Monatsdigest
Date: 2021/08/12 17:24:09
From: Roland Geiger via Regionalforum-Saar <regionalforum-saar(a)genealogy.net>
Mühlen, Kraftwerke, Wasserbauten. Die
Regulierung von
Flüssen und Gewässern in der Rechtsgeschichte
Veranstalter Heimatpflege
des Bezirks Schwaben; Lehrstuhl für Bürgerliches Recht und
Zivilverfahrensrecht, Römisches Recht und Europäische
Rechtsgeschichte,
Universität Augsburg; Schwabenakademie Irsee
08.06.2021 - 09.06.2021
Von Corinna Malek, Heimatpflege, Bezirk Schwaben
Wasser als Quelle des Lebens ist eine der wichtigsten Ressourcen
auf der Erde.
Seine Verfügbarkeit und Verknappung stellt die Politik und
Gesellschaft nicht
nur in Zeiten des Klimawandels vor große Herausforderungen. Nahezu
zeitlos
erscheinen hier diverse Nutzungs- und Rechtsansprüche sowie
Streitigkeiten am
und um das Wasser, denen sich die vierte rechtsgeschichtliche
Tagung der
Heimatpflege des Bezirks Schwaben und des Lehrstuhls für
Bürgerliches Recht und
Zivilverfahrensrecht, Römisches Recht und Europäische
Rechtsgeschichte widmete.
Konzipiert wurde die Tagung vom ehemaligen schwäbischen
Bezirksheimatpfleger
PETER FASSL (Augsburg) und hätte ursprünglich im Frühjahr 2020
stattfinden
sollen.
Nach den Begrüßungen von MARKWART HERZOG (Irsee) und dem neuen
Bezirksheimatpfleger CHRISTOPH LANG (Augsburg) gab Peter Fassl den
Teilnehmenden in seiner thematischen Einführung einen kurzen
Überblick über die
Beziehung Bayerns und Bayerisch-Schwabens zu seinen Flüssen und
Gewässern und
allgemein zum Wasser. In der Geschichte Bayerns, das über ein
6.000 km langes,
verzweigtes Fluss- und Gewässernetz verfügt, spielte Wasser immer
eine wichtige
Rolle: Von den Stadtgründungen im Mittelalter, bis hin zur
Industrialisierung,
der Entwicklung des Gesundheitswesens und der modernen
Infrastruktur von
Städten und Gemeinden hatte Wasser stets eine Schlüsselfunktion,
weshalb das
Thema auch überregional von Interesse ist.
Anknüpfend an seine Einführung zeigte Fassl verschiedene Aspekte
der
Wassergeschichte Schwabens auf. Diese, so Fassl, sei bis dato noch
nicht
zusammenhängend erarbeitet worden und werde von vier großen
Themenbereichen
dominiert: die Nutzung der Wasserkraft, die Kontrolle der Urgewalt
Wasser durch
den Wasserbau, die Fischerei und die Flößerei. Zudem bildeten
Wasserläufe
natürliche Grenzen nach innen und nach außen. Zur Geschichte von
Mensch und
Wasser im fluss- und gewässerreichen Bayerisch-Schwaben gehören
aber auch
wiederkehrende Katastrophen, wie Hochwasser, die die Beziehung des
Menschen zu
seiner Umwelt über Jahrhunderte bis in die Gegenwart prägen.
Rechtsgeschichtlich reizvoll ist eine Auseinandersetzung mit dem
Thema
insbesondere aufgrund der territorialen Zersplitterung Schwabens
bis zum Beginn
des 19. Jahrhunderts. Sie führte zu einer Vielzahl von rechtlichen
Konflikten
aufgrund kleinteiliger Wasserrechtsansprüche einzelner
Rechteinhaber. Doch auch
nach der Vereinheitlichung der Rechtsstruktur unter der Krone
Bayerns blieben
Konflikte rund um das Wasser keine Seltenheit. Vielmehr kamen neue
Themen, wie
die Verbauung von Flüssen oder die Landgewinnung durch
Entwässerung, hinzu.
Abschließend blickte Fassl auf die Gegenwart und neue
Herausforderungen,
beispielsweise durch den ökologisch verträglichen Wasserbau.
Die Vorträge von WOLFGANG WÜST (Erlangen), CHRISTOPH BACHMANN
(München) und
WALTER BAUERNFEIND (Nürnberg) erweiterten die Perspektive über den
schwäbischen
Bereich hinaus und boten Vergleichsmöglichkeiten mit den
wasserrechtlichen
Situationen in Altbayern, Franken und dem süddeutschen Raum.
Wüst legte anhand einer breit gefächerten und detailreichen
Analyse
verschiedener frühneuzeitlicher Rechtsordnungen zum Mühlen- und
Müllerrecht die
rechtliche Disziplinierung und Kontrolle in verschiedenen
Herrschaftsbereichen
dar. Anhand der gewählten Quellen wurde auch die breite und dichte
Überlieferungslage deutlich. Wüst zeigte auf, dass dem Müller ein
schlechter
Ruf als unehrlicher Zeitgenosse aufgrund seiner Geschäftspraktiken
anhaftete.
Christoph Bachmann widmete sich in einem ersten Teil seiner
Ausführungen der
Mühlentechnik und ihrer Entwicklung seit dem Spätmittelalter. Er
zeigte auf,
welche Unterschiede zwischen den verschiedenen Mahlwerken und
Mühlsteinen
bestanden und welchen Einfluss diese auf den Mahlprozess haben
konnten. Im
zweiten Teil setzte sich Bachmann mit dem altbayerischen
Mühlenrecht am
Beispiel verschiedener Mühlenordnungen und -satzungen auseinander.
Deren
Vorschriften, insbesondere zur Mühlenbeschau, führten oftmals zu
Streitigkeiten
und Gerichtsprozessen, in denen die vermeintliche Unehrlichkeit
des Müllers ein
Zankapfel war. Auch wenn die Rechtsquellen die Norm festsetzten,
gab es in der
gelebten Wirklichkeit Unterschiede.
Wie Mühlen zu einem wichtigen Faktor der Stadtentwicklung werden
konnten,
zeigte Walter Bauernfeind anhand der Stadt Nürnberg. Die
Reichsstadt Nürnberg
besaß seit dem 12. Jahrhundert innerhalb ihres Stadtgebiets drei
zentrale
Mühlen an der Pegnitz, die eine wichtige Rolle für die
wirtschaftliche
Entwicklung Nürnbergs in der Protoindustrialisierung spielten.
Außerhalb der
Kernstadt, innerhalb der „alten Landschaft“, besaß die Reichsstadt
weitere
Mühlen, wobei vor allem die Dutzendteichmühle von großer Bedeutung
war. Auch
bildete die Investition in Mühlen für Nürnberger Familien
lukrative
Möglichkeiten, die diese in ganz Europa wahrnahmen und sich im
Umkehrschluss
positiv auf die Reichsstadt und ihre langfristige wirtschaftliche
Entwicklung
auswirkten.
Das Stereotyp des „unehrlichen Müller“ wurde in der anschließenden
Diskussion
kritisch hinterfragt. Im Zentrum stand dabei die begriffliche
Kontroverse um
die Deutung der „Unehrlichkeit“ und ob sich diese vom sozialen
Stand des
Müllers oder seinem Geschäftsgebaren ableitete. Eine Klärung
hierzu steht in
der Forschung bisher aus.
Die Flößerei und mit ihr verbundene Flussnutzungsrechte
beleuchteten die
Beiträge von CHRISTOF PAULUS (München) und KARL FILSER (Augsburg).
Beide
Referenten stellten den Lech als natürliche Grenze zwischen dem
schwäbischen
und altbayerischen Herrschaftsbereich ins Zentrum ihrer
Untersuchungen.
Christof Paulus widmete sich dabei dem Phänomen des „Flusses in
Ketten“, bei
dem der Fluss und einzelne Häfen mittels Ketten abgesperrt und
somit die
Zugänglichkeit und Passierbarkeit einzelner Flussabschnitte
unterbunden wurde.
Dies führte zu Rechtsstreitigkeiten. Als Beispiel präsentierte
Paulus die
Absperrung des Lechs durch die Reichsstadt Augsburg, die damit den
altbayerischen Holzhandel verhinderte. Die Reichsstadt lotete auf
diese Weise
außenpolitische Spielräume im politischen Gerangel um Macht und
Einfluss aus.
