daran, ihre Autorität zu untermauern, indem er sie mit einer kurzen Liste von Autoritäten in Einklang brachte, die er in seinem Vorwort auflistete. Um diese Ziele zu erreichen, veränderte Burchard manchmal seine Quellen, insbesondere deren Inschriften.

Kynast konzentriert sich in ihrer Analyse hauptsächlich auf Burchards Behandlung des Totschlags – von Interesse für das moderne Recht, obwohl sie davor warnt, moderne Rechtsdefinitionen in sein Werk hineinzulesen (S. 188). Kapitel VII (S. 185–366) analysiert jede Frage zum Verbrechen des Mordes: ihren Inhalt, die Präzedenzfälle im Decretum (normalerweise Buch 60), Parallelen in Regino von Prüms Libri duo, andere mögliche formale (unmittelbare) und materielle (ursprüngliche) Quellen und die Beziehung der Texte zueinander.

Da etwa ein Drittel der Texte in 19.5 Parallelen in den Büchern 1–18 der Sammlung aufweist, haben moderne Gelehrte oft angenommen, dass die Fragenliste in 19.5 lediglich den vorherigen Inhalt zusammenfasst. Kynast liefert jedoch eine wichtige Korrektur dieser Annahme. Sie zeigt ausführlich, wie Burchard die formalen Quellen, aus denen er Kanons entnahm, verglich und beim Verfassen der Fragen kreativ mit ihnen arbeitete. Beim Umordnen, Umformulieren, Integrieren und Harmonisieren seiner Quellen führte die redaktionelle Arbeit der Kompilatoren oft zu einer „impliziten Kommentierung“ (S. 374), wie dieser Rezensent argumentiert hat.

Burchards Sammlung wird oft als nützlich bezeichnet, und das gilt auch für „Tradition und Innovation“. Kynast liefert einen historischen Kontext, etwa in einem Exkurs über Burchard und seine Beziehung zum Judentum (S. 242–244). Sie erklärt Terminologie, etwa die verschiedenen Möglichkeiten der Sammlung, das Unfreie zu beschreiben (S. 250–251). Kynast nuanciert die Schlussfolgerungen dieses Rezensenten über die Bibel. Während ich argumentierte, dass Burchard seine Hierarchien der Straftaten auf biblischen Passagen basierte, weist Kynast darauf hin, dass Burchard mehr mit der kirchlichen Tradition als mit der Bibel arbeitete (S. 189–192, S. 379), obwohl man auch feststellen könnte, dass die kirchliche Tradition ebenfalls widersprüchlich war. Der Leser wird ihre gründlichen Diskussionen der relevanten Sekundärliteratur zu schätzen wissen.

Kynast erörtert alle Fragen, die sich nicht auf Mord beziehen, in Kapitel VI (S. 99–184). Ihre Analyse der Fragen 121–128 zu gleichgeschlechtlichen sexuellen Handlungen zwischen einem Mann und einem anderen Mann und zwischen Frauen (Fragen 156–160) beispielsweise achtet sorgfältig auf die Sprache, die zur Beschreibung dieser Handlungen verwendet wird, und findet die Texte in der entsprechenden Bibliographie zur mittelalterlichen Sexualität (S. 137–144). Kynast ist äußerst gründlich. Beispielsweise hat dieser Rezensent lediglich Burchards Verständnis des Menschen als „nach dem Bild Gottes geschaffen“ festgestellt. Kynast identifiziert eine theologische Abhandlung, die dieses Konzept geliefert haben könnte (S. 341–344).

