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Datum | 2022/05/01 14:52:01 Roland Geiger via Regionalforum-Saar [Regionalforum-Saar] "Die Keller`sche Gesellschaft" |
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Autor | 2022/05/01 14:52:01 Roland Geiger via Regionalforum-Saar [Regionalforum-Saar] "Die Keller`sche Gesellschaft" |
Date: 2022/05/01 14:46:20
From: Roland Geiger via Regionalforum-Saar <regionalforum-saar(a)...
Tagebücher als Quellen. Forschungsfelder und Sammlungen seit 1800
Autor Li Gerhalter
Reihe L'Homme Schriften. Reihe zur Feministischen
Geschichtswissenschaft (27)
Erschienen Göttingen 2021: Vandenhoeck
& Ruprecht
Anzahl Seiten 459 S.
Preis € 40,00
ISBN 978-3-8471-1179-5
Rezensiert für H-Soz-Kult von Anna Leyrer, Institut für
Zeitgeschichte,
Universität Wien
Die „aktuelle Situation“ der Selbstzeugnisforschung beschreibt Li
Gerhalter in
ihrer Dissertation „Tagebücher als Quellen. Forschungsfelder und
Sammlungen seit
1800“ so: „Es wurde eine spiralförmige Dynamik in Gang gesetzt:
Weil
Selbstzeugnisse beforscht wurden, wurden sie gesucht. Weil sie
gesucht wurden,
wurden sie auch gefunden. Und weil sie jetzt verfügbar waren,
konnten sie
zunehmend ausdifferenziert beforscht werden – und werden es immer
noch.“ (S.
261)
Diese Sätze vermitteln eine Ahnung davon, wie groß und
unübersichtlich das Feld
der Selbstzeugnisforschung tatsächlich ist, das sich Li Gerhalter
vorgenommen
hat. Die Arbeit, die 2021 in der L’Homme-Schriftenreihe erschienen
ist, wählt
eine wissenschaftshistorische Langzeitperspektive auf das
wuchernde
Forschungsfeld: Gerhalter beginnt ihre Untersuchung von
Tagebüchern als
wissenschaftliche Quellen mitnichten in den 1980er-Jahren, als das
historische
Interesse an Tagebüchern und Selbstzeugnissen im Zuge der „Neuen
Geschichtsbewegung“ wuchs, sondern mit der Säuglings- und
Kleinkinderforschung,
die im frühen 19. Jahrhundert begann, mit Elterntagebüchern zu
arbeiten. Dabei
geht Gerhalter von der These aus, dass die „Konjunkturen der
Selbstzeugnis forschung“
nur zusammen mit den „Selbstzeugnis sammlungen“ (S. 11)
verständlich
werden. Deswegen nimmt sie nicht nur Forscher in den Blick,
sondern auch
diejenigen, die Sammlungen aufbauen und verwalten – die Archivar
–, sowie
diejenigen, die Dokumente übergeben, die „Übergeber“ (S. 12).
Die Arbeit ist in zwei Teile gegliedert, die zunächst nur lose
gekoppelt
erscheinen: Der erste Teil befasst sich auf gut 200 Seiten mit
Tagebüchern als
„zentrale[r] Datengrundlage“ (S. 31), zuerst in der Fachhistorie
der Pädagogik,
der Evolutionsbiologie und der Entwicklungspsychologie (Kapitel
1),
anschließend in der Jugendpsychologie (Kapitel 2). Er überspannt
dabei einen
Zeitraum von um 1800 bis in die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts.
Untersucht
wird, „für welche Fragestellungen diaristische Aufzeichnungen zu
unterschiedlichen Zeiten ausgewertet wurden – und mit welchen
Sammlungsstrategien die Quellengrundlagen dafür geschaffen worden
sind.“ (S.
251)
Der zweite Teil schließlich befasst sich mit dem Nutzen von
Tagebüchern in den
Geschichtswissenschaften. Er gliedert sich in ein größeres Kapitel
(Kapitel 3)
zu den „historisch ausgerichteten Sammlungen“, die seit den
1980er-Jahren im
Zuge der stetig anwachsenden Tagebuch- und Selbstzeugnisforschung
entstanden
sind (S. 27); dieses Wachstum führt Gerhalter auf das „Fehlen der
Quellengrundlagen für die geänderten Forschungsinteressen“ (S. 28)
zurück. Des
Weiteren enthält der zweite Teil ein kleineres Kapitel (Kapitel
4), das exemplarisch
ausgewählte Tagebücher von Mädchen aus der ersten Hälfte des 20.
Jahrhunderts
entlang der Analyseachsen des „Zu-schreiben-Beginnens“ und der dem
Tagebuch
anvertrauten Geheimnisse (S. 360) untersucht.