Generell stand der Lech als zentrale Nord-Süd-Wirtschaftsachse
oftmals im
Zentrum von Streitigkeiten zwischen Schwaben und Altbayern.
Dies zeigte auch der von Karl Filser präsentierte Streitfall aus
der Mitte des
18. Jahrhunderts, an dem wiederum die Reichsstadt Augsburg und das
Kurfürstentum Bayern beteiligt waren. Im Zentrum der
Streitigkeiten standen die
Flößereirechte auf dem Lech, in die Kurfürst Maximilian III.
Joseph mit dem
Erlass einer neuen Holzordnung massiv eingriff. Der detailliert
vorgetragene
Streitfall zeigte deutlich, wie schnell Fluss- und Floßrechte zu
massiven
Rechtsstreitigkeiten zweier Herrschaftsträger führen konnten.
Trotz
diplomatischer Bemühungen wurden Verträge nicht immer von den
Vertragsparteien
geachtet, weshalb sich die Beilegung zäh und langwierig hinzog.
Eine erweiterte Perspektive aus dem bayerischen Umfeld hinaus
brachte der
Vergleich zwischen Granada und Preußen während des
Spätmittelalters und der
Frühen Neuzeit von IGNACIO CZEGUHN (Berlin) und YOLANDA QUESADA
MORILLAS
(Berlin). Ob diese beiden auf den ersten Blick sehr
unterschiedlichen
Herrschaftsbereiche überhaupt vergleichbar seien, stellte Czeguhn
an den Beginn
seiner Ausführungen. Als Vergleichsobjekte nutzte der Referent die
Wassergesetzgebung und die damit verbundene Verwaltungsstruktur
beider Länder.
Nach einer kurzen Darstellung der jeweiligen Verhältnisse und
Entwicklungen in
Granada und Preußen stellte der Referent beide Beispiele anhand
ihrer
geographischen Vorgaben und der beteiligten administrativen
Institutionen
gegenüber. Es zeigte sich, dass der Vergleich zwar eine sehr
gewagte Methode
war, welche dennoch gute Einblicke in die unterschiedliche
wasserrechtliche
Situation beider Länder bot.
Einen weiteren Blick von außen brachte THEODOR BÜHLER (Winterthur)
in die
Tagung ein. Anhand des Klosterbezirks des Baseler St. Alban
Klosters skizzierte
der Referent die Veränderung der Landschaft entlang des Flusses
Birs durch
bauliche Eingriffe des Klosters. Er zeichnete die Entwicklung der
Mühlen am
Fluss nach, die eine hohe wirtschaftliche Bedeutung für den
Klosterbezirk
besaßen und maßgeblich zur Industrialisierung des gesamten Raums
beitrugen.
Rechtliche Rahmenbedingungen, die bis 1789 durch das klösterliche
Obereigentum
geregelt waren, gewährleisteten eine florierende Entwicklung. Nach
der
Aufhebung des Obereigentums des Klosters 1789 kam es zu vermehrten
Streitigkeiten zwischen Kanton und Stadt Basel. Erst ein
wasserrechtliches
Gutachten Eugen Hubers, des Vaters des Schweizer
Zivilgesetzbuches, konnte
diese schließlich befrieden.
Wie verzwickt und schwer lösbar lokale Wasserrechtsstreitigkeiten
noch im 19.
Jahrhundert sein konnten, zeigte der Vortrag von LUTZ DIETRICH
HERBST
(Stuttgart). Anhand des Ruggerichts, einer besonderen
Laiengerichtsform im
heutigen Landkreis Ravensburg, präsentierte der Referent lokale
Ausprägungen
der Wasserrechtssprechung. Der von Herbst geschilderte Fall
befasste sich mit
der Klage des Hasenweiler Müllers von 1841, der vor das Ruggericht
zog.
Auslöser waren Nutzungsstreitigkeiten zwischen dem Müller und den
örtlichen
Bauern um das Wasser aus der Rotach. 1841 fällte das Ruggericht
einen
Schiedsspruch, der zwischen den kontroversen Interessen beider
Seiten
vermitteln sollte.
Einen anderen Streitfall, dessen Wurzeln im 19. Jahrhundert lagen,
schilderte
BERND KANNOWSKI (Bayreuth). Kannowski hatte als Rechtsgutachter
den Fall selbst
zwischen 2012 und 2014 betreut und schilderte aus seiner
Gutachterperspektive
die Situation. Geklagt hatte ein Müller aus der Umgebung Nürnbergs
gegen die
Unterhaltpflicht einer 1841 angelegten Dammanlage. Der Kläger
hatte die
nahegelegene Mühle erworben, ohne von der Unterhaltspflicht
gegenüber der
Entwässerungsanlage zu wissen. Seine Klage richtete sich gegen die
Deutsche
Bahn AG, die Rechtsnachfolger des damaligen Bauherrn, des
bayerischen
Eisenbahnfiskus, ist. Sowohl die komplexe rechtliche
Nachfolgestruktur der
Bauherrenschaft als auch die mehrmals geänderte gesetzliche
Grundlage
erschwerten die Lösung des Falls. Kannowski zeigte differenziert
auf, wie eine
schuldrechtliche und eine sachrechtliche Lösung des Streitfalls zu
Gunsten des
Müllers hätte ausgehen können. Letztlich wurde die Klage mittels
eines
Vergleichs gelöst, der die noch bestehenden Verbindlichkeiten des
Müller
bestätigte.
Den Fokus zurück nach Bayerisch-Schwaben richteten die nächsten
Beiträge. Den
Einstieg in den schwäbischen Raum übernahm CORINNA MALEK
(Augsburg), die sich
mit den rechtlichen Voraussetzungen für die Moorentwässerung und
den Torfstich
vom 18. bis ins 20. Jahrhundert befasste. Da Schwaben und
Oberbayern über große
Moorvorkommen verfügten, wurde hier bereits in der Frühen Neuzeit
mit Mandaten
und Verordnungen versucht, die Trockenlegung ausgedehnter
Moorgebiete
voranzutreiben, mit jedoch mangelhaftem Erfolg. Malek konnte
zeigen, dass erst
der Erlass der bayerischen Wassergesetze 1852 die notwendigen
rechtlichen
Voraussetzungen für eine gesteigerte Aktivität der
bodenkulturellen
Unternehmungen schuf und mit dem Erlass des Bayerischen
Ödlandgesetzes 1923
nochmals Auftrieb erhielt. Der Torfabbau wurde erst nach Ende des
Ersten
Weltkriegs mit dem Erlass des Gesetzes über Torfwirtschaft 1920
geregelt.
Dass die Novellierung des Bayerischen Wassergesetzes 1907 neue und
erleichterte
Bedingungen für den Wasserbau, insbesondere an kleineren Flüssen,
schuf,
stellte KATRIN HOLLY (Augsburg) anhand des Regulierungs- und
Entwässerungsprojekts des unteren Zusamtales dar. Die Novellierung
des Gesetzes
bedeutete eine Vereinfachung für die Bildung von Genossenschaften,
die sich zum
Zweck von Wasserbauvorhaben zusammenschließen konnten, was unter
anderem im
Zusamtal geschah. Anhand der Chronologie der Ereignisse machte
Holly deutlich,
wie lange sich das Bauvorhaben entlang der Zusam hinzog und welche
Probleme,
vor allem finanzieller Art, dabei auftraten. Ebenso führten die
veränderten
Verhältnisse während der NS-Zeit zu einer Verzögerung des
Projekts, bevor es
aufgrund der Kriegswirren gänzlich zum Erliegen kam. Endgültig
abgeschlossen
wurden die Verbauungen erst Ende der 1970er- Jahre. Die Verbände
wurden 1983
aufgelöst und an die zuständigen Gemeinden übertragen.
Schließlich rundete RALPH NEUMEIERS (Augsburg) Beitrag, der sich
mit den
Vorgaben der Europäischen Wasserrahmenrichtlinie und ihren
Auswirkungen auf
Schwaben befasste, den Blick in die Entwicklung des Wasserrechts
bis in die
Gegenwart ab. Neumeier skizzierte zunächst die Grundlagen der
Verordnung und
die von ihr verfolgten Umweltziele. Hierfür wurde der
Gewässerzustand in
Schwaben anhand von unterschiedlichen Bewertungsstufen untersucht.
Aufbauend
auf dem ermittelten Zustand erarbeitete die Regierung von Schwaben
einen
Bewirtschaftungsplan für die schwäbischen Gewässer, um sie in den
von der
Wasserrahmenrichtlinie geforderten „guten Zustand“ zu versetzen.