Die Tabellen in „Tradition und Innovation“ sind Höhepunkte. Tabelle 5 enthält Transkriptionen der Fragen in den beiden frühesten Manuskripten (S. 432–475). Tabelle 6 listet alle Parallelen im Libri duo, im Decretum, die formale Quelle der Frage, ihre materiellen Quellen sowie Hinweise zu Löschungen auf. Diese Tabelle zeigt, wo Burchard mehr Neuerungen einführte als in anderen Abschnitten. Er hat wahrscheinlich viele der Texte zu „Nichtchristliche Praktiken und Vorstellung“ geschrieben. Schließlich bietet Tabelle 7 eine Transkription der Fragenliste in Buch 1 von Reginos Libri duo. Dieser Leser hätte eine Transkription der Fragenliste in Libri duo Buch 2 und einen Index für die spezifischen Fragen geschätzt, aber das sind nur geringfügige Kleinigkeiten.
Die Wissenschaft ist eine fortlaufende Diskussion, und Kynasts Schlussfolgerungen sollten im Lichte von John Burdens Forschung zu Buch 19 betrachtet werden, die veröffentlicht wurde, nachdem dieses Buch in Druck ging. Burden argumentierte, dass das Decretum vor allem für die Verwendung während bischöflicher Visitationen und nicht für die Verwendung durch Priester während der Buße bestimmt war, während Kynast für beides plädiert.5

Für alle, die sich für die reiche Geschichte der Buße und des Kirchenrechts, für Sozialgeschichte, für die Geschichte des Strafrechts und für Gender Studies interessieren, ist „Tradition und Innovation“ ein unverzichtbares Nachschlagewerk.

Notes:
1 Burchard of Worms, Decretum, 19.5.178; transcription in Kynast at p. 471.
2 Hartmut Hoffmann / Rudolf Pokorny, Das Dekret des Bischofs Burchard von Worms. Textstufen-Frühe Verbreitung-Vorlagen (MGH: Hilfsmittel 12), Munich 1991.
3 Greta Austin, Jurisprudence in the Service of Pastoral Care. The Decretum of Burchard of Worms, in: Speculum 79 (2004), pp. 929–959; idem, Shaping Church Law around the Year 1000. The Decretum of Burchard of Worms, Aldershot 2009.
4https://www.adwmainz.de/en/projects/burchards-dekret-digital/description.html (21.08.2024).
5 John Burden, Reading Burchard’s Corrector. Canon Law and Penance in the High Middle Ages, in: Journal of Medieval History 46 (2020), pp. 77–97.





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Mit freundlichen Grüßen

Roland Geiger

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Roland Geiger
Historische Forschung
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Tel. 06851-3166
email alsfassen(a)web.de
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[Regionalforum-Saar] https://www.hfrg.de/index.php?id=1299

Date: 2024/09/04 23:39:09
From: Roland Geiger via Regionalforum-Saar <regionalforum-saar(a)genealogy.net>

Guten Abend,

ich habe die Namen und einige Daten der coburgischen Beamten, die beim Verkauf des Fürstenthums Lichtenberg von den Preußen übernommen wurden, abgeschrieben und auf meine Website gesetzt.

=> https://www.hfrg.de/index.php?id=1299

Das Originaldokument SaCoReg 83 liegt im Landesarchiv Saarbrücken.

Bene Vale

Roland Geiger

Re: [Regionalforum-Saar] https://www.hfrg.de/index.php?id=1299

Date: 2024/09/05 00:18:20
From: Robert Groß via Regionalforum-Saar <regionalforum-saar(a)genealogy.net>

Hallo Roland, vielen Dank und freundliche Grüße, Robert

 

_

Robert Groß

Winterbach

In den Baumgärten 20

DE 66606 St. Wendel

Tel.: 049 6851 3763

E-Mail: robalgross(a)gmx.de

 

Von: regionalforum-saar-bounces(a)genealogy.net [mailto:regionalforum-saar-bounces(a)genealogy.net] Im Auftrag von Roland Geiger via Regionalforum-Saar
Gesendet: Mittwoch, 4. September 2024 23:39
An: Regionalforum-Saar <regionalforum-saar(a)genealogy.net>; saarland-l(a)genealogy.net; Pfalz-L <pfalz-l(a)genealogy.net>; Hunsrueck-L <hunsrueck-l(a)genealogy.net>
Betreff: [Regionalforum-Saar] https://www.hfrg.de/index.php?id=1299

 

Guten Abend,

ich habe die Namen und einige Daten der coburgischen Beamten, die beim Verkauf des Fürstenthums Lichtenberg von den Preußen übernommen wurden, abgeschrieben und auf meine Website gesetzt.

