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2024/09/08 00:13:22 Hans Werner Schmitt Re: [Regionalforum-Saar] Prof. Dr. Benno Rech aus Thalexweiler gestorben |
Datum | 2024/09/28 09:41:15 Roland Geiger via Regionalforum-Saar [Regionalforum-Saar] genealogisches Seminar Ende Oktober |
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2024/09/02 17:46:53 gerald-sabine . linn [Regionalforum-Saar] (kein Betreff) |
Betreff | 2024/09/02 20:42:50 Roland Geiger via Regionalforum-Saar [Regionalforum-Saar] Ein deutscher Revolutionär im Amt. Carl Schurz und der Niedergang der Minderheitenrechte i n den USA der 1870er-Jahre |
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2024/09/05 15:44:12 Roland Geiger via Regionalforum-Saar [Regionalforum-Saar] Seeleninspektor |
Autor | 2024/09/28 09:41:15 Roland Geiger via Regionalforum-Saar [Regionalforum-Saar] genealogisches Seminar Ende Oktober |
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Date: 2024/09/13 07:45:11
From: Roland Geiger via Regionalforum-Saar <regionalforum-saar(a)...
Deportiert. »Immer mit einem Fuß im Grab« –
Erfahrungen
deutscher Juden
Eine kollektive Erzählung auf Basis Hunderter Zeugnisse
Autor Andrea Löw
Frankfurt am Main 2024: S.
Fischer
Anzahl Seiten 364 S.
Preis € 26,00
ISBN 978-3-10-397542-0
Rezensiert für H-Soz-Kult von Malte Grünkorn,
Forschungsstelle Regionale
Zeitgeschichte und Public History (frzph) der Europa-Universität
Flensburg
Am 24. Juli 1942 schreibt der damals Achtzehnjährige Oscar
Hoffmann eine
Postkarte aus Minsk in seine Herkunftsstadt Troisdorf. Er sei nach
fast 90-stündiger
Fahrt gut angekommen, „gesund, munter u. guten Mutes“, er hoffe
nun in einem
der „hiesigen Betriebe“ Arbeit zu bekommen, brauche daher ein
Arbeitszeugnis.
Kurz nachdem er dies schrieb, wurde er in Maly Trostenez wie
Tausende weitere
Menschen durch Täter der SS und Schutzpolizei erschossen. Diese
Postkarte sowie
ein Porträt des jungen Mannes finden sich in dem neuen Buch von
Andrea Löw
abgedruckt (S. 69). Der Anspruch von „Deportiert. ‚Immer mit einem
Fuß im
Grab‘. Erfahrungen deutscher Juden“, erschienen im S. Fischer
Verlag, ist es,
diejenigen zu Wort kommen zu lassen, welche die furchtbare
Erfahrung, von den
Nationalsozialisten „in den Osten“ verschleppt zu werden, selbst
durchleiden
mussten.1
Es finden sich daher sehr viele ähnlich erschütternde Zitate und
Geschichten,
die in einer anschaulichen und dicht erzählten Schilderung der
Deportationserfahrungen von deutschen (und österreichischen)
Jüdinnen und Juden
aufgehen. Es gelingt Andrea Löw, die individuellen Erfahrungen von
verfolgten,
verschleppten und ermordeten Juden und Jüdinnen darzustellen, und
diese
wiederum in eine kollektive Erzählung der Deportationserfahrung
deutscher
Jüdinnen und Juden zu verweben. Dadurch ist die Lektüre insgesamt
durch die
erzählerische Nähe zu den monströsen Verbrechen, welche die
Menschen erlitten
haben, emotional so herausfordernd wie eine wissenschaftlich
spannende
Auseinandersetzung mit diesem zentralen Aspekt der Shoah. Die
Quellengrundlage,
aus der Löw diese kollektive Deportationserzählung deutscher Juden
und Jüdinnen
konstruiert, sind konsequent Selbstzeugnisse. Das heißt, es wird
ausgiebig aus
Briefen, Postkarten, Memoiren, Interviews mit Überlebenden,
Tagebuchaufzeichnungen und ähnlichen Material zitiert. Löw kündigt
zu Beginn
an, dass sie ihre Aufgabe eher darin sieht, durch ihre Auswahl die
Stimmen der
Verfolgten, die in dieser Überlieferung sprechen, abzubilden,
sodass „Themen,
Schwerpunkte, vor allem auch der Ton der Studie“ (S. 8) durch
diese geprägt
seien.