Im Wesentlichen widmet sich der zweite Teil also einer Darstellung
des
Forschungsfelds und insbesondere der „Bestandsaufnahme der zurzeit
insgesamt
verfügbaren Quellenbasis“ (S. 22). Gerhalter präsentiert zunächst
einen
informativen Überblick über die Sammlungen im deutschsprachigen
Raum. Mittlerweile
gebe es „zahlreiche Archive, die eigentlich einen anderen Fokus
verfolgen“ und
dennoch Selbstzeugnisse (jenseits der im Buch sogenannten
„Höhenkammliteratur“)
im Sinne von „Vor- und Nachlässe[n]“ (S. 273) aufnehmen. Es
existieren aber nur
„drei Sammlungen [von Selbstzeugnissen], die eigene Einrichtungen
sind, und
nicht Teil einer größeren Archivinstitution“ (S. 271); und zwar
das Deutsche
Tagebucharchiv in Emmendingen sowie die Sammlung Frauennachlässe
und die
Dokumentation lebensgeschichtlicher Aufzeichnungen (beide in
Wien).
Zudem nimmt Gerhalter in diesem Teil eine vertiefte Analyse von
Sammlungsbeständen entlang der beiden Ebenen „soziale Schicht“ und
„Geschlecht“
vor. Sie fragt stichprobenartig nach der Zusammensetzung der
Bestände:
Enthalten die Sammlungen Tagebücher von Arbeiter und Dienstboten?
Und wie
verteilen sich die Tagebücher auf Männer und Frauen? Sie geht also
der
populären Annahme auf den Grund, dass vor allem bürgerliche Frauen
Tagebuch
geschrieben haben sollen. Diese Annahme lässt sich teilweise
bestätigen: Zum
einen gibt es in den untersuchten Beständen nur „einzelne
Nachweise“ von
Tagebüchern, die „in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts von
Arbeiter oder
Dienstboten geschrieben wurden.“ (S. 322) Allerdings lässt sich
zugleich sagen:
„Mit retrospektiv verfassten Texten sind (ehemalige)
Arbeiter/innen oder
Dienstbot/innen in den Beständen sehr gut vertreten.“ (S. 323) Die
„Unterschiede in Bezug auf verschiedene auto/biografische Genres“
(S. 341)
differenzieren auch das Bild auf der Analyseebene Geschlecht.
Dennoch lässt
sich bei der Unterscheidung in (retrospektiv niedergeschriebene)
„lebensgeschichtliche Texte“ und diaristische Aufzeichnungen nicht
sagen, dass
Frauen generell eher Tagebuch schreiben, während Männer eher
lebensgeschichtliche Texte verfassen. Es müssen weitere Faktoren
berücksichtigt
werden: So finden sich etwa im Bestand der Dokumentation
lebensgeschichtliche
Aufzeichnungen in Wien sehr viele Tagebücher, die von Männern
verfasst wurden,
und zwar von Soldaten während der zwei Weltkriege. (S. 349)
Offensichtlich
können solche einschneidenden Ereignisse als
„Biografiegeneratoren“ (Alois
Hahn) wirken.
In der Einleitung behauptet die Autorin nonchalant, dass die
beiden Teile weder
„in einem direkten Bezug zueinander“ stehen noch einer
„genealogischen Logik“
(S. 10) folgen. Tatsächlich sind die einzelnen Kapitel in sich
abgeschlossen
und lassen sich separat lesen. Ihr Zusammenhang, wenngleich er
sich erst auf
den zweiten Blick erschließen mag, macht aber den Reiz der Studie
aus: Die
Autorin stellt, indem sie der Rolle von Tagebüchern als Quellen in
der
Wissenschaftsgeschichte in der longue durée seit 1800
(S. 251)
nachgeht, die in der „Neuen Geschichtsbewegung“ entstandenen
Forschungspraktiken in eine Tradition, die aus der Pädagogik und
der
Psychologie kommt. Die Geschichtswissenschaft tritt zwar erst zu
einem
Zeitpunkt auf den Plan, an dem Tagebücher in diesen beiden
Forschungsfeldern
„keine größere Rolle mehr“ (S. 254) spielten. Dennoch haben
Vorstellungen vom
Tagebuchschreiben, die dort entstanden waren, die
Geschichtswissenschaften
nachhaltig geprägt: Charlotte Bühlers jugendpsychologische
Forschungen zum
Tagebuch Anfang des 20. Jahrhunderts etwa waren es, die die
Motivation zum
Tagebuchschreiben als „inneres Bedürfnis“ (S. 377) erklärten und
die
Vorstellung von Tagebüchern als „verschriftlichten Geheimnissen“
(S. 363)
etablierten. Durch das Historisieren von Tagebüchern als
wissenschaftliche
Quellen schärft Gerhalter den Blick dafür, wie diese Quellen
wahrgenommen und
überhaupt erst als solche hergestellt werden.
