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2023/05/10 06:27:29 alsfassen via Regionalforum-Saar Re: [Regionalforum-Saar] Re: Meistrich |
Datum | 2023/05/15 10:09:34 Roland Geiger via Regionalforum-Saar [Regionalforum-Saar] Von den Römern bis zur Reform ation – Tagesexkursion in die Kirchengeschichte von Tri er |
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2023/05/27 09:04:08 Roland Geiger via Regionalforum-Saar [Regionalforum-Saar] ganz schlechte Wortwahl |
Betreff | 2023/05/15 14:52:24 Roland Geiger via Regionalforum-Saar [Regionalforum-Saar] Jüdische Familiengeschichten im Comic |
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2023/05/07 21:49:04 Roland Geiger via Regionalforum-Saar Re: [Regionalforum-Saar] Meistrich |
Autor | 2023/05/15 10:09:34 Roland Geiger via Regionalforum-Saar [Regionalforum-Saar] Von den Römern bis zur Reform ation – Tagesexkursion in die Kirchengeschichte von Tri er |
Date: 2023/05/15 10:06:10
From: Roland Geiger via Regionalforum-Saar <regionalforum-saar(a)...
Grenzen der Sicherheit. Unfälle, Medien und
Politik im
deutschen Kaiserreich
Herausgeber Caruso,
Amerigo; Metzger,
Birgit
Erschienen Göttingen 2022: Wallstein
Verlag
Anzahl Seiten 293 S., 22 Abb.
Preis € 36,90
ISBN 978-3-8353-3906-4
Inhalt => meinclio.clio-online.de/uploads/media/book/toc_book-75501.pdf
Rezensiert für H-Soz-Kult von Marcus Böick, Center for European
Studies,
Harvard University
Erstaunlich lakonisch gibt der Text auf dem Schutzumschlag
Auskunft über den
Inhalt des Buches: „Über Schiffsunglücke, Arbeitsunfälle und
abgestürzte
Zeppeline“. Und in der Tat bilden diese Themenblöcke Schwerpunkte
in einem
Sammelband, der sich mit der (Medien-)Geschichte von Unfällen im
deutschen
Kaiserreich befasst. Das Herausgeberduo Birgit Metzger und Amerigo
Caruso nimmt
sich in einer umfassenden Einleitung einiges vor: Unfälle
markierten, so heißt
es, „ebenso wie Gewalt oder Krankheiten die Grenzen von
individueller und
kollektiver Sicherheit“; sie entstünden „in einem komplexen
Zusammenspiel von
menschlichem Handeln und Verhalten mit natürlichen wie technischen
Umwelten“,
die sich „der individuellen Kontrolle weitgehend“ entzögen (S. 7).
Diese werden
mithin als „Augenblicke der Disruption“ verstanden, die gleichsam
„grundsätzliche Frage[n] der Sicherheit, Freiheit und sozialen
Gerechtigkeit“
(ebd.) aufwirbelten. Dabei sei es, so die Grundannahme, gerade um
1900 im
„Prozess der Modernisierung“ (ebd.) zu einer umfassenden
Rekonfiguration des
Ensembles aus Öffentlichkeit, Staat und Gesellschaft im
Kaiserreich gekommen,
die auch individuelle wie kollektive Fragen von Sicherheit und
Risiko
transformiert habe.
Metzger und Caruso wollen damit explizit an zwei aktuelle
Debattenstränge
anknüpfen, die in den letzten Jahren die hiesige Zunft mit Blick
auf das späte
19. und frühe 20. Jahrhundert umgetrieben haben: die Diskussionen
um einen
Wandel von Sicherheitskulturen und Risikokonzepten einerseits[1] sowie die teils schrillen
Kontroversen um
die Modernität des Kaiserreichs andererseits.[2] Unfälle sollen dabei –
hierauf wird noch
zurückzukommen sein – als „Sonde“ begriffen werden, die geeignet
sei, „latente
soziale und politische Spannungen auszuleuchten sowie das
Verhältnis zu
Fortschritt und Nation, Exklusions- und Inklusionsmechanismen zu
eruieren“ (S.