=> https://www.hfrg.de/index.php?id=1299

Das Originaldokument SaCoReg 83 liegt im Landesarchiv Saarbrücken.

Bene Vale

Roland Geiger

[Regionalforum-Saar] Seeleninspektor

Date: 2024/09/05 15:44:12
From: Roland Geiger via Regionalforum-Saar <regionalforum-saar(a)genealogy.net>

Hallo,
als 1834 die coburgischen Beamten von den Preußen übernommen wurden, taucht in einer Akte dieser Begriff auf:

„Hallauer, Wendel, 33
seit 1827 katholischer Pastor zu Namborn, definitiv, und seit 1832 provisorischer Seelen=Inspector
geboren zu St. Wendel“

Weiß jemand, was ein Seeleninspektor war?

Roland Geiger

Re: [Regionalforum-Saar] Prof. Dr. Benno Rech aus Thalexweiler gestorben

Date: 2024/09/08 00:13:22
From: Hans Werner Schmitt <hanswerner-schmitt(a)t-online.de>

Sehr geehrter Herr Geiger,

die in der weitergeleiteten Mail von Herrn Brill erwähnte "anhängende Pressemitteilung" ist bei mir nicht angekommen. Wenn sie die Pressemitteilung noch haben, darf ich Sie bitten, diese mir zuzusenden. Vielen Dank.

Mit freundlichen Grüßen

Hans Werner Schmitt


Am 04.09.2024 um 13:15 schrieb Roland Geiger via Regionalforum-Saar:
Sehr geehrte Damen und Herren,  

Knapp ein Jahr nach dem Tod des saarländischen Dichters Johannes Kühn ist auch dessen langjähriger Freund und Mentor Prof. Dr. Benno Rech aus Thalexweiler gestorben. Wie die Johannes-Kühn-Gesellschaft am heutigen Mittwoch, dem 4. September 2024 mitteilte, erlag der Germanist und Gymnasiallehrer in der Nacht zuvor im Alter von 89 Jahren einer schweren Krankheit.

Alles Weitere entnehmen Sie bitte der anhängenden Pressemitteilung. Sie enthält gegenüber früheren Informationen, die ich Ihnen zugesandt hatte, einige Ergänzungen, z. B. betreffend das Studium des Verstrobenen.

Außerdem übersende ich Ihnen ein paar Informationen zur Johannes-Kühn-Gesellschaft, die sich unlängst gegründet hat. Ab sofort ist auch unsere WEbsite  www.johannes-kuehn.de freigeschaltet.

Mit freundlichen Grüßen und herzlichem Dank

Ihr Klaus Brill

Vorstandsmitglied der Johannes-Kühn-Gesellschaft  06455-755.195, 0176-4191.5502


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[Regionalforum-Saar] Deportiert.

Date: 2024/09/13 07:45:11
From: Roland Geiger via Regionalforum-Saar <regionalforum-saar(a)genealogy.net>

Deportiert. »Immer mit einem Fuß im Grab« – Erfahrungen deutscher Juden
Eine kollektive Erzählung auf Basis Hunderter Zeugnisse

Autor Andrea Löw

Frankfurt am Main 2024: S. Fischer
Anzahl Seiten 364 S.
Preis € 26,00
ISBN 978-3-10-397542-0

Rezensiert für H-Soz-Kult von  Malte Grünkorn, Forschungsstelle Regionale Zeitgeschichte und Public History (frzph) der Europa-Universität Flensburg