Mit dem Fokus auf Arbeitswege und Wissenschaftspraktiken in ihren
zeitspezifischen Ausformungen über das 19. und 20. Jahrhundert
hinweg kann
Gerhalter zeigen, dass die „inhaltlichen Schwerpunkte der
selbstzeugnisbasierten Forschungs- und Sammlungstätigkeiten […]
einen
wesentlichen Einfluss darauf [hatten und haben], welche
auto/biografischen
Formate überhaupt wissenschaftlich wahrgenommen und damit sichtbar
gemacht
wurden“. (S. 12) So war eben diese Wahrnehmung in den
verschiedenen
wissenschaftlichen Disziplinen unterschiedlich konturiert: Das
Herstellen
„standardisierte[n] Wissen[s] über die menschliche Entwicklung“,
um das es der
Pädagogik und der Evolutionsbiologie und -psychologie ging,
interessierte und
produzierte andere Selbstzeugnisse als die
Geschichtswissenschaften seit den
1980er-Jahren, die, wie Gerhalter es nennt, aus
„zivilgesellschaftliche[n]
Ansprüche[n]“ (S. 11) heraus wuchs: Das Erschließen von
Tagebuchquellen
jenseits der „Höhenkammliteratur“ war der „dinghafte Ausdruck für
die
veränderten Vorstellungen davon, welche Personengruppen überhaupt
im Interesse
der historischen Forschung stehen.“ (S. 252)
Zudem, das hebt Gerhalter zu Recht besonders hervor, haben so die
Entscheidungen, „welche Texte […] gesammelt, beforscht und
veröffentlicht
werden […] einen Einfluss auf die aktuellen – und die zukünftigen
–
auto/biografischen Praktiken der Rezipient/innen der Ergebnisse.“
(S. 253)
Gerhalter betont aber auch einen weiteren Aspekt der verflochtenen
Beziehung
von Forschungsinteressen, Sammlungstätigkeit und autobiografischen
Praktiken.
Denn im Zuge der Einrichtung von Selbstzeugnis-Sammlungen werden
die
Übergeber/innen zu Handelnden: Sie entscheiden, was sie an die
entstandenen
Archive weitergeben – und an welche Archive. Gerhalter begreift
daher diese
Übergeber/innen als „Citizen Scientists“ (S. 12, 405) und widmet
ihnen ein
eigenes Unterkapitel (3.4).
Gerhalter skizziert so drei größere Entwicklungen, die die heutige
Selbstzeugnisforschung konturieren: Erstens lässt sich, vielleicht
erwartbar,
die „zunehmende Institutionalisierung und Professionalisierung der
wissenschaftlichen Arbeit“ (S. 403) zeigen. Zweitens zeichnet sich
die aktuelle
historisch-kulturwissenschaftliche Tagebuchforschung – im Kontrast
zu den
Fachgeschichten der Pädagogik und der Psychologie – durch eine
intensive
Auseinandersetzung mit „genretheoretische[n] Fragestellungen“ (S.
404) aus, wie
Gerhalter in Kapitel 4 exemplarisch vorführt. Und drittens rücken
damit die
Autor/innen der Quellen stärker in den Mittelpunkt. Sie sind nicht
einfach
„Proband/innen“, sondern es geht „nun darum, sie selbst zu Wort
kommen zu
lassen, ihre individuellen Lebensgeschichten zu erinnern und für
eine
interessierte Öffentlichkeit sichtbar zu machen.“ (S. 405)
Li Gerhalters Studie ist sorgfältig konzipiert und souverän
geschrieben. Sie
lässt sich ausgezeichnet als Begleiter für den Archivdschungel der
Selbstzeugnisforschung im deutschsprachigen Raum nutzen und
zugleich ist sie
Inspiration, wie sich ein Forschungsprojekt mit Selbstzeugnissen
gestalten
ließe. Zuletzt sei noch der fast liebevolle Umgang mit den vielen
zitierten
Quellen anzumerken, die Gerhalter mit gutem Sinn für die
Lesbarkeit einer
umfangreichen Studie ausgewählt hat.
Zitation
Anna Leyrer: Rezension zu: Gerhalter, Li: Tagebücher
als Quellen. Forschungsfelder und Sammlungen seit 1800. Göttingen
2021: ISBN 978-3-8471-1179-5, ,
In: H-Soz-Kult, 29.04.2022, <www.hsozkult.de/publicationreview/id/reb-114491>.