Dies wird im Buch dann auch stringent umgesetzt. Täterhandeln und
die Genese
der stattfindenden Verbrechen laufen quasi als
Hintergrunderzählung mit. Die
Prozesse und Entscheidungen, die zur Massendeportation und
Massenmord von
Jüdinnen und Juden geführt haben, werden in der Einleitung kurz
skizziert, aber
sind größtenteils als bekannt vorausgesetzt. Diese erneut zu
rekonstruieren hat
sich dieses Buches allerdings auch dezidiert nicht zur Aufgabe
gemacht.
Zurecht, da die Entwicklungen und Entscheidungen, die zur
Massendeportation von
Juden und Jüdinnen ab 1941 geführt haben, bereits intensiv
erforscht und
beschrieben worden sind. Die Frage, wie die Betroffenen reagiert
haben, welche
Handlungsspielräume Deportationsopfer in einem Moment der Ohnmacht
hatten, in
den Mittelpunkt zu stellen, ist daher nachvollziehbar.
In neun Kapiteln erzählt Löw diese kollektive
Deportationsgeschichte. Sie folgt
in ihrer Darstellung grob einem chronologischen Aufbau, indem sie
gewissermaßen
eine idealtypische Deportationserfahrung von Vorbereitung bzw.
Verhaftung,
Abfahrt, Fahrt, Ankunft, Ghetto oder Lager und schließlich meist
Ermordung
konstruiert. Da die Deportationen mitnichten ein überall
gleichförmiger Prozess
waren – nach Raul Hilbergs Diktum hat jede Stadt ihre eigene
Deportationsgeschichte –, offenbart sich ein Spannungsfeld
zwischen den individuellen
Erfahrungen, und dieser idealtypischen Erzählung, die das Buch
durchzieht. Zwar
erweitert Löw das Hilberg-Zitat dahingehend, dass „Jede und jeder
Deportierte
[…] ihre und seine eigene Geschichte“ hat; gleichzeitig seien die
Erfahrungen
der Deportierten wiederum ähnlich gewesen, „auch wenn sie an
unterschiedliche
Orte verschleppt worden waren“ (S. 284). Diese Einschätzung
ermöglicht erst
eine kollektive erzählte Deportationsgeschichte, wie Löw sie hier
konstruiert
hat.
Vor der Abfahrt des Zuges war die Erwartungshaltung der
Deportierten recht
ambivalent. Es wird deutlich, dass zu mindestens in der ersten
Deportationsphase ab Frühjahr 1941 noch kein Wissen unter den zur
Deportation
verurteilten Jüdinnen und Juden herrschte, darüber, was es heißen
würde,
„evakuiert“ zu werden, so der verwendete Euphemismus. Aber: „Was
kann überhaupt
‚Wissen‘ in diesem Zusammenhang bedeuten? Selbst wenn manche
bereits von
Mordaktionen im ‚Osten‘ gehört hatten, hieß das nicht, dass sie
unweigerlich
auch von ihrer eigenen Ermordung ausgingen. Das, was an Gerüchten
oder auch
Nachrichten über Bekannte zu ihnen durchdrang, klang viel zu
ungeheuerlich.“
(S. 38) Besonders drastisch ist in diesem Kontext das Erleben
junger Menschen,
die die längste Zeit ihres Lebens unter der Entrechtung und
Verfolgung im
Nationalsozialismus litten, für die die Deportation und damit
Perspektive auf
einem Neubeginn andernorts durchaus auch ein Hoffnungsschimmer
oder Abenteuer
sein konnte.2
Löw erzählt vor allem im Modus des Exemplarischen. Allgemeine
Urteile fällt sie
offenbar im Bemühen darum, die individuellen Erfahrungen nicht zu
sehr
einzuebnen, eher selten. Die Einschätzung über die Fahrt selbst
ist insofern
typisch für die abwägende Erzählweise des Buches: „Für manche war
die Fahrt ein
Wechselbad der Gefühle mit durchaus auch positiven Erfahrungen,
für die meisten
überwogen jedoch ganz deutlich negative Emotionen wie Angst,
Unsicherheit und
sicherlich auch Ekel angesichts der Verhältnisse in den Zügen. Bei
einigen
waren die Nerven dem Zerreißen nahe, sie kamen mit alledem
überhaupt nicht
zurecht und erlitten auf der Fahrt Nervenzusammenbrüche, wie dies
Elsa Meyring
von ihrem Mann berichtet.“ (S. 57)3
Neben der Abfahrt und Fahrt ist die Ankunft ein zentrales Moment
der
Deportationserfahrung. Hier gab es letztlich nur zwei
Alternativen, entweder
eine nahezu unmittelbare Ermordung, wie im eingangs geschilderten
Fall des
Oscar Hoffmann, oder der (meist vorübergehende) Aufschub und die
Internierung
in einem Ghetto oder Lager. Diesen Ankünften in den Ghettos in
Riga, Minsk,
Litzmannstadt, im Distrikt Lublin und Warschau widmet sich Löw in
dem längsten
Teil des Buches. So unterschiedlich diese auch waren, so überwiegt
in den
Berichten jedoch der Schrecken angesichts der vorgefundenen
Verhältnisse.