Am 24. Juli 1942 schreibt der damals Achtzehnjährige Oscar Hoffmann eine Postkarte aus Minsk in seine Herkunftsstadt Troisdorf. Er sei nach fast 90-stündiger Fahrt gut angekommen, „gesund, munter u. guten Mutes“, er hoffe nun in einem der „hiesigen Betriebe“ Arbeit zu bekommen, brauche daher ein Arbeitszeugnis. Kurz nachdem er dies schrieb, wurde er in Maly Trostenez wie Tausende weitere Menschen durch Täter der SS und Schutzpolizei erschossen. Diese Postkarte sowie ein Porträt des jungen Mannes finden sich in dem neuen Buch von Andrea Löw abgedruckt (S. 69). Der Anspruch von „Deportiert. ‚Immer mit einem Fuß im Grab‘. Erfahrungen deutscher Juden“, erschienen im S. Fischer Verlag, ist es, diejenigen zu Wort kommen zu lassen, welche die furchtbare Erfahrung, von den Nationalsozialisten „in den Osten“ verschleppt zu werden, selbst durchleiden mussten.1

Es finden sich daher sehr viele ähnlich erschütternde Zitate und Geschichten, die in einer anschaulichen und dicht erzählten Schilderung der Deportationserfahrungen von deutschen (und österreichischen) Jüdinnen und Juden aufgehen. Es gelingt Andrea Löw, die individuellen Erfahrungen von verfolgten, verschleppten und ermordeten Juden und Jüdinnen darzustellen, und diese wiederum in eine kollektive Erzählung der Deportationserfahrung deutscher Jüdinnen und Juden zu verweben. Dadurch ist die Lektüre insgesamt durch die erzählerische Nähe zu den monströsen Verbrechen, welche die Menschen erlitten haben, emotional so herausfordernd wie eine wissenschaftlich spannende Auseinandersetzung mit diesem zentralen Aspekt der Shoah. Die Quellengrundlage, aus der Löw diese kollektive Deportationserzählung deutscher Juden und Jüdinnen konstruiert, sind konsequent Selbstzeugnisse. Das heißt, es wird ausgiebig aus Briefen, Postkarten, Memoiren, Interviews mit Überlebenden, Tagebuchaufzeichnungen und ähnlichen Material zitiert. Löw kündigt zu Beginn an, dass sie ihre Aufgabe eher darin sieht, durch ihre Auswahl die Stimmen der Verfolgten, die in dieser Überlieferung sprechen, abzubilden, sodass „Themen, Schwerpunkte, vor allem auch der Ton der Studie“ (S. 8) durch diese geprägt seien.

Dies wird im Buch dann auch stringent umgesetzt. Täterhandeln und die Genese der stattfindenden Verbrechen laufen quasi als Hintergrunderzählung mit. Die Prozesse und Entscheidungen, die zur Massendeportation und Massenmord von Jüdinnen und Juden geführt haben, werden in der Einleitung kurz skizziert, aber sind größtenteils als bekannt vorausgesetzt. Diese erneut zu rekonstruieren hat sich dieses Buches allerdings auch dezidiert nicht zur Aufgabe gemacht. Zurecht, da die Entwicklungen und Entscheidungen, die zur Massendeportation von Juden und Jüdinnen ab 1941 geführt haben, bereits intensiv erforscht und beschrieben worden sind. Die Frage, wie die Betroffenen reagiert haben, welche Handlungsspielräume Deportationsopfer in einem Moment der Ohnmacht hatten, in den Mittelpunkt zu stellen, ist daher nachvollziehbar.

In neun Kapiteln erzählt Löw diese kollektive Deportationsgeschichte. Sie folgt in ihrer Darstellung grob einem chronologischen Aufbau, indem sie gewissermaßen eine idealtypische Deportationserfahrung von Vorbereitung bzw. Verhaftung, Abfahrt, Fahrt, Ankunft, Ghetto oder Lager und schließlich meist Ermordung konstruiert. Da die Deportationen mitnichten ein überall gleichförmiger Prozess waren – nach Raul Hilbergs Diktum hat jede Stadt ihre eigene Deportationsgeschichte –, offenbart sich ein Spannungsfeld zwischen den individuellen Erfahrungen, und dieser idealtypischen Erzählung, die das Buch durchzieht. Zwar erweitert Löw das Hilberg-Zitat dahingehend, dass „Jede und jeder Deportierte […] ihre und seine eigene Geschichte“ hat; gleichzeitig seien die Erfahrungen der Deportierten wiederum ähnlich gewesen, „auch wenn sie an unterschiedliche Orte verschleppt worden waren“ (S. 284). Diese Einschätzung ermöglicht erst eine kollektive erzählte Deportationsgeschichte, wie Löw sie hier konstruiert hat.

Vor der Abfahrt des Zuges war die Erwartungshaltung der Deportierten recht ambivalent. Es wird deutlich, dass zu mindestens in der ersten Deportationsphase ab Frühjahr 1941 noch kein Wissen unter den zur Deportation verurteilten Jüdinnen und Juden herrschte, darüber, was es heißen würde, „evakuiert“ zu werden, so der verwendete Euphemismus. Aber: „Was kann überhaupt ‚Wissen‘ in diesem Zusammenhang bedeuten? Selbst wenn manche bereits von Mordaktionen im ‚Osten‘ gehört hatten, hieß das nicht, dass sie unweigerlich auch von ihrer eigenen Ermordung ausgingen. Das, was an Gerüchten oder auch Nachrichten über Bekannte zu ihnen durchdrang, klang viel zu ungeheuerlich.“ (S. 38) Besonders drastisch ist in diesem Kontext das Erleben junger Menschen, die die längste Zeit ihres Lebens unter der Entrechtung und Verfolgung im Nationalsozialismus litten, für die die Deportation und damit Perspektive auf einem Neubeginn andernorts durchaus auch ein Hoffnungsschimmer oder Abenteuer sein konnte.2

Löw erzählt vor allem im Modus des Exemplarischen. Allgemeine Urteile fällt sie offenbar im Bemühen darum, die individuellen Erfahrungen nicht zu sehr einzuebnen, eher selten. Die Einschätzung über die Fahrt selbst ist insofern typisch für die abwägende Erzählweise des Buches: „Für manche war die Fahrt ein Wechselbad der Gefühle mit durchaus auch positiven Erfahrungen, für die meisten überwogen jedoch ganz deutlich negative Emotionen wie Angst, Unsicherheit und sicherlich auch Ekel angesichts der Verhältnisse in den Zügen. Bei einigen waren die Nerven dem Zerreißen nahe, sie kamen mit alledem überhaupt nicht zurecht und erlitten auf der Fahrt Nervenzusammenbrüche, wie dies Elsa Meyring von ihrem Mann berichtet.“ (S. 57)3

Neben der Abfahrt und Fahrt ist die Ankunft ein zentrales Moment der Deportationserfahrung. Hier gab es letztlich nur zwei Alternativen, entweder eine nahezu unmittelbare Ermordung, wie im eingangs geschilderten Fall des Oscar Hoffmann, oder der (meist vorübergehende) Aufschub und die Internierung in einem Ghetto oder Lager. Diesen Ankünften in den Ghettos in Riga, Minsk, Litzmannstadt, im Distrikt Lublin und Warschau widmet sich Löw in dem längsten Teil des Buches. So unterschiedlich diese auch waren, so überwiegt in den Berichten jedoch der Schrecken angesichts der vorgefundenen Verhältnisse. Besonders eindrücklich sind die Berichte der im Dezember 1941 in das Ghetto Riga verschleppten Menschen, die dort noch die Habseligkeiten und eingefrorenen Vorräte der kurz zuvor in den Wäldern im Rigaer Umland ermordeten lettischen Juden und Jüdinnen vorfanden.

In drei zentralen Kapiteln beschreibt Löw, wie die Deportierten an den Zielorten versuchten, das „Leben neu zu organisieren“ (S. 93), und wie sogar eine „gewisse Normalität“ angesichts des Massenmords einsetzte. Dabei stehen die Versuche der Deportierten im Vordergrund, ihre Würde unter den von den Nazis geschaffenen unmenschlichen Bedingungen zu bewahren. Das hieß konkret beispielsweise die eigene Hygiene aufrechtzuerhalten, in Unterkünften gegen Schmutz und Ungeziefer anzukämpfen, aber auch Rituale wie Feiertage durchzuführen, und kulturelle Veranstaltungen zu organisieren. Dadurch, dass persönliche Berichte an unterschiedlichen Stellen wieder aufgegriffen werden, ist es als Leser möglich, aber auf Grund zeitlicher und räumlicher Sprünge schwierig, individuelle Schicksale zu verfolgen wie die von Arthur Czuczka, Edith Blau, Oskar Rosenfeld, Esra Jurmann oder Jeanette Wolf.

Letztlich enden die meisten Deportationsgeschichten aber mit der Ermordung. Die zunehmende Hoffnungslosigkeit angesichts der eigenen ausweglosen Situation findet sich entsprechend in vielen der widergegebenen Berichte: „Die deportierten Jüdinnen und Juden erkannten bald, dass sie keineswegs von Gewalt und Massenmord verschont würden, weil sie sich, wie doch die Täter auch, in erster Linie als Deutsche oder Österreicher fühlten, aus derselben Kultur stammten, dieselbe Sprache sprachen. Diese Gemeinsamkeiten hatten bei manchen zunächst die Hoffnung genährt, ihnen sei ein anderes Schicksal bestimmt als den einheimischen Jüdinnen und Juden. Hilde Sherman erinnert sich an die Wirkung der ersten großen Mordaktion gegen die Deportierten im Frühjahr 1942: ‚Auch den Gutgläubigsten ging allmählich auf, dass wir Tote auf Abruf waren.‘“ (S. 165)4

Die enge Orientierung an Erfahrungsberichten ist zwar Stärke, mitunter aber auch Schwäche des Buches. Denn Löw übernimmt vielfach die Perspektive ihrer Quellen, der sie, gemäß des Anspruchs, die subjektiven Erfahrungen widerzugeben, keine ausgeprägte eigene analytische Stimme entgegenstellt. Das offenbart sich beispielsweise in der Schilderung der Beziehung zwischen „Ost und West“ (S. 103) – insofern, als die deutschen Jüdinnen und Juden durchaus nicht vorurteilsfrei auf Osteuropa und osteuropäische Juden und Jüdinnen schauten. Zudem werden Lücken aus der Überlieferung auch in der Erzählung offenbar. Löw ist sich allerdings dieser Abhängigkeit ihrer Erzählung von der lückenhaften Überlieferung nur allzu schmerzlich bewusst. Sie kann ja lediglich die Erfahrungen wiedergeben, die aufgeschrieben, erzählt oder sonstige Weise dokumentiert wurden. Viele der zitierten Erfahrungsberichte sind nachträglich von Überlebenden verfasst. Daher nehmen die Erfahrungen aus den Ghettos Litzmannstadt, Minsk oder Warschau weit mehr Raum ein als solche aus anderen Orten, wie den Konzentrations- und Vernichtungslagern, von denen die dort ermordeten Menschen wesentlich weniger Texte hinterlassen haben – in die allerdings auch die meisten deutschen Jüdinnen und Juden, mit Ausnahme von Theresienstadt, nicht direkt deportiert wurden.5

Dennoch, Löw gelingt es, die Geschichte der aus dem Reichsgebiet deportierten Jüdinnen und Juden auf nur 286 Seiten konzise, zugänglich und erfahrungsdicht zu erzählen. Dementsprechend ist der Eindruck, dass eine Leserchaft über die Fachwissenschaft hinaus anvisiert wurde. Für wissenschaftliche Leser ist vermutlich der durch die Lektüre erworbene Überblick über die Art und Inhalte der überlieferten Selbstzeugnisse besonders gewinnbringend. Diese würden vielleicht mitunter eine systematischer vergleichende Darstellungsweise bevorzugen – aber dieses Buch ist eben auch dezidiert kein umfassendes Nachschlagewerk, sondern gekonnt erzählte Geschichte.6 An der Thematik Interessierte werden jedenfalls an diesem Buch nicht vorbeikommen. Sie finden in dieser Geschichte der Deportationen deutscher Juden und Jüdinnen viele Anknüpfungspunkte für die vertiefte Auseinandersetzung mit den nationalsozialistischen Deportationen.

Anmerkungen:
1 Das titelgebende Zitat stammt dabei aus einem in Privatbesitz befindlichen Brief von Thea Nathan vom 22. Mai 1947.
2 Für diese Einschätzung verweist Löw auf den Erfahrungsbericht des aus Dresden deportierten Esra Jurmann: Esra Jurmann, Vor allen Dingen war ich ein Kind. Erinnerungen eines jüdischen Jungen aus Pirna, Dresden 2008.
3 „Für sie [Else Meyring, Anm.: M.G.] selbst war die Fahrt in der Folge furchtbar, denn ihr Mann bekam Angstzustände, er ‚wollte ins Gepäcknetz klettern und drehte mir und der mir helfenden Schwester fast die Arme aus den Gelenken, wenn wir ihn zurückhielten und beruhigen wollten.‘ Um seine zerrütteten Nerven zu beruhigen, erzählt sie ihm tagsüber, dass sie auf einer Erholungsreise seien, auf dem Weg in ein schönes Hotel. ‚Aber nachts quälte er mich, ihn zu Bett gehen zu lassen. Er ließ sich nicht auf dem Platz halten und wanderte störend durch den Wagen, die armen Mitreisenden aufschreckend. Doch hat sich niemand darüber beklagt. Jeder verstand das große und besondere Leid, das sich da manifestiert.‘“ (S. 55)
4 Hilde Shermann, Zwischen Tag und Dunkel. Mädchenjahre im Ghetto, Frankfurt am Main 2002, S. 51.
5 Dass das Deportationsziel Theresienstadt in dieser Darstellung kaum vorkommt, zu dem vor allem ältere Menschen in der zweiten Kriegsphase in kleineren Transporten verschleppt wurden, ist allerdings doch eine recht auffallende, nicht erläuterte Lücke.
6 Für einen systematisch vergleichenden Überblick siehe zum Beispiel: Beate Meyer (Hrsg.) Deutsche Jüdinnen und Juden in Ghettos und Lagern (1941–1945). Łódź. Chełmno. Minsk. Auschwitz. Theresienstadt, Berlin 2017. Dort ist auch Löw mit einem Beitrag über das Ghetto Litzmannstadt vertreten.

Zitation

Malte Grünkorn, Rezension zu: Löw, Andrea: Deportiert. »Immer mit einem Fuß im Grab« – Erfahrungen deutscher Juden. Frankfurt am Main 2024 , ISBN 978-3-10-397542-0, In: H-Soz-Kult, 11.09.2024, <www.hsozkult.de/publicationreview/id/reb-143113>.




[Regionalforum-Saar] genealogisches Seminar Ende Oktober

Date: 2024/09/28 09:41:15
From: Roland Geiger via Regionalforum-Saar <regionalforum-saar(a)genealogy.net>

Guten Morgen,

in vier Wochen - am 26. und 27. Oktober - findet in der Jugendherberge der Burglichtenberg bei Kusel das diesjährige Seminar „Vertiefende Familienforschung“ statt.

An den beiden Tagen werden diese Vorträge gehalten werden:

Anette Scholl
Deutsche als Minderheit in Russland

Beate Busch-Schirm
Familienforschung anhand von Notariatsurkunden

Christa Lippold
Eine Kinderlose als Vorfahrin

Prof. Dominick Heckmann
Älteste Stammbaumdarstellungen

Dr. Helmut Priewer
Pflanzliche Abortiva, Puerperalfieber und Müttersterblichkeit aus medizinhistorischer Sicht

Karl-Heinz Bernardy
Glaubensflüchtlinge aus dem Habsburgerreich in Preußen und Württemberg

Roland Geiger
Notariatsakten als genealogische Quellen

Stephan Friedrich
Sterben für Napoleon

Dr. Helmut Schmahl
"Genealogische Forschung im Wandel: Ein persönlicher Rückblick 1979-2024".
                                                  &
(Deutsch-)amerikanische Zeitungen als Quelle für die Familienforschung

Die Teilnahmegebühr für beide Tage beträgt:
-  inkl. Übernachtung in der Jugendherberge Burglichtenberg mit „Vollpension“
- je nach Anreise
  125 Euro ab Samstag
  165 Euro ab Freitag

Zwei Zimmer sind noch frei.

Anmeldungen bitte an Roland Geiger, alsfassen(a)web.de


[Regionalforum-Saar] morgen Vortrag "Denkwürdige s und Merkwürdiges aus der Oldenburger Zeit" in Birkenfe ld

Date: 2024/09/30 08:23:29
From: Roland Geiger via Regionalforum-Saar <regionalforum-saar(a)genealogy.net>

Denkwürdiges und Merkwürdiges aus der Oldenburger Zeit

Paul Friedrich August, der erste Großherzog von Oldenburg, wird Thema sein.

BIRKENFELD |(red) Der Leiter des Landesmuseums Birkenfeld, Hisso von Selle, geht am Dienstag 1. Oktober, ab 18 Uhr in seinem Vortrag auf das im Jahr 1817 neu geschaffene Fürstentum Birkenfeld ein, das dem Herzog von Oldenburg als Landesherrn übergeben wurde. Der Vortrag findet in Kooperation mit der Kreisvolkshochschule im Landesmuseum statt und wird durch die Partnerschaft für Demokratie im Rahmen des Bundesprogramms „Demokratie Leben!“ unterstützt.

Die Teilnehmenden erfahren, wie es der Bevölkerung im Birkenfelder Land nach den unruhigen Zeiten mit Napoléon, ab 1817 unter der neuen Oldenburger Regierung mit Peter, Herzog von Gottes Gnaden erging.

Im Landesmuseum geht der Referent auf das Thema ein: die zögerliche Entwicklung zu demokratischen Verhältnissen. Hier werden die Revolutionen von 1848 und 1919 ebenso wie die wenig rühmliche Rolle der Bevölkerung in der Nazi-Zeit thematisiert, wie ein Sprecher des Museums mitteilt. Von Selle geht dabei auch auf die Entwicklung der Wirtschaft, vor allem der Land- und Forstwirtschaft und die positive Entwicklung des Schulwesens ein. Dabei zeigt er auch auf, welche Rolle die Birkenfelder Truppe 1848/49 und die französische Besatzung nach dem Ersten Weltkrieg spielte und warum der Kreis Birkenfeld 1937 plötzlich zu Preußen gehörte.

Neben einigen Anekdoten aus der 120-jährigen Geschichte des Kreises als Fürstentum Birkenfeld, gibt es auch Kurioses zu berichten. Zum Beispiel das neue Recht bei Ehescheidungen, die Aufgaben der Lehrer, Blüten der Bürokratie wie die Radfahrkarte oder eine unsägliche Feldpostkarte aus dem Ersten Weltkrieg. Am Ende des Vortrags nehmen die Gäste Denkwürdiges und sicherlich auch für uns heute Merkwürdiges mit einem Lächeln mit nach Hause, kündigt von Selle an.

Zum Abschluss an die Aussprache gibt es eine Verkostung des Birkenfelder Apfelsecco.

Die Gebühr beträgt drei Euro. Anmelden kann man sich direkt bei der Kreisvolkshochschule per E-Mail: vhs(a)landkreis-birkenfeld.de, Telefon (06782) 15104 oder über die Homepage:
www.vhs-birkenfeld.de