10). Insbesondere gelte es, die „Grundfrage der Unfallgeschichte“
schlechthin
zu adressieren – nämlich „wie Menschen zu verschiedenen Zeiten und
Orten
Unfälle ebenso wie Katastrophen (verstanden als
Großschadensereignisse)
wahrgenommen haben wie sie damit umgegangen“ seien (ebd.). Im
Laufe des 19.
Jahrhunderts habe sich dabei eine „Säkularisierung des Unfalls“
vollzogen, die
das Herausgeberduo zugleich mit einem „Trend zur Kollektivierung
von Risiken“,
steigenden Ansprüchen an den Staat, einem zunehmenden
gesellschaftlichen
Risikobewusstsein sowie einer „Ambivalenz technischer Lösungen“
verknüpft
(ebd.). Die konzeptionell stark verdichtete, aber im Grundimpuls
überzeugende
Einleitung arbeitet sich noch an weiteren Punkten ab (etwa zur
Pluralisierung
des Mediensystems, zur Ambivalenz des Technologie-Verständnisses
oder zur
„Gender-Gap“ in der Unfallgeschichte), die allerdings den Blick
auf das
konzeptionelle Kernanliegen – der Unfall als historiografische
„Sonde“ einer
ambivalenten Modernisierung im späten 19. Jahrhundert – nicht
verstellen
sollen.
Ein erster Abschnitt mit vier Texten ist Fragen von „Unfallpolitik
und
Krisenkommunikation“ gewidmet. Julia Moses konstatiert in ihrem
transnational
ausgerichteten Beitrag ein „Jahrhundert des Unfalls“, das sie
anhand einer
„Geneaologie der Haftung“ für Arbeitsunfälle beschreibt: Im Laufe
des 19.
Jahrhunderts seien in europäischen Gesellschaften Fragen von
Anerkennung, Entschädigung
und Verantwortung für bzw. bei Arbeitsunfällen mit Blick auf in
eine sich
dynamisch industrialisierende Welt immer stärker als „soziale
Rechte“
problematisiert und auf verschiedene Weise institutionalisiert,
aber zugleich
auch kritisch (als missbräuchliches „Simulantentum“) diskutiert
worden. Einen
anderen Fokus wählt der Beitrag zu „Schießunfällen“ von Dagmar
Ellerbrock, die
die analytische Kategorie der „Sicherheitsgefühle“ entwickelt und
nachdrücklich
für eine Verzahnung von Sicherheits- und Emotionsgeschichte wirbt:
Die Anfang
des 20. Jahrhunderts plötzlich in staatlichen Stellen,
skandalisierender
Öffentlichkeit und verunsicherter Gesellschaft aufkommende
intensive Debatte
über einen nunmehr als gefährlich empfundenen und unbedingt zu
regulierenden
Schusswaffengebrauch (vor allem bei jüngeren Männern) wird als
„Kipppunkt“
gedeutet, der – in Anlehnung an Reinhart Koselleck – mit Blick auf
den privaten
Schusswaffenbesitz und -gebrauch zu einer tiefgreifenden
Rekonfiguration im
Verhältnis von „Sicherheitserfahrungen“ sowie
„Sicherheitserwartungen“ geführt
habe.
Die weiteren Beiträge von Sebastian Rojek und Birgit Metzger
beschäftigen sich
mit dem Militär: Rojek untersucht die öffentlichen Diskussionen
wie politischen
Debatten über den strategischen wie nationalen Stellenwert der
neugegründeten
kaiserlichen Marine nach dem dramatischen Untergang des
Panzerschiffs „Großer
Kurfürst“ im Mai 1878. Der Streit kreiste um die schillernde
Person des
Marine-Ministers Albrecht von Stosch, der als „fachfremder“
Infanterie-General
in der Kritik stand, wobei der spektakuläre Untergang des
Kriegsschiffs einen
„zentralen Wendepunkt“ in der öffentlichen Wahrnehmung einer
bislang
„traditionslosen“ (S. 93) Marine dargestellt habe. Metzger
beschäftigt sich im
Gegensatz zu diesem spektakulären Fall stärker mit kleineren
Unfällen als
„Grenzobjekten“ (S. 113) aus dem Alltag des Militärs, hier der
württembergischen Armee. In den letzten drei Jahrzehnten des 19.
Jahrhunderts
seien dabei individuelle Todesunfälle im Rahmen des
Militärdienstes, etwa durch
„Hitzschlag“ während des Drills, zunehmend als vermeidbares
Problem von der
(Lokal-)Presse kritisch diskutiert und von Experten statistisch
analysiert
worden, während sich zugleich die gesellschaftliche
„Risikoakzeptanz“ gewandelt
habe.
Der zweite Block zu „Unfallpolitik und Krisenkommunikation“
vereint drei
Beiträge, die teils in die Höhe führen (wie Jürgen Bleiblers
Beitrag über die
kontroversen Debatten um den Absturz des Marineluftschiffes „L2“
im Herbst
1913), teils aber auch in die Tiefe (wie Michael Farrenkopfs
Zusammenschau zu
Grubenunglücken im Kaiserreich). Während Bleibler den politischen
wie medialen
Umgang mit der „größten Luftfahrtkatastrophe vor dem Ersten
Weltkrieg“ (S. 122)
und vor allem die symbolisch stark aufgeladene Rolle des Grafen
Zeppelin
behandelt, arbeitet Farrenkopf in einem scharfkantigen Dreischritt
den Wandel
des Umgangs mit immer häufiger auftretenden Grubenunglücken
heraus. Von frühen
Versuchen zur technischen Prävention über Debatten, die zwischen
Staat,
Großkapital und Öffentlichkeit um Verantwortlichkeiten ausgetragen
wurden, bis
hin zur zunehmenden politischen und medialen „Funktionialisierung“
von Unfällen
durch verschiedene Interessengruppen – insbesondere am Beispiel
der
„Explosionskatastrophe“ im Schacht Radbod bei Hamm im November
1908. Der dritte
Beitrag von Fabian Trinkhaus schließlich diskutiert die sich
wandelnde
Wahrnehmung von Unfällen in der Eisen- und Stahlindustrie des
Saarlandes und
die hiesige „Unfallpolitik“ im Spannungsfeld von paternalistischen
Unternehmern
und mobilisierenden Gewerkschaftsvertretern.
Der dritte und letzte inhaltliche Block widmet sich
„Unfallnarrativen und
Medien“. Amerigo Caruso beschreibt in seinem quellennahen Stück
einen Vorfall,
der es als „letzter vormoderner Unfall“ nur fast zu einem
transnationalen
Medienereignis gebracht habe: Als König August II. von Sachsen im
Sommer 1854
bei einer Kutschfahrt in den Alpen tödlich verunglückte, hätten
Medialisierung
und „politische Funktionalisierung“ (S. 211) des unerwarteten
Todesfalls
zwischen älteren, religiösen Interpretationen
(schicksalhaft-tragisches
„Unglück“) und neueren, risikobezogenen Deutungen
(riskant-unverantwortliches
Verhalten) oszilliert. Neuartige (Massen-)Medialisierungsdynamiken
bestimmen
den Beitrag von Rüdiger Haube. Dieser widmet sich abermals der
„deutschen“
Luftschifffahrt, die trotz immer wieder auftretender, teils
tödlicher Unfälle
und dramatischer Abstürze geradezu zum Symbol nationaler
Widerstandsfähigkeit
um den unverzagten „Heldengreis“ (S. 229) Graf Zeppelin umgedeutet
wurde. Die
„wiederholte Zerstörung eines Nationalsymbols“ habe daher
paradoxerweise stets
„zu Ausbrüchen von Begeisterung“ (S. 226) geführt. Etwas anders
ist die
Konstellation im letzten, von Peter Busse und Bernd Lukasch
verfassten Beitrag
über Otto Lilienthal als „modernen Ikarus“ gelagert. Dieser habe
zwar durch
seine teils fotografisch dokumentierten Flugversuche in den frühen
1890er-Jahren bisweilen transatlantische Aufmerksamkeit erregt,
sei jedoch nach
seinem tödlichen Unfall am 9. August 1896 nahe Berlin in
Vergessenheit geraten
und erst später, in den 1910er- und 1920er-Jahren, unter stets
verschiedenen
politischen Vorzeichen als „Pionier“ der Luftfahrt wiederentdeckt
worden.
Alles in allem ist der vorliegende Sammelband – der mit zwei
luziden Kommentaren
von Christiane G. Krüger und Peter Itzen schließt – ein durchaus
interessantes
Potpourri aus verschiedenen mikroskopischen Detailstudien, über
die Geschichte
von kleineren und größeren Unfällen und deren medialer
Verarbeitung. Doch
werden zugleich auch größere Fragen über die vieldiskutierte
„Hybridität“
Deutschlands in der Zeit um die Jahrhundertwende diskutiert.
Allerdings fällt
auf, dass die konzeptionellen Metaphern, mit denen die diversen
Autorinnen und
Autoren in ihren jeweiligen Texten arbeiten, recht unterschiedlich
gefasst
sind: Unfälle dienen dabei wahlweise als „Sonde“, „Brennglas“ oder
„Grenzobjekte“ (S. 113); sie werden als „Zäsur“ (S. 128),
„Katastrophe“ (S.
142), „Unglück“, „singuläres Ereignis“ (S. 180) oder schlichtweg
als „Störung des
Alltags“ (S. 213) verstanden. Doch wie die hier in einer
Kombination aus
politik-, sozial- und kulturhistorischen Ansätzen sehr vielfältig
beschriebenen
Medialisierungen bzw. Politisierungen letztlich auch
gesellschaftliche
Rezeptionen und weitergehende Resonanzen sowie kollektive oder
individuelle
Aneignungen dieser besonderen Ereignisse überzeugend empirisch
„sondieren“ und
aufschließen könnten, bliebe weiter zu diskutieren. An dieser
Stelle würden
sicher thematische Blick- wie perspektivische
Horizonterweiterungen hilfreich
sein: Thematisch über die gewählten Bereiche Militär,
(Schwer-)Industrie oder
(Luft-)Verkehr, perspektivisch über die nationalen Grenzen bzw.
europäischen
Konstellationen hinaus. Auf diese Weise ließe sich weiter über die
widersprüchlichen
Übergänge zwischen „Tradition“ und „Moderne“ bzw. „Schicksal“ und
„Risiko“ auch
in größeren Maßstäben diskutieren.
Anmerkungen:
[1] Siehe exemplarisch Eva van
Contzen / Tobias
Huff / Peter Itzen (Hrsg.), Risikogesellschaften. Literatur- und
geschichtswissenschaftliche Perspektiven, Bielefeld 2018.
[2] Vgl. jüngst bilanzierend
Birgit Aschmann /
Monika Wienfort (Hrsg.), Zwischen Licht und Schatten. Das
Kaiserreich
(1871–1914) und seine neuen Kontroversen, Frankfurt am Main 2022.
Zitation
Marcus Böick: Rezension zu: Caruso, Amerigo; Metzger, Birgit
(Hrsg.): Grenzen
der Sicherheit. Unfälle, Medien und Politik im deutschen
Kaiserreich. Göttingen
2022 , ISBN 978-3-8353-3906-4,, In: H-Soz-Kult,
10.05.2023, <www.hsozkult.de/publicationreview/id/reb-115061>.