Besonders eindrücklich sind die Berichte der im Dezember 1941 in
das Ghetto
Riga verschleppten Menschen, die dort noch die Habseligkeiten und
eingefrorenen
Vorräte der kurz zuvor in den Wäldern im Rigaer Umland ermordeten
lettischen
Juden und Jüdinnen vorfanden.
In drei zentralen Kapiteln beschreibt Löw, wie die Deportierten an
den
Zielorten versuchten, das „Leben neu zu organisieren“ (S. 93), und
wie sogar
eine „gewisse Normalität“ angesichts des Massenmords einsetzte.
Dabei stehen
die Versuche der Deportierten im Vordergrund, ihre Würde unter den
von den
Nazis geschaffenen unmenschlichen Bedingungen zu bewahren. Das
hieß konkret
beispielsweise die eigene Hygiene aufrechtzuerhalten, in
Unterkünften gegen
Schmutz und Ungeziefer anzukämpfen, aber auch Rituale wie
Feiertage
durchzuführen, und kulturelle Veranstaltungen zu organisieren.
Dadurch, dass
persönliche Berichte an unterschiedlichen Stellen wieder
aufgegriffen werden,
ist es als Leser möglich, aber auf Grund zeitlicher und räumlicher
Sprünge
schwierig, individuelle Schicksale zu verfolgen wie die von Arthur
Czuczka,
Edith Blau, Oskar Rosenfeld, Esra Jurmann oder Jeanette Wolf.
Letztlich enden die meisten Deportationsgeschichten aber mit der
Ermordung. Die
zunehmende Hoffnungslosigkeit angesichts der eigenen ausweglosen
Situation
findet sich entsprechend in vielen der widergegebenen Berichte:
„Die
deportierten Jüdinnen und Juden erkannten bald, dass sie
keineswegs von Gewalt
und Massenmord verschont würden, weil sie sich, wie doch die Täter
auch, in
erster Linie als Deutsche oder Österreicher fühlten, aus derselben
Kultur
stammten, dieselbe Sprache sprachen. Diese Gemeinsamkeiten hatten
bei manchen
zunächst die Hoffnung genährt, ihnen sei ein anderes Schicksal
bestimmt als den
einheimischen Jüdinnen und Juden. Hilde Sherman erinnert sich an
die Wirkung
der ersten großen Mordaktion gegen die Deportierten im Frühjahr
1942: ‚Auch den
Gutgläubigsten ging allmählich auf, dass wir Tote auf Abruf
waren.‘“ (S. 165)4
Die enge Orientierung an Erfahrungsberichten ist zwar Stärke,
mitunter aber
auch Schwäche des Buches. Denn Löw übernimmt vielfach die
Perspektive ihrer
Quellen, der sie, gemäß des Anspruchs, die subjektiven Erfahrungen
widerzugeben, keine ausgeprägte eigene analytische Stimme
entgegenstellt. Das
offenbart sich beispielsweise in der Schilderung der Beziehung
zwischen „Ost
und West“ (S. 103) – insofern, als die deutschen Jüdinnen und
Juden durchaus
nicht vorurteilsfrei auf Osteuropa und osteuropäische Juden und
Jüdinnen
schauten. Zudem werden Lücken aus der Überlieferung auch in der
Erzählung
offenbar. Löw ist sich allerdings dieser Abhängigkeit ihrer
Erzählung von der
lückenhaften Überlieferung nur allzu schmerzlich bewusst. Sie kann
ja lediglich
die Erfahrungen wiedergeben, die aufgeschrieben, erzählt oder
sonstige Weise
dokumentiert wurden. Viele der zitierten Erfahrungsberichte sind
nachträglich
von Überlebenden verfasst. Daher nehmen die Erfahrungen aus den
Ghettos
Litzmannstadt, Minsk oder Warschau weit mehr Raum ein als solche
aus anderen
Orten, wie den Konzentrations- und Vernichtungslagern, von denen