Neumeier
machte deutlich, dass der gewünschte Gewässerzustand in Schwaben
vielerorts
noch nicht dem „guten Zustand“ entspreche und noch eine Menge
Arbeit und
intensive Betreuung in den nächsten Jahrzehnten bedürfe.
Einen zeitlichen Sprung zurück in die Frühe Neuzeit unternahm
FELIX GUFFLER
(Augsburg) mit der Präsentation eines
Reichskammergerichtsprozesses Ende des
16. Jahrhunderts. Anhand einer Lappalie entzündete sich ein
handfester
Rechtsstreit zwischen Marx Fugger und dem Hochstift Augsburg, der
sich über 25
Jahre hinzog. Auslöser des Streits war das Fischen eines Hechts
nahe der
Ehekirchmühle im Altwasserbereich der Schmutter, die die
Herrschaftsbereiche
von Hochstift und Fuggerherrschaft trennte. Gestritten wurde um
die Frage, ob
der Altwasserbereich der Schmutter mitsamt den Fischbeständen
rechtlich dem
Hochstift oder Marx von Fugger und seinen Untertanen zustanden.
Beilegt wurde
der Streitfall durch einen Rechtsspruch des Reichskammergerichts
erst 25 Jahre
nach dem auslösenden Vorfall, wobei zu diesem Zeitpunkt bereits
beide
Streitparteien verstorben waren und sich die beteiligten
Protagonisten nur noch
dunkel an den genauen Hergang erinnern konnten.
Zum Abschluss des bayerisch-schwäbischen Blocks und in Ergänzung
des Vortrags
von Ralph Neumeier um eine weitere Perspektive präsentierte OLIVER
BORN
(Salgen) das schwierige Verhältnis zwischen Wasserkraftnutzung und
Fischerei.
Beide stehen seit Jahrzehnten in einem scheinbar unlösbaren
Konflikt, der vor
allem durch das starke Fischsterben infolge der Wasserkraftnutzung
und dem
damit verbundenen störenden Eingriff in die originäre Flussdynamik
begründet
ist. Born zeigte auf, wie Wasserkraftnutzung und die zugehörigen
Kraftwerks-
und Stauwerksbauten die Lebensräume verschiedener Flussfischarten
nachhaltig
veränderten und einschränkten. Er stellte dar, dass Fische
vernetzte
Schlüssellebensräume für den Arterhalt benötigten, die durch
Verbauung von
Flüssen und Gewässern gekappt und für viele Fischarten
unerreichbar wurden. In
der Folge stünden heut viele früher einheimische Fischarten auf
der Roten Liste
der gefährdeten Arten. Born plädierte daher für einen
fischereiverträglichen
Wasserbau, für den seit Jahren Gespräche mit Kraftwerksbetreibern
und der
bayerischen Staatsregierung liefen, bis dato jedoch ohne Ergebnis.
Born zeigte
außerdem gelungene Projekte auf, die die Wasserkraftnutzung mit
der Fischerei
und den Fischlebensräumen vereinbarer machten, beispielsweise der
Bau von
Fischtreppen in der Iller und im Lech oder Umgehungsbächen. Diese
Maßnahmen
seien oftmals die einzige Möglichkeit, die getrennten Lebensräume
für Fische
wieder zu verbinden und damit die bedrohten Arten zu erhalten.
Während der gesamten Tagung wurde deutlich, wie komplex sich
Fragen des Rechts
am Wasser bis in die Gegenwart gestalten und dass in vielen
Bereichen anhand
von Mikrostudien wichtige Erkenntnisgewinne erzielt werden können.
Bis dato
noch bestehende Forschungsdesiderate, beispielsweise in der
Rechts- und
Landesgeschichte, konnten klar benannt werden. Insbesondere gilt
es, lokale und
regionale Unterschiede und Besonderheiten zu eruieren. Auch können
dadurch
Vergleiche geschaffen werden, die die Umsetzung von Theorie in die
Praxis
genauer beleuchten.
Konferenzübersicht:
Markwart Herzog (Irsee): Begrüßung
Christoph Lang (Augsburg): Begrüßung
Christoph Becker (Augsburg)/Peter Fassl (Augsburg): Einführung
Peter Fassl (Augsburg): Anmerkungen zur Wasserrechtsgeschichte
Schwabens
Wolfgang Wüst (Erlangen): „Was ist des Müllers größtes Glück? Dass
die Säcke
nicht reden können“ – Die Mühlen-Policey in Süddeutschland
Christoph Bachmann (München): Wieso klappert die Mühle am
rauschenden Bach? Zur
Rechtsgeschichte der Mühlen und der Wassernutzung in Altbayern
Walter Bauernfeind (Nürnberg): Nürnberger Mühlen. Stadtentwicklung
am Fluss im
Mittelalter
Christof Paulus (München): Fluss in Ketten. Streit um Wasserrechte
am Lech im
ausgehenden Spätmittelalter
Karl Filser (Augsburg): Flößereirechte am Lech
Ignacio Czeghun (Berlin)/Yolanda Quesada Morillas (Berlin): Das
Wasserrecht im
Spätmittelalter und der Frühen Neuzeit am Beispiel von
Grenada/Spanien und von
Preußen/Heiliges Römisches Reich
Theodor Bühler (Winterthur): Vom Klosterbezirk zum Gewerbebezirk
dank
Wasserverlauf, dargestellt am Kloster St. Alban in Basel
Lutz Dietrich Herbst (Stuttgart): Wasserdiebstahl an der
Haslachmühle? Ein Fall
für das Hasenweiler Ruggericht im Jahr 1841
Bernd Kannowski (Bayreuth): Über die Verantwortlichkeit der
Deutschen
Bundesbahn für die Unterhaltung einer 1851 durch den Bayerischen
Eisenbahnfiskus angelegten Entwässerungsanlage
Corinna Malek (Augsburg): Die rechtlichen Rahmenbedingungen für
die
Entwässerung von Mooren in Bayern seit dem Ende des 18.
Jahrhunderts
Katrin Holly (Augsburg): Die Regulierung kleinerer Flussläufe mit
Umgebungsentwässerung in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts in
Bayern durch
öffentlich-rechtliche Wassergenossenschaften. Das Beispiel der
„Genossenschaft
zur Entwässerung des unteren Zusamtales“
Ralph Neumeier (Augsburg): Was bedeutet „guter Zustand“? Zum Stand
der
Umsetzung der Wasserrahmenrichtlinie
Felix Guffler (Augsburg): Wem gehört der Hecht? Ein
Reichskammergerichtsprozess
zu Grenz- und Rechtsstreitigkeiten zwischen Marx Fugger und dem
Hochstift
Augsburg an der Schmutter
Oliver Born (Salgen): Mühlen, Wehre, Wasserkraftanlagen und die
Fischerei – ein
unlösbarer Konflikt?
Zitation
Tagungsbericht: Mühlen, Kraftwerke, Wasserbauten. Die Regulierung
von Flüssen
und Gewässern in der Rechtsgeschichte, 08.06.2021 – 09.06.2021
hybrid (Irsee),
in: H-Soz-Kult, 13.08.2021, <www.hsozkult.de/conferencereport/id/tagungsberichte-9018>.
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Date: 2021/08/13 19:33:15
From: Roland Geiger via Regionalforum-Saar <regionalforum-saar(a)genealogy.net>
Gier. Was uns bewegt
Haus der Geschichte Baden-Württemberg
27.05.2021 - 19.09.2021
https://www.hdgbw.de/ausstellungen/gierhassliebe/gier-ausstellung/
Rezensiert für H-Soz-Kult von Gudrun Kruip, Stiftung
Bundespräsident-Theodor-Heuss-Haus,
Stuttgart
Die Fähigkeit, zahlreiche starke Emotionen zu empfinden, zeichnet
die Menschen
vor allen anderen Lebewesen aus. Positive Gefühle wie Liebe oder
Glück fallen
ebenso darunter wie negative, etwa Hass oder Jähzorn. Der Kirche
waren diese starken
Gefühle schon früh suspekt, lenkten sie die Gläubigen doch von der
Konzentration auf ihr Seelenheil ab und brachten sie stattdessen
dazu, ihre
individuellen Interessen zu verfolgen. Und so verurteilte die
Kirche gleich
sieben davon als „Todsünden“ (Hochmut, Geiz bzw. Habgier, Wollust,
Zorn,
Völlerei, Neid, Faulheit).
Mit „Gier. Was uns bewegt“ widmet das Haus der Geschichte
Baden-Württemberg
einer dieser „Todsünden“ nun eine ganze Ausstellung und legt dabei
den Fokus
auf die Ambivalenz des Begriffs. Denn die Einteilung der Gefühle
in positiv
oder negativ trügt: So kann Gier in der Spielart der Habgier
großes Leid für
andere verursachen; aber ohne Wissensgier oder Neugier wären viele
Entdeckungen
oder Erfindungen ausgeblieben. Die Ausstellung über Gier steht
dabei nicht
allein. Vielmehr zeigt das Haus der Geschichte in drei
aufeinanderfolgenden
Ausstellungen eine Trilogie der Gefühle und stellt den Drang nach
dem „immer
mehr“ in einen Kontext mit den nicht minder starken Gefühlen Hass
und Liebe.
Die Folgeausstellung „Hass“ soll am 17. Dezember 2021 beginnen;
ein Katalog zur
gesamten Ausstellungstrilogie ist für 2022 geplant. Das Haus setzt
damit seinen
Ansatz fort, die materiell schwer fassbaren, zugleich aber sehr
menschlichen
und durchaus geschichtsmächtigen Gefühle und Sinneseindrücke auf
ihre
historische Dimension hin zu überprüfen.[1] Für eine Ausstellung
genießt dieser
Ansatz noch immer Seltenheitswert[2], obwohl die Geschichte der
Gefühle
spätestens seit 2008 mit der Einrichtung eines eigenen
Forschungsbereichs am
Max-Planck-Institut für Bildungsforschung in der
Geschichtswissenschaft
angekommen ist.
Dass es sich bei Gier, Hass und Liebe keineswegs um eine bloße
Aneinanderreihung dreier Ausstellungen, sondern tatsächlich um
eine Trilogie
miteinander verzahnter Emotionen handelt, verdeutlicht die
Präsentation schon
jetzt an mehreren Stellen. Gleich zu Beginn gibt es drei
Videoinstallationen,
die den Besucherinnen und Besuchern suggestiv verschiedene Seiten
dieser
Gefühle vorführen.[3]
Es bleibt der individuellen Betrachtung überlassen, welche der
jeweiligen
Gefühlsdimensionen prägender ist, und es ist anzunehmen, dass die
entsprechende
Bewertung ohnehin je nach Lebenssituation variiert. Damit wird
schon anfangs
ein Kernthema der Ausstellung deutlich: Gefühle, ihre Bewertung
und der Umgang
damit bei sich selbst und bei anderen hängen von
zeitgeschichtlichen, aber auch
individuellen Umständen ab, die Änderungen unterworfen sind.
Betroffen von den
Gefühlen – in diesem Fall von der Gier – sind aber alle.
Nach dem Entrée empfängt die vom büroberlin (https://www.bueroberlin.net)
gestaltete Ausstellung ihre Besucherinnen und Besucher in
schimmerndem Gold,
bei dem sich unmittelbar die Assoziation von Reichtum, Schmuck und
Jetset
einstellt. Und darum geht es dann letztlich auch in den 31
kleineren Einheiten:
die Jagd nach Ruhm und Anerkennung, nach Geld und Schönheit, der
sich Moral und
Mitgefühl im Zweifelsfall häufig unterordnen.
Besonders sinnfällig wird dies gleich in der ersten Einheit über
den Chemiker
Fritz Haber (1868–1934), der mit der Herstellung von Ammoniak aus
Stickstoff
und Wasserstoff die Düngemittelproduktion revolutionierte. Bis
heute leistet
dieses Verfahren einen wichtigen Beitrag zur Ernährung der
Weltbevölkerung. Auf
Kosten seiner Kollegen und seiner Ehefrau stellte Haber sein
ganzes Wissen und
Können in den Dienst dieser Entwicklung. Er brachte seinen
Wissensdurst und
Forscherehrgeiz jedoch auch skrupellos bei der Entwicklung von
Sprengstoff und
Giftgas ein, die im Ersten Weltkrieg zum Einsatz kamen. Der erst
1920
nachträglich für 1918 verliehene Nobelpreis an den „Vater des
Gaskriegs“ stieß
daher trotz dessen Verdienste um die Welternährung international
auf Kritik.[4]
Und so geht es in der Ausstellung munter weiter mit den
Niederungen
menschlicher Emotionen, ohne dass diese, wie bei Haber, immer auch
einen
positiven Nebeneffekt haben müssten. Manchmal half der Zufall der
Gier auf die
Sprünge, etwa beim „Pulverkönig von Rottweil“ Max Duttenhofer,
dessen Pulver
vor allem dank des deutsch-französischen Krieges 1870/71 plötzlich
stark
nachgefragt war und seinem Hersteller immensen Reichtum, beste
Kontakte und
einflussreiche Ämter bescherte.
Manchmal sollte schlichtweg die eigene Existenz gerettet werden,
wie bei Paul
Mauser (1838–1914), der nur ein Sechstel einer Waffenfabrik besaß
und dem ohne
lukrative Waffenverträge die Fabrik von den tatsächlichen
Eigentümern
geschlossen worden wäre. Hier trat insbesondere die Türkei als
Retterin auf,
die zwischen 1887 und 1909 zur Großabnehmerin der Mauser’schen
Gewehre wurde.
Die geschäftlichen Kontakte zwischen Oberndorf und Konstantinopel
führten aber
auch zu Kontakten der Bevölkerung, auf die eine Vorschau zum
Trilogie-Thema
„Liebe“ anhand einer Narrenkappe verschmitzt hinweist.
In vielen Fällen scheint der Drang nach materiellem Gewinn jedes
Gefühl für
Verantwortung und soziales Miteinander zum Verschwinden zu
bringen. So werden
Betrug und Steuerhinterziehungen trotz ihrer oft immensen
Dimensionen mitunter
immer noch als Kavaliersdelikte wahrgenommen oder in der breiteren
Öffentlichkeit nicht hinreichend verstanden, wie anhand der
Beispiele von
FlowTex und Cum-Ex gezeigt wird. Gleichzeitig simuliert eine
interaktive
Computeranimation, was Steuerausfälle für die Allgemeinheit
bedeuten: schlechte
Bildung für alle, weniger Kulturangebote, Lücken in der
Gesundheitsversorgung,
kaputte Straßen mit entsprechenden Staus und bei unterfinanzierter
Polizei auch
mangelnde Sicherheit. Spätestens hier stellt sich die Frage, ob
persönliche
Gier nicht zu Konsequenzen führt, die auch die Profiteure der Gier
abschrecken
müssten. Interessant wäre deshalb eine Ausweitung des Themas auf
politische und
rechtliche Folgen gewesen: Was wird unternommen, um aufgedeckte
Wirtschaftsverbrechen zu ahnden und Betrugsszenarien dieser
Milliarden-Ausmaße
künftig zu verhindern? Und welche Strukturen fördern überhaupt das
Entstehen
von Gier und deren Erfolg?
Doch die Ausstellung thematisiert nicht nur fragwürdiges, teils
kriminelles
Gebaren von Wissenschaftlern oder Geschäftsleuten, sondern
leuchtet auch tief
in das heutige Alltagsleben hinein. Eine riesige Sneakersammlung
wirft die
Frage auf, wie weit Sammelleidenschaft führen kann und wie viel
sie einem
finanziell wert ist. Darüber hinaus zeigt die Sneakersammlung aber
auch
exemplarisch, dass heutzutage nahezu jeder Kleiderschrank deutlich
überfüllt
ist, nicht zuletzt weil Kleidung in Deutschland billig zu haben
ist. Dass den
Preis dafür andere zahlen, die diese Kleidung zu Hungerlöhnen in
weit
entfernten Ländern produzieren, wird dabei gern ausgeblendet.
Leider hat dieses
Thema kein eigenes Ausstellungssegment bekommen, obwohl es nahezu
jeden
persönlich betrifft und sich in der baden-württembergischen
Textilindustrie
gewiss auch einschlägige Beispiele gefunden hätten.
Die Konsumlust auf Kosten anderer, diesmal auf Kosten der
Milchkühe, wird auch
am Beispiel der „Wegwerfkuh“ gezeigt. Die Milchleistung heutiger
Kühe ist
zehnmal so hoch wie diejenige vor 200 Jahren, was zu miserablen
Lebensbedingungen und einer deutlich verkürzten Lebenszeit der
Tiere führt.
Denn nicht nur Kleidung, sondern auch Lebensmittel sind für die
Konsumentinnen
und Konsumenten so günstig zu erwerben, dass lediglich die
Ausbeutung der Tiere
das Auskommen der Produzenten zu sichern scheint. Wie schwer die
Schuldigen für
diesen Prozess auszumachen sind, zeigt eine virtuelle Kurzführung
der
Ausstellungskuratorin Franziska Dunkel.[5]
An anderer Stelle steht vor allem der Drang nach Aufmerksamkeit,
Rampenlicht
und Schönheit im Fokus. So erfüllte sich für die Friseurin Gordana
Apostoloska
2019 ein Traum, als sie sich auf Kosten des Senders Vox komplett
neu einkleiden
durfte und dann auch noch den ersten Preis als „Shopping Queen“
gewann. Ein gut
gefüllter Kleiderschrank (oder in ihrem Fall: ein ganzer Keller
voller
Kleidung) ist für Apostoloska der Garant, „dazuzugehören“ – und
bevor sie zu
wenig habe, habe sie lieber zuviel. Brustimplantate oder das
(inzwischen
gelöschte) Instagram-Profil der Ex-Influencerin Katharina Weber
reflektieren
ebenfalls die Gier nach dem perfekten Körper und dem schönen
Schein.
Auch beim Fußball dominiert die Gier, ohne die laut Jürgen Klopp
oder Joachim
Löw kein Sieg möglich sei. Doch schon die Vitrine daneben hält die
Schattenseite bereit: Viele sportliche Höchstleistungen sind bis
heute nur dank
Doping zu erreichen. An diesem Beispiel zeigt sich erneut, wie
vielfältig
verschränkt Gier sein kann, denn von den Siegen und Rekorden
profitieren
Sportlerinnen und Sportler, Fans sowie die gesamte Sport- und
Medienbranche.
Die komplexe Struktur der Ausstellung macht eine Orientierung
nicht immer ganz
leicht: Dreizehn Oberthemen werden mit jeweils bis zu fünf
Aspekten
veranschaulicht – so umfasst das Thema „Betrug“ etwa die Aspekte
FlowTex,
Cum-Ex sowie die Einführung der Kassenbonpflicht im Einzelhandel.
Jeder Aspekt
hat zudem nicht nur ein eigenes Schlagwort, sondern auch eine
eigene
Jahreszahl. Insgesamt deckt die Ausstellung eine Spanne von über
zwei
Jahrhunderten ab und wandert dabei mäandernd in der Zeit voran. Da
jeder Aspekt
aber eine eigene kleine Kabinetteinheit darstellt, erschließt sich
das Ganze
dennoch problemlos.
Irritierend ist allerdings der zeitliche Rücksprung, um die beiden
wichtigen
Themen Kolonien/Rassismus und Nationalsozialismus zu behandeln,
die erst
folgen, nachdem die Besucherinnen und Besucher mit Shopping Queen,
Influencern
und Vorratsdatenspeicherung bereits in der heutigen Zeit
angekommen sind. Beide
Themen werden mit mehr Einzelaspekten illustriert als fast jedes
andere Thema
und nehmen allein dadurch schon einen besonderen Stellenwert ein.
Sowohl das
Thema „Kolonien“ als auch „Raub“ (bezogen auf den
Nationalsozialismus) zeigen
zum Abschluss der Ausstellung, dass Gier nicht nur zu persönlicher
Bereicherung
führt, sondern durch eine fatale Melange mit
Rassismus/Antisemitismus, Habgier
und Sensationslust auch in tödliche Menschenverachtung und
Massenmord münden
kann.
Es ist unbedingt empfehlenswert, das umfangreiche Begleitprogramm
und
Zusatzmaterial auf der Website des Hauses der Geschichte ebenfalls
zu beachten.[6] Neben einem virtuellen
Rundgang durch die
Ausstellung gibt es thematische Kurzführungen zu entdecken,
Videoberichte
stellen einzelne Objekte vor, und Interviews mit Prominenten und
Psychologen
leuchten unterschiedliche Facetten der Gier aus. Die
Ausstellungsarchitektin
Julia Neubauer von büroberlin erläutert die Ideen, die hinter der
Gestaltung aus
goldenen Bahnen stecken, und die baden-württembergische
Staatssekretärin Petra
Olschowski schildert ihren Zugang zum Ausstellungsthema.
Ungewöhnlich ist vor
allem die künstlerische Aufbereitung der Gier. Mitten in der
Ausstellung steht
eigens eine große Vitrine, deren Leere einen Gegenpol zur sie
umgebenden
Raffgier darstellt, die aber auch ein Podium für Performances
abgibt, die
Studierende der Staatlichen Hochschule für Musik und Darstellende
Kunst
Stuttgart entwickelt haben. Die Aufführungen werden nicht vorab
angekündigt –
die Besucherinnen und Besucher dürfen sich einfach überraschen
lassen.
Anmerkungen:
[1] So unter anderem in der schon
2014 gezeigten
Ausstellung „Fastnacht der Hölle – der Erste Weltkrieg und die
Sinne“.
Virtueller Rundgang durch die Ausstellung unter https://www.hdgbw.de/ausstellungen/ausstellungsarchiv/1-weltkrieg-und-die-sinne/
(05.08.2021). Siehe auch die Rezension von Thomas Thiemeyer, in:
H-Soz-Kult,
24.05.2014, https://www.hsozkult.de/exhibitionreview/id/rezausstellungen-194
(05.08.2021).
[2] Eine Wanderausstellung, u.a.
konzipiert von
Ute Frevert, der Direktorin des Forschungsbereichs „Geschichte der
Gefühle“ am
Max-Planck-Institut für Bildungsforschung in Berlin, thematisierte
2019, im
Jubiläumsjahr der Weimarer Demokratiegründung, „Die Macht der
Gefühle –
Deutschland 19 / 19“. Die in mehreren Sprachen erhältliche
Poster-Ausstellung
behandelt insgesamt 20 Gefühle, darunter auch Hass und Liebe; Gier
allerdings
nur in der Form der „Neugier“. Siehe den Flyer unter https://machtdergefuehle.de/wp-content/uploads/2019/03/DMDG_Broschu%CC%88re_micro_190204.pdf
(05.08.2021).
[3] Die Videoinstallation ist
auch Teil des
digitalen Angebots zur Ausstellung: https://www.hdgbw.de/ausstellungen/gierhassliebe/gier-ausstellung/
sowie unter https://www.youtube.com/watch?v=FMSHmQodswM
(05.08.2021).
[4] Als Standardwerk siehe Margit
Szöllösi-Janze, Fritz Haber 1868–1934. Eine Biographie, München
1998.
[5] 10 Minuten Gier:
Profitstreben. Kurzführung
in der Ausstellung „Gier. Was uns bewegt“ mit Dr. Franziska
Dunkel, https://www.youtube.com/watch?v=bn-MgNoln9Y
(05.08.2021). Auf YouTube sind auch Kurzführungen der anderen
Ausstellungskuratoren zu sehen.
[6]https://www.hdgbw.de/ausstellungen/gierhassliebe/gier-ausstellung/
und https://www.hdgbw.de/ausstellungen/gierhassliebe/gier-digital/
(05.08.2021).
Zitation
Gudrun Kruip: Rezension zu: Gier. Was uns bewegt, 27.05.2021 –
19.09.2021 Haus
der Geschichte Baden-Württemberg, in: H-Soz-Kult, 14.08.2021, <www.hsozkult.de/exhibitionreview/id/rezausstellungen-381>.
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Date: 2021/08/21 09:01:32
From: Roland Geiger via Regionalforum-Saar <regionalforum-saar(a)genealogy.net>
Inge
Plettenberg
Mordfall Röchling - Der Tod eines Stahlindustriellen an der
Heimatfront, 1944
17. Dezember 1944, drei Monate vor dem Ende des Zweiten
Weltkrieges im
Saarland. Zwei Männer verschwinden spurlos bei einem
Kontrollgang durch die
Völklinger Hütte: Carl Theodor Röchling, Juniorchef der
Röchling’schen Eisen-
und Stahlwerke, und Oberingenieur Heinrich Koch, Chef der
Versorgungs- und
Instandhaltungsbetriebe.
Zehn Tage später findet man sie tot auf – erschossen. Was ist
geschehen? Wer
hat die beiden Männer ermordet?
Die Geschichtsschreibung lieferte auf diese Fragen seither zwei
unterschiedliche Antworten; es schien, als ließe sich der
Kriminalfall nie mehr
ganz aufklären ...
Mit diesem Buch liegt nun erstmals eine detaillierte
Untersuchung des Falles
vor, die zu einem eindeutigen Ergebnis kommt. Sie stützt sich
auf die Aussagen
einer überlebenden Zeugin und rückt erstmals auch die
ermittelnde Polizei und
mit dem Fall befasste Juristen ins Blickfeld.
Aber wie erzählt man eine Geschichte, um die von Anfang an
zahlreiche Legenden
gesponnen wurden?
Die Autorin, die hier die Ergebnisse jahrzehntelanger Recherchen
abschließend
zusammenfasst, hat sich für eine wissenschaftliche,
quellengestützte
Darstellung entschieden. Der Krimi-Effekt stellt sich auf diese
Weise von
selbst ein.
erschienen im Geistkirch-Verlag
Mordfall Röchling
Autor: Inge
Plettenberg
ISBN 978-3-946036-23-4
Hardcover mit Lesebändchen | 296 Seiten | Format 17 x 24 cm | 78
Farb- und
s/w-Fotos / Abblidungen
Verfügbarkeit: vorbestellen
27,80 €
Date: 2021/08/21 09:07:33
From: Roland Geiger via Regionalforum-Saar <regionalforum-saar(a)genealogy.net>
Inge
Plettenbergs Buch
über Tod von Hermann-Röchling-Sohn Carl Theodor
Wie nah standen sich Vater und
Sohn? Hermann Röchling wurde als NS-Verbrecher verurteilt, sein
Sohn soll durch
SS-Sicherheitskräfte ermordet worden sein. Hier sieht man die
beiden auf dem
Flugfeld in St. Arnual um 1938. Foto: Archiv Saarstahl
Völklingen Über die Ermordung Carl Theodor Röchlings in der
Völklinger Hütte
kursieren zwei Versionen. Aber welche ist wahr? Das versucht
jetzt ein Buch zu
klären – und belastet zwei russische Zwangsarbeiter.
Von Cathrin
Elss-Seringhaus, Reporterin
Am 17. Dezember 1944 wurde der einzige Sohn des Stahl-Magnaten
und
Hitler-Vertrauten Hermann Röchling in der Völklinger Hütte
erschossen. Nie
wurden die Tatumstände ganz aufgeklärt. Das ließ die Saarbrücker
Historikerin
Dr. Inge Plettenberg nie ganz los. Mit ihrem jüngst erschienenen
Buch „Mordfall
Röchling. Der Tod eines Stahlindiustriellen an der Heimatfront,
1944“
(Geistkirch Verlag, 27,90 Euro) gelingt ihr ein Kunststück. Sie
rekonstruiert
nicht nur minutiös ein Verbrechen, sie beleuchtet auch die
Lebensumstände in
der Hütte kurz vor Ende des Krieges, taucht hinab in die
Lebensverhältnisse der
Zwangsarbeiter und in die Familienverhältnisse der für die Hütte
Verantwortlichen. Der Leser wird hinein gezogen in eine
spannende
Ermittlunsarbeit in Sachen historische Wahrheit.
Statt eines klassischen Geschichtsbuchs haben Sie eine Art Krimi
geschrieben,
schildern Ihre detektivische Spurensuche in einem Tötungsdelikt,
das vor 76
Jahren stattfand. Warum wählten Sie diese ungewöhnliche Form?
Dr. Inge Plettenberg ist freie Journalistin und hat zahlreiche
Fernsehdokumentationen zu historischen Themen realisiert. Bis
2011 war sie beim
Saarländischen Rundfunk beschäftigt. Seither ist sie als
Buchautorin
tätig und führte für das Weltkulturerbe Völklinger Hütte
Forschungsarbeiten zum
Thema Zwangsarbeit in der Völklinger Hütte durch.
Plettenberg
Sachlich ist meine Darstellung hoffentlich dennoch. Ich wollte
den Leser meinen
eigenen Erkenntnisprozess nachvollziehen lassen. Es lagen zwei
Versionen vor
zur Ermordung Carl Theodor Röchlings am 17. Dezember 1944, und
es konnten ja
nicht beide wahr sein. Ich wollte auch für mich die Details im
Hintergrund
klären, Schritt für Schritt zur Wahrheit vordringen. Dafür bot
sich meiner Ansicht
nach das auktoriale Erzählen nicht an.
Hängt das nicht auch damit zusammen, dass Sie ahnten, die
Botschaft „Fall
gelöst, ich weiß Bescheid, wie es wirklich war“ – nämlich dass
es russische Zwangsarbeiter
waren, die Carl Theodor Röchling und seinen Begleiter Hermann
Koch erschossen,
und nicht etwa der SS-Sicherheitsdienst, – dass diese Version
also auf
massiven Widerstand stoßen würde? Was macht es eigentlich bis
heute so heikel,
irgendetwas zum Thema Röchling zu veröffentlichen?
Carl Theodor Röchling um 1920 auf dem Pferd seines Vaters
Hermann Röchling.
Der glühende Hitler-Verehrer Hermann Röchling erlebte den Tod
seines Sohnes an
der „Heimatfront“, die er selbst idealisiert hatte. Foto:
Rainald
Gußmann/Familienalbum von Gemmingen;
Plettenberg
Ich erlebe das als regionales Problem. Es wird sich erst
erledigen, wenn die
letzten Röchlingianer gegangen sind, die in Hermann Röchling nur
den Wohltäter
sehen. Mit ihnen geht dann auch das Narrativ, das Ende der 50er
Jahre wichtig
war für das Firmenimage, nämlich dass Carl Theodor Röchling dem
NS-Regime
kritisch gegenüber stand und sich dem Nero-Befehl Hitlers
widersetzte, die
Hütte zu zerstören, bevor sie dem Feind in die Hände fiel. Dass
dieser Befehl
erst im März 1945 erging, als Carl Theodor Röchling bereits tot
war, wird
übersehen. Man definiert Röchling Junior als Anti-Nazi, NS-Opfer
und Retter
tausender Arbeitsplätze im Saarland.
Aber kurioserweise haben auch Röchling-Kritiker Interesse an
dieser Version,
weil für sie die Nazis grundsätzlich die Bösen und Verbrecher
sind, und es ins
Bild passt, wenn man damals Russen unschuldig zum Tode
verurteilte...
Plettenberg
Manche Leute neigen dazu, alle Verbrechen der
Nationalsozialisten an der Person
Hermann Röchlings festzumachen. Oft wird mit Allgemeinplätzen
argumentiert, man
ist gar nicht so sehr an Fakten interessiert. Das beobachte ich
auch im Umgang
mit meinen Forschungsergebnissen zur Zwangsarbeit in der
Völklinger Hütte. Wenn
ich als Historikerin genau wissen will, wie die Lebensumstände
dieser Menschen
waren, und nicht einfach nur sage: Sie lebten
„menschenunwürdig“, dann wird
dies bereits als distanzlos gegenüber den Röchlings kritisiert.
Doch wenn man
Hermann Röchling zur Unperson erklärt, sich nur an ihm
festbeißt, übersieht
man, wieviele andere saarländische Hütten und Gruben ebenfalls
Zwangsarbeiter
beschäftigten. Solcherart Geschichtsbetrachtung mag das eigene
Wohlgefühl
stärken, dass man auf der moralisch richtigen Seite steht, aber
zum Verständnis
damaliger und heutiger Entwicklungen trägt es nicht bei.
Im Vorwort schreiben Sie, das Buch handle nicht nur von einem
Kriminalfall,
sondern auch von einer Tragödie, die sechs Familien umfasst. Wie
meinen Sie
das?
Plettenberg
Ich habe nicht nur die beiden erschossenen Männer, sondern auch
ihre Familien,
und darüber hinaus die Familien der als Täter Verurteilten im
Blick. Besondere
Bedeutung besitzt das Vater-Sohn-Verhältnis zwischen Carl
Theodor und Hermann
Röchling. Letzterer erlebte ja ein persönliches Drama, weil sein
Sohn an der
„Heimatfront“ starb, die er, der Vater, in seiner
Kriegsdenkschrift 1936 als
Erfordernis des totalen Krieges beschrieben hatte. Und Carl
Theodor Röchlings
Witwe heiratet 1946 tatsächlich einen NS-Gegner, Dr. Ernst
Röchling, der einen
der Hitler-Attentäter von 1944 versteckte und dafür vom
„Volksgerichtshof“ in
Berlin zu fünf Jahren Zuchthaus verurteilt wurde. Das allein ist
eine besondere
Geschichte. Und dann ist da die Ehefrau von Oberingenieur Koch,
der zusammen
mit Carl Theodor ermordet wurde: Sie war Jüdin. Welchen
administrativen
Schikanen sie ausgesetzt war, bereits bevor der „Holocaust“
begann, das habe
ich erstmals aufgearbeitet. Auch um biographische Informationen
zu den Russen,
auf die Carl Theodor Röchling und Koch stießen, habe ich mich
bemüht. Erstmals
in Gänze publiziert wird auch das Interview, das ich 2010 im
Auftrag des
Saarländischen Rundfunks mit der letzten Überlebenden der
Vorfälle in der
Mordnacht geführt habe.
Diese Russin ist Ihre Hauptzeugin, um zu belegen, dass es
tatsächlich ein
Zufall war, dass Carl Theodor Röchling und Hermann Koch an
diesem Dezembertag
auf die vier jungen Russen trafen, die sich versteckten, nachdem
der
Fabrikbetrieb und die Beschäftigung aller ausländischen Arbeiter
Anfang
Dezember 1944 beendet worden waren. Und dass diese Männer
sozusagen aus Notwehr
handelten, weil sie davon ausgehen mussten, dass ihnen wegen
ihres Verbleibs im
Werk der Tod drohte.
Plettenberg
Deshalb hatte ich auch zunächst Probleme mit dem etwas
reißerischen Titel
„Mordfall Röchling“. Aber ich stütze meine Argumentation für
diese These der
Vorfälle auch darauf, dass es für diese Version behördliche
Dokumente gibt, die
im Rastatter Prozess auftauchten, insbesondere die
Anklageschrift vom 21.
Januar 1945 mit dem Ermittlungs-und Obduktionsbericht. Für die
andere Version,
die von einer Liquidierung von Carl Theodor Röchling durch den
SS-Sicherheitsdienst ausgeht, gibt es nichts dergleichen, nur
Aussagen Dritter
über seine vermeintliche regimekritische Haltung. Die
NS-Opfer-Version passte
eben sehr gut zur Legendenbildung, die der Familie Röchling ab
1956 bei ihrem
Neustart in Völklingen half.
Erwarten Sie, dass das Narrativ jetzt offiziell geändert wird?
Plettenberg
Nein. Für die heutigen Unternehmen, die unter dem Namen Röchling
laufen, spielt
die NS-Vergangenheit keine Rolle mehr. Und für die jungen
Familienmitglieder,
die ich kennen lernen konnte, liegen die Todesumstände eines
Vorfahren im Jahr
1944 viel zu weit zurück. Wenn man sich überhaupt dafür
interessiert, dann ist
die junge Generation prinzipiell offen gegenüber allen
Erkenntnissen.
Das Gespräch führte Cathrin Elss-Seringhaus
Date: 2021/08/24 08:54:24
From: Roland Geiger via Regionalforum-Saar <regionalforum-saar(a)genealogy.net>
Guten Morgen,
gestern erschien im Regionalteil der Saarbrücker Zeitung ein
Artikel über den
Bombenangriff auf Türkismühle am 22. Februar 1945.
Der St. Wendeler Redakteur Thorsten Grim hatte den Türkismühler
Heimatforscher
Helmut Weiler interviewt und aus dessen Aussagen diesen Artikel
zusammengebastelt. Ich hatte schon lange befürchtet, daß mich das
zunehmende Alter
hat ruhiger und gelassener werden lassen, aber das hat sich als
unbegründet
erwiesen. Ich habe gestern morgen gut zwei Stunden damit
verbracht, die
nachstehende Email an Herrn Grim zu verfassen.
Den Artikel selbst finden Sie unkommentiert in der nächsten Email,
allerdings
reduziert um die Fotos.
Roland Geiger
----------------
Guten Morgen, Herr Grim,
ich habe Ihren Artikel über den Bombenangriff aus Türkismühle
gelesen. Mir ist
klar, daß Sie nur wiedergegeben haben, was Herr Weiler Ihnen
erzählt hat. Aber
kaum etwas davon, was den Hintergrund des Angriffs betrifft,
entspricht der Realität.
Es handelte sich um einen Tagangriff, die Bomber kamen um 15 Uhr.
Damit war es
nicht die Royal Air Force, die den Angriff flog, sondern die
Amerikaner flogen
diesen Angriff. Damit ist das schöne Foto der Lancaster, das Sie
zeigen,
nutzlos, denn sie gehörte zu den Briten.
Ein paar Tage nach dem Angriff - am 26. Februar - überflog die
Ninth AirForce
(US) in einer Höhe von 24.000 Fuß den Ort und schoß Fotos, um zu
klären,
welchen Schaden sie zuvor am Bahnhof angerichtet hatte. Woraus
sich folgern läßt,
daß tatsächlich der Bahnhof das Ziel war. Türkismühle war
Verkehrsknotenpunkt,
von hier zweigte die Eisenbahnstrecke nach Hermeskeil ab. Legt man
diesen
Knotenpunkt lahm, können keine Züge passieren, was die Bewegungen
des Feindes
erheblich einschränkt. Damit handelte es sich hier um einen
taktischen Angriff,
der der aktuellen Lage geschuldet war.
Die Ninth Air Force besaß keine sog. „schweren Bomber“ (B-17
Flying Fortress
und B-24 Liberator), sondern kleinere mittelschwere und maximal
zweimotorige, z.B.
die B-26 Marauder. Sie war wendiger und für kleinere Ziele, z.B.
Türkismühle,
viel besser geeignet, als die viel behäbigeren schweren Bomber.
Letztere
tauchten nur in Pulks auf, was ihre Effizienz steigerte. Marauders
flogen
allein oder in kleinen Rotten zu drei oder sechs.
Sie beziehen sich auf die Operation Clarion. Darin findet sich in
wikipedia:
„Die 9th Air Force war mit 465 Bombern und 1053 Kampfflugzeugen im
Einsatz. Sie
bombardierten zahlreiche Eisenbahnbrücken und Bahnknoten im Raum Gießen,
Freiburg, Bingen
und Köln
und zerstörten unter anderem 118 Lokomotiven. Sie verloren im
Luftkampf drei
Bomber und zwölf Jagdflugzeuge, schossen dagegen 17 deutsche
Flugzeuge ab.“
Glauben Sie wirklich, General Spaatz hätte zugelassen, daß in
Vorbereitung
dieses Angriffes Flugblätter abgeworfen würden, um den Feind am
Boden zu
warnen? Die Alliierten besaßen die Lufthohheit, aber sie wußten,
daß sich am
Boden Truppen befanden, die sich wehren würden. Flugblätter hätten
die
Zivilisten gelesen, die Truppen aber auch. Die Soldaten beider
Seiten waren
mutig, aber wirklich dumm war keiner von ihnen.
Flugblätter dienten dazu, den Feind zu demotivieren und zum
Aufgeben zu
bringen; ihr Zweck war, die Gefahr von der anderen Seite zu
verringern. Ein
Text wie „Türkismühle im Loch - wir kriegen Dich doch“ ist eine
Provokation,
eine Verhöhnung, nicht eine Aufforderung zur Aufgabe. Dazu kommt:
wer soll
diese Flugblätter abgeworfen haben? Es mußte eine zweimotorige
Maschine sein,
aus deren Bombenschacht die Blätter abgeworfen wurden. Sie mußte
den Raum über
Türkismühle unbeschadet erreichen (also mindestens drei oder mehr
Flugzeuge),
tief runter gehen (von normaler Höhe bei 8 km auf mindestens 500
Meter), damit
die Blätter auch wirklich in Türkismühle landen, und sie mußte die
ganze
Strecke wieder zurückfliegen. Der ganze Aufwand, um dem Feind zu
sagen, für
welch einen Idioten man ihn hält. Dazu muß man schon wirklich
bescheuert sein.
Nach dem Angriff kamen lt. Weiler die Jäger in Form amerikanischer
P-38
Lightnings, um die Leute am Boden davon abzuhalten, die
Verschütteten zu
bergen. Wie soll ich das schreiben? Wissen Sie, wie ein Pilot in
einem Jäger
zielt? Mit seiner ganzen Maschine, denn die Maschinengewehre sind
fest in der
Tragfläche eingebaut und zielen auf einen Punkt, der in einer
gewissen
Entfernung genau vor der Flugzeugnase in Flugrichtung liegt. D.h.
bei einem
Vorbeiflug kann der Pilot zwar feuern, aber er trifft nichts, weil
das Ziel
dann neben ihm liegt. Er muß also ein ganzes Stück wegfliegen,
drehen, seine
Nase auf das Ziel ausrichten und darauf losfliegen. Ein ganzes
Stück davor
schießt er und dreht gleich wieder ab, denn er kommt mit ein paar
hundert
Stundenkilometern an. Dreht er nicht rechtzeitig ab, fliegt er in
den Boden.
Der Begriff „Dachrutscher“ scheint ein lokaler Begriff zu sein.
Ich hörte ihn
in den 90ern zum ersten Mal. Er bezeichnet einen feindlichen
Jäger, der
spätabends sehr tief über die Dächer der Häuser geflogen sein
soll, daher der Name.
Welcher Nationalität er war, wußte niemand, und gesehen hat ihn
wohl auch
niemand. Die Flugzeuge, die Herr Weiler meint, die P-38 Lightning,
wurde in der
Regel als Eskorte für Bomber eingesetzt (suchen Sie doch mal nach
dem Gedicht
„Lightnings in the Sky“), aber auch als Jagdbomber, d.h. unter den
Tragflächen
hingen leichte Bomben. „Jabo“ für Jagdbomber ist dann auch der
Begriff, den die
Leute hierzulande den einzel oder in Rotte fliegenden einsitzigen
und
einmotorigen Jagdflugzeugen der Amerikaner gaben, die so gut wie
jedes sich
anbietende Bodenziel angriffen, wiederum taktisch, um potentielle
Gegner auf
dem Boden auszuschalten. Um festzustellen, wie sich aus einem
schnellfliegenden
Flugzeug aus ein paar hundert Metern Höhe der Unterschied zwischen
Zivilisten
und Soldaten ausmachen läßt, empfehle ich Ihnen einen Flug in
Marpingen in
einem zweisitzigen Tiefdecker. Schauen Sie aus dem Fenster, und
identifizieren
Sie Personen und Tiere.
Herr Weiler gibt an, es seien etwa 50 Personen bei dem Angriff
umgekommen. Ein
bißchen später sagt er, die letzten Opfer seien nach 1,5 Jahren
gefunden
worden. D.h. es dürfte einfach sein, die Zahl und Namen der Toten
ermitteln.
Oder ist das zuviel Mühe und paßt nicht in sein Feindbild?
Zu dem Einsatz der Amerikaner über Türkismühle am 22. Februar 1945
gibt es
sicher einen Einsatzbericht, der im amerikanischen Nationalarchiv
in College
Park, Maryland, liegt. Dort muß man heutzutage nicht mal
hinfahren. Aber drum
bemühen muß man sich schon.
Die Erinnerung spielt uns Streiche, vor allem an Erlebnisse, die
wir als junge
Menschen hatten. Wir interpretierten sie mit den intellektuellen
Möglichkeiten,
die wir damals hatten. Im Laufe der Jahre erinnern wir uns dann
nicht mehr an
die Erlebnisse, sondern an diese Interpretationen und das, was uns
andere
darüber erzählten.
Ich sprach in den 1990ern mit einem Augenzeugen aus Eisen, der mir
von einem
Flugzeugabsturz berichtete. Dort drüben, wies er mit der Hand, kam
das Flugzeug
her und brannte. Hier drüben ist einer ausgestiegen, und dort
hinter den
Häusern ist es abgestürzt. Ich nahm seine Aussage als Grundlage
und fand
heraus, daß er von drei Ereignissen sprach, die zu
unterschiedlichen Zeiten
binnen zweier Jahre stattgefunden hatten.
Augenzeugenberichte sind tolle Grundlagen, aber sie müssen
analysiert werden.
Sonst kann das furchtbar in die Hose gehen.
Mit freundlichen Grüßen
Roland Geiger
|
Date: 2021/08/24 08:55:31
From: Roland Geiger via Regionalforum-Saar <regionalforum-saar(a)genealogy.net>
gestern in der SZ, Regionalteil St. Wendel:
Als Bomben auf Türkismühle fielen
[Großes Foto: Am 22. Februar 1945 erfolgte der folgenreichste von
insgesamt 51
Luftangriffen auf Türkismühle. Das Foto zeigt einen viermotorigen
britischen
Bomber vom Typ Lancaster im Anflug auf Hamburg im Zweiten
Weltkrieg.]
Türkismühle Am Bahnhof Türkismühle eröffnete im Sommer ein
Döner-Imbiss. Aber
das Grundstück, auf dem er steht, hat eine tragische Geschichte:
Hier suchten
im Februar 1945 zahlreiche Menschen im Keller eines Hotels Schutz
vor den
Bomben, die die Alliierten über Türkismühle abwarfen – vergeblich.
Von Thorsten
Grim, Redakteur Lokalredaktion St. Wendel
Mit der Ardennenoffensive im Winter 1944/45 hatte Hitler im Westen
alles auf
eine Karte gesetzt – und verloren. Wenngleich die Wehrmacht damit
den Angriff
der West-Alliierten auf das Deutsche Reich nach Einschätzung der
Historiker der
Bundeszentrale für Politische Bildung um etwa sechs Wochen
verzögert hatte.
Dennoch war mit dem Scheitern der Großoffensive der von den Nazis
noch immer
beschworene Endsieg endgültig in unerreichbare Ferne gerückt.
Unaufhaltsam
wanderte die West-Front in östliche Richtung.
Dabei helfen, den Widerstand der Deutschen zu brechen, sollte die
Operation
Clarion. So lautete der Code-Name der größten und weiträumigsten
anglo-amerikanischen Luftangriffskampagne im Zweiten Weltkrieg.
Innerhalb von
48 Stunden wollten die Alliierten am 22. und 23. Februar 1945 der
Infrastruktur
im Reich einen tödlichen Schlag versetzen. Auch das Dörfchen
Türkismühle hatten
die Angreifer als Ziel für ihre Bomberpiloten auserkoren.
Seine Entstehung verdankt der Ort einer günstigen Verkehrslage.
Und genau die
sollten ihm und zahlreichen Menschen am 22. Februar ’45 zum
Verhängnis werden.
Allerdings fielen die Bomben auf den Bahnknotenpunkt nicht aus
heiterem Himmel.
Es war bewölkt. Und: „Der Angriff war angekündigt worden“,
erinnert sich Helmut
Weiler. Der Türkismühler ist pensionierter Gymnasiallehrer und
passionierter
Heimatforscher. Zahlreiche Schriften hat Weiler zur Geschichte
seines
Heimatortes und des Hochwaldes verfasst. Auch mit dem Bombardement
Ende Februar
1945 hat er sich befasst. „Die Alliierten hatten über dem Dorf
Flugblätter
abgeworfen. Darauf stand: Türkismühle im Loch – wir kriegen Dich
doch“,
berichtet der Heimatforscher, der damals noch ein kleiner Junge
war.
76 Jahre später sitzen wir am Tisch des Esszimmers in seinem
Wohnhaus, das im
Gebiet auf dem Eber steht. „Hier, wo wir jetzt sitzen, waren
damals jede Menge
Luftabwehrgeschütze stationiert“, berichtet Weiler. „Wenn man in
diese
Richtung weiter geht“, er zeigt aus dem Fenster in westliche
Richtung, „würde
man eine Absturzstelle finden. Da wurde eine viermotorige Maschine
der Amis
abgeschossen.“
Anlass für Weiler, sich noch einmal mit jenem Schicksalstag wenige
Monate vor
Kriegsende zu beschäftigen, war jüngst die Neueröffnung des
Türkismühler
City-Grills in der Saarbrücker Straße. Denn der steht genau auf
jenem Platz, wo
damals zahlreiche Menschen ihr Leben verloren.
Die Bomber mit ihrer todbringenden Luftfracht kamen nachmittags
gegen 15 Uhr
aus Richtung Nohfelden durch das Nahetal geflogen. Tief brummten
die Motoren
der Propellermaschinen, Sirenen hatten Fliegeralarm geheult. Bis
1944 war
Türkismühle fast vollständig von Luftangriffen verschont
geblieben. Doch mit
dem Näherrücken der Front war das florierende Dörfchen immer
stärker ins Visier
der Bomberstaffeln gerückt. Schließlich war hier ein wichtiger
Verkehrsknotenpunkt – gerade auch für die Wehrmacht. 51 Angriffe
aus der Luft
sollten in der Folge bis Kriegsende über Türkismühle niedergehen.
Der damals beidseitige Trennungsbahnhof lag und liