Gier. Was uns bewegt
Haus der Geschichte Baden-Württemberg
27.05.2021 - 19.09.2021
https://www.hdgbw.de/ausstellungen/gierhassliebe/gier-ausstellung/
Rezensiert für H-Soz-Kult von Gudrun Kruip, Stiftung
Bundespräsident-Theodor-Heuss-Haus,
Stuttgart
Die Fähigkeit, zahlreiche starke Emotionen zu empfinden, zeichnet
die Menschen
vor allen anderen Lebewesen aus. Positive Gefühle wie Liebe oder
Glück fallen
ebenso darunter wie negative, etwa Hass oder Jähzorn. Der Kirche
waren diese starken
Gefühle schon früh suspekt, lenkten sie die Gläubigen doch von der
Konzentration auf ihr Seelenheil ab und brachten sie stattdessen
dazu, ihre
individuellen Interessen zu verfolgen. Und so verurteilte die
Kirche gleich
sieben davon als „Todsünden“ (Hochmut, Geiz bzw. Habgier, Wollust,
Zorn,
Völlerei, Neid, Faulheit).
Mit „Gier. Was uns bewegt“ widmet das Haus der Geschichte
Baden-Württemberg
einer dieser „Todsünden“ nun eine ganze Ausstellung und legt dabei
den Fokus
auf die Ambivalenz des Begriffs. Denn die Einteilung der Gefühle
in positiv
oder negativ trügt: So kann Gier in der Spielart der Habgier
großes Leid für
andere verursachen; aber ohne Wissensgier oder Neugier wären viele
Entdeckungen
oder Erfindungen ausgeblieben. Die Ausstellung über Gier steht
dabei nicht
allein. Vielmehr zeigt das Haus der Geschichte in drei
aufeinanderfolgenden
Ausstellungen eine Trilogie der Gefühle und stellt den Drang nach
dem „immer
mehr“ in einen Kontext mit den nicht minder starken Gefühlen Hass
und Liebe.
Die Folgeausstellung „Hass“ soll am 17. Dezember 2021 beginnen;
ein Katalog zur
gesamten Ausstellungstrilogie ist für 2022 geplant. Das Haus setzt
damit seinen
Ansatz fort, die materiell schwer fassbaren, zugleich aber sehr
menschlichen
und durchaus geschichtsmächtigen Gefühle und Sinneseindrücke auf
ihre
historische Dimension hin zu überprüfen.[1] Für eine Ausstellung
genießt dieser
Ansatz noch immer Seltenheitswert[2], obwohl die Geschichte der
Gefühle
spätestens seit 2008 mit der Einrichtung eines eigenen
Forschungsbereichs am
Max-Planck-Institut für Bildungsforschung in der
Geschichtswissenschaft
angekommen ist.
Dass es sich bei Gier, Hass und Liebe keineswegs um eine bloße
Aneinanderreihung dreier Ausstellungen, sondern tatsächlich um
eine Trilogie
miteinander verzahnter Emotionen handelt, verdeutlicht die
Präsentation schon
jetzt an mehreren Stellen. Gleich zu Beginn gibt es drei
Videoinstallationen,
die den Besucherinnen und Besuchern suggestiv verschiedene Seiten
dieser
Gefühle vorführen.[3]
Es bleibt der individuellen Betrachtung überlassen, welche der
jeweiligen
Gefühlsdimensionen prägender ist, und es ist anzunehmen, dass die
entsprechende
Bewertung ohnehin je nach Lebenssituation variiert. Damit wird
schon anfangs
ein Kernthema der Ausstellung deutlich: Gefühle, ihre Bewertung
und der Umgang
damit bei sich selbst und bei anderen hängen von
zeitgeschichtlichen, aber auch
individuellen Umständen ab, die Änderungen unterworfen sind.
Betroffen von den
Gefühlen – in diesem Fall von der Gier – sind aber alle.
Nach dem Entrée empfängt die vom büroberlin (https://www.bueroberlin.net)
gestaltete Ausstellung ihre Besucherinnen und Besucher in
schimmerndem Gold,
bei dem sich unmittelbar die Assoziation von Reichtum, Schmuck und
Jetset
einstellt. Und darum geht es dann letztlich auch in den 31
kleineren Einheiten:
die Jagd nach Ruhm und Anerkennung, nach Geld und Schönheit, der
sich Moral und
Mitgefühl im Zweifelsfall häufig unterordnen.
Besonders sinnfällig wird dies gleich in der ersten Einheit über
den Chemiker
Fritz Haber (1868–1934), der mit der Herstellung von Ammoniak aus
Stickstoff
und Wasserstoff die Düngemittelproduktion revolutionierte. Bis
heute leistet
dieses Verfahren einen wichtigen Beitrag zur Ernährung der
Weltbevölkerung. Auf
Kosten seiner Kollegen und seiner Ehefrau stellte Haber sein
ganzes Wissen und
Können in den Dienst dieser Entwicklung. Er brachte seinen
Wissensdurst und
Forscherehrgeiz jedoch auch skrupellos bei der Entwicklung von
Sprengstoff und
Giftgas ein, die im Ersten Weltkrieg zum Einsatz kamen. Der erst
1920
nachträglich für 1918 verliehene Nobelpreis an den „Vater des
Gaskriegs“ stieß
daher trotz dessen Verdienste um die Welternährung international
auf Kritik.[4]
Und so geht es in der Ausstellung munter weiter mit den
Niederungen
menschlicher Emotionen, ohne dass diese, wie bei Haber, immer auch
einen
positiven Nebeneffekt haben müssten. Manchmal half der Zufall der
Gier auf die
Sprünge, etwa beim „Pulverkönig von Rottweil“ Max Duttenhofer,
dessen Pulver
vor allem dank des deutsch-französischen Krieges 1870/71 plötzlich
stark
nachgefragt war und seinem Hersteller immensen Reichtum, beste
Kontakte und
einflussreiche Ämter bescherte.
Manchmal sollte schlichtweg die eigene Existenz gerettet werden,
wie bei Paul
Mauser (1838–1914), der nur ein Sechstel einer Waffenfabrik besaß
und dem ohne
lukrative Waffenverträge die Fabrik von den tatsächlichen
Eigentümern
geschlossen worden wäre. Hier trat insbesondere die Türkei als
Retterin auf,
die zwischen 1887 und 1909 zur Großabnehmerin der Mauser’schen
Gewehre wurde.
Die geschäftlichen Kontakte zwischen Oberndorf und Konstantinopel
führten aber
auch zu Kontakten der Bevölkerung, auf die eine Vorschau zum
Trilogie-Thema
„Liebe“ anhand einer Narrenkappe verschmitzt hinweist.
In vielen Fällen scheint der Drang nach materiellem Gewinn jedes
Gefühl für
Verantwortung und soziales Miteinander zum Verschwinden zu
bringen. So werden
Betrug und Steuerhinterziehungen trotz ihrer oft immensen
Dimensionen mitunter
immer noch als Kavaliersdelikte wahrgenommen oder in der breiteren
Öffentlichkeit nicht hinreichend verstanden, wie anhand der
Beispiele von
FlowTex und Cum-Ex gezeigt wird. Gleichzeitig simuliert eine
interaktive
Computeranimation, was Steuerausfälle für die Allgemeinheit
bedeuten: schlechte
Bildung für alle, weniger Kulturangebote, Lücken in der
Gesundheitsversorgung,
kaputte Straßen mit entsprechenden Staus und bei unterfinanzierter
Polizei auch
mangelnde Sicherheit. Spätestens hier stellt sich die Frage, ob
persönliche
Gier nicht zu Konsequenzen führt, die auch die Profiteure der Gier
abschrecken
müssten. Interessant wäre deshalb eine Ausweitung des Themas auf
politische und
rechtliche Folgen gewesen: Was wird unternommen, um aufgedeckte
Wirtschaftsverbrechen zu ahnden und Betrugsszenarien dieser
Milliarden-Ausmaße
künftig zu verhindern? Und welche Strukturen fördern überhaupt das
Entstehen
von Gier und deren Erfolg?
Doch die Ausstellung thematisiert nicht nur fragwürdiges, teils
kriminelles
Gebaren von Wissenschaftlern oder Geschäftsleuten, sondern
leuchtet auch tief
in das heutige Alltagsleben hinein. Eine riesige Sneakersammlung
wirft die
Frage auf, wie weit Sammelleidenschaft führen kann und wie viel
sie einem
finanziell wert ist. Darüber hinaus zeigt die Sneakersammlung aber
auch
exemplarisch, dass heutzutage nahezu jeder Kleiderschrank deutlich
überfüllt
ist, nicht zuletzt weil Kleidung in Deutschland billig zu haben
ist. Dass den
Preis dafür andere zahlen, die diese Kleidung zu Hungerlöhnen in
weit
entfernten Ländern produzieren, wird dabei gern ausgeblendet.
Leider hat dieses
Thema kein eigenes Ausstellungssegment bekommen, obwohl es nahezu
jeden
persönlich betrifft und sich in der baden-württembergischen
Textilindustrie
gewiss auch einschlägige Beispiele gefunden hätten.
Die Konsumlust auf Kosten anderer, diesmal auf Kosten der
Milchkühe, wird auch
am Beispiel der „Wegwerfkuh“ gezeigt. Die Milchleistung heutiger
Kühe ist
zehnmal so hoch wie diejenige vor 200 Jahren, was zu miserablen
Lebensbedingungen und einer deutlich verkürzten Lebenszeit der
Tiere führt.
Denn nicht nur Kleidung, sondern auch Lebensmittel sind für die
Konsumentinnen
und Konsumenten so günstig zu erwerben, dass lediglich die
Ausbeutung der Tiere
das Auskommen der Produzenten zu sichern scheint. Wie schwer die
Schuldigen für
diesen Prozess auszumachen sind, zeigt eine virtuelle Kurzführung
der
Ausstellungskuratorin Franziska Dunkel.[5]
An anderer Stelle steht vor allem der Drang nach Aufmerksamkeit,
Rampenlicht
und Schönheit im Fokus. So erfüllte sich für die Friseurin Gordana
Apostoloska
2019 ein Traum, als sie sich auf Kosten des Senders Vox komplett
neu einkleiden
durfte und dann auch noch den ersten Preis als „Shopping Queen“
gewann. Ein gut
gefüllter Kleiderschrank (oder in ihrem Fall: ein ganzer Keller
voller
Kleidung) ist für Apostoloska der Garant, „dazuzugehören“ – und
bevor sie zu
wenig habe, habe sie lieber zuviel. Brustimplantate oder das
(inzwischen
gelöschte) Instagram-Profil der Ex-Influencerin Katharina Weber
reflektieren
ebenfalls die Gier nach dem perfekten Körper und dem schönen
Schein.
Auch beim Fußball dominiert die Gier, ohne die laut Jürgen Klopp
oder Joachim
Löw kein Sieg möglich sei. Doch schon die Vitrine daneben hält die
Schattenseite bereit: Viele sportliche Höchstleistungen sind bis
heute nur dank
Doping zu erreichen. An diesem Beispiel zeigt sich erneut, wie
vielfältig
verschränkt Gier sein kann, denn von den Siegen und Rekorden
profitieren
Sportlerinnen und Sportler, Fans sowie die gesamte Sport- und
Medienbranche.
Die komplexe Struktur der Ausstellung macht eine Orientierung
nicht immer ganz
leicht: Dreizehn Oberthemen werden mit jeweils bis zu fünf
Aspekten
veranschaulicht – so umfasst das Thema „Betrug“ etwa die Aspekte
FlowTex,
Cum-Ex sowie die Einführung der Kassenbonpflicht im Einzelhandel.
Jeder Aspekt
hat zudem nicht nur ein eigenes Schlagwort, sondern auch eine
eigene
Jahreszahl. Insgesamt deckt die Ausstellung eine Spanne von über
zwei
Jahrhunderten ab und wandert dabei mäandernd in der Zeit voran. Da
jeder Aspekt
aber eine eigene kleine Kabinetteinheit darstellt, erschließt sich
das Ganze
dennoch problemlos.
Irritierend ist allerdings der zeitliche Rücksprung, um die beiden
wichtigen
Themen Kolonien/Rassismus und Nationalsozialismus zu behandeln,
die erst
folgen, nachdem die Besucherinnen und Besucher mit Shopping Queen,
Influencern
und Vorratsdatenspeicherung bereits in der heutigen Zeit
angekommen sind. Beide
Themen werden mit mehr Einzelaspekten illustriert als fast jedes
andere Thema
und nehmen allein dadurch schon einen besonderen Stellenwert ein.
Sowohl das
Thema „Kolonien“ als auch „Raub“ (bezogen auf den
Nationalsozialismus) zeigen
zum Abschluss der Ausstellung, dass Gier nicht nur zu persönlicher
Bereicherung
führt, sondern durch eine fatale Melange mit
Rassismus/Antisemitismus, Habgier
und Sensationslust auch in tödliche Menschenverachtung und
Massenmord münden
kann.
Es ist unbedingt empfehlenswert, das umfangreiche Begleitprogramm
und
Zusatzmaterial auf der Website des Hauses der Geschichte ebenfalls
zu beachten.[6] Neben einem virtuellen
Rundgang durch die
Ausstellung gibt es thematische Kurzführungen zu entdecken,
Videoberichte
stellen einzelne Objekte vor, und Interviews mit Prominenten und
Psychologen
leuchten unterschiedliche Facetten der Gier aus. Die
Ausstellungsarchitektin
Julia Neubauer von büroberlin erläutert die Ideen, die hinter der
Gestaltung aus
goldenen Bahnen stecken, und die baden-württembergische
Staatssekretärin Petra
Olschowski schildert ihren Zugang zum Ausstellungsthema.
Ungewöhnlich ist vor
allem die künstlerische Aufbereitung der Gier. Mitten in der
Ausstellung steht
eigens eine große Vitrine, deren Leere einen Gegenpol zur sie
umgebenden
Raffgier darstellt, die aber auch ein Podium für Performances
abgibt, die
Studierende der Staatlichen Hochschule für Musik und Darstellende
Kunst
Stuttgart entwickelt haben. Die Aufführungen werden nicht vorab
angekündigt –
die Besucherinnen und Besucher dürfen sich einfach überraschen
lassen.
Anmerkungen:
[1] So unter anderem in der schon
2014 gezeigten
Ausstellung „Fastnacht der Hölle – der Erste Weltkrieg und die
Sinne“.
Virtueller Rundgang durch die Ausstellung unter https://www.hdgbw.de/ausstellungen/ausstellungsarchiv/1-weltkrieg-und-die-sinne/
(05.08.2021). Siehe auch die Rezension von Thomas Thiemeyer, in:
H-Soz-Kult,
24.05.2014, https://www.hsozkult.de/exhibitionreview/id/rezausstellungen-194
(05.08.2021).
[2] Eine Wanderausstellung, u.a.
konzipiert von
Ute Frevert, der Direktorin des Forschungsbereichs „Geschichte der
Gefühle“ am
Max-Planck-Institut für Bildungsforschung in Berlin, thematisierte
2019, im
Jubiläumsjahr der Weimarer Demokratiegründung, „Die Macht der
Gefühle –
Deutschland 19 / 19“. Die in mehreren Sprachen erhältliche
Poster-Ausstellung
behandelt insgesamt 20 Gefühle, darunter auch Hass und Liebe; Gier
allerdings
nur in der Form der „Neugier“. Siehe den Flyer unter https://machtdergefuehle.de/wp-content/uploads/2019/03/DMDG_Broschu%CC%88re_micro_190204.pdf
(05.08.2021).
[3] Die Videoinstallation ist
auch Teil des
digitalen Angebots zur Ausstellung: https://www.hdgbw.de/ausstellungen/gierhassliebe/gier-ausstellung/
sowie unter https://www.youtube.com/watch?v=FMSHmQodswM
(05.08.2021).
[4] Als Standardwerk siehe Margit
Szöllösi-Janze, Fritz Haber 1868–1934. Eine Biographie, München
1998.
[5] 10 Minuten Gier:
Profitstreben. Kurzführung
in der Ausstellung „Gier. Was uns bewegt“ mit Dr. Franziska
Dunkel, https://www.youtube.com/watch?v=bn-MgNoln9Y
(05.08.2021). Auf YouTube sind auch Kurzführungen der anderen
Ausstellungskuratoren zu sehen.
[6]https://www.hdgbw.de/ausstellungen/gierhassliebe/gier-ausstellung/
und https://www.hdgbw.de/ausstellungen/gierhassliebe/gier-digital/
(05.08.2021).
Zitation
Gudrun Kruip: Rezension zu: Gier. Was uns bewegt, 27.05.2021 –
19.09.2021 Haus
der Geschichte Baden-Württemberg, in: H-Soz-Kult, 14.08.2021, <www.hsozkult.de/exhibitionreview/id/rezausstellungen-381>.