die dort ermordeten
Menschen wesentlich weniger Texte hinterlassen haben – in die
allerdings auch
die meisten deutschen Jüdinnen und Juden, mit Ausnahme von
Theresienstadt,
nicht direkt deportiert wurden.5
Dennoch, Löw gelingt es, die Geschichte der aus dem Reichsgebiet
deportierten
Jüdinnen und Juden auf nur 286 Seiten konzise, zugänglich und
erfahrungsdicht
zu erzählen. Dementsprechend ist der Eindruck, dass eine
Leserchaft über die
Fachwissenschaft hinaus anvisiert wurde. Für wissenschaftliche
Leser ist
vermutlich der durch die Lektüre erworbene Überblick über die Art
und Inhalte
der überlieferten Selbstzeugnisse besonders gewinnbringend. Diese
würden
vielleicht mitunter eine systematischer vergleichende
Darstellungsweise
bevorzugen – aber dieses Buch ist eben auch dezidiert kein
umfassendes
Nachschlagewerk, sondern gekonnt erzählte Geschichte.6 An der Thematik
Interessierte werden
jedenfalls an diesem Buch nicht vorbeikommen. Sie finden in dieser
Geschichte
der Deportationen deutscher Juden und Jüdinnen viele
Anknüpfungspunkte für die
vertiefte Auseinandersetzung mit den nationalsozialistischen
Deportationen.
Anmerkungen:
1 Das titelgebende Zitat stammt
dabei aus
einem in Privatbesitz befindlichen Brief von Thea Nathan vom 22.
Mai 1947.
2 Für diese Einschätzung
verweist Löw auf den
Erfahrungsbericht des aus Dresden deportierten Esra Jurmann: Esra
Jurmann, Vor
allen Dingen war ich ein Kind. Erinnerungen eines jüdischen Jungen
aus Pirna,
Dresden 2008.
3 „Für sie [Else Meyring, Anm.:
M.G.] selbst
war die Fahrt in der Folge furchtbar, denn ihr Mann bekam
Angstzustände, er
‚wollte ins Gepäcknetz klettern und drehte mir und der mir
helfenden Schwester
fast die Arme aus den Gelenken, wenn wir ihn zurückhielten und
beruhigen
wollten.‘ Um seine zerrütteten Nerven zu beruhigen, erzählt sie
ihm tagsüber,
dass sie auf einer Erholungsreise seien, auf dem Weg in ein
schönes Hotel.
‚Aber nachts quälte er mich, ihn zu Bett gehen zu lassen. Er ließ
sich nicht
auf dem Platz halten und wanderte störend durch den Wagen, die
armen
Mitreisenden aufschreckend. Doch hat sich niemand darüber beklagt.
Jeder
verstand das große und besondere Leid, das sich da manifestiert.‘“
(S. 55)
4 Hilde Shermann, Zwischen Tag
und Dunkel.
Mädchenjahre im Ghetto, Frankfurt am Main 2002, S. 51.
5 Dass das Deportationsziel
Theresienstadt in
dieser Darstellung kaum vorkommt, zu dem vor allem ältere Menschen
in der
zweiten Kriegsphase in kleineren Transporten verschleppt wurden,
ist allerdings
doch eine recht auffallende, nicht erläuterte Lücke.
6 Für einen systematisch
vergleichenden
Überblick siehe zum Beispiel: Beate Meyer (Hrsg.) Deutsche
Jüdinnen und Juden
in Ghettos und Lagern (1941–1945). Łódź. Chełmno. Minsk.
Auschwitz.
Theresienstadt, Berlin 2017. Dort ist auch Löw mit einem Beitrag
über das
Ghetto Litzmannstadt vertreten.
Zitation
Malte Grünkorn, Rezension zu: Löw, Andrea: Deportiert. »Immer mit
einem Fuß im
Grab« – Erfahrungen deutscher Juden. Frankfurt am Main 2024 , ISBN
978-3-10-397542-0,
In: H-Soz-Kult, 11.09.2024, <www.hsozkult.de/publicationreview/id/reb-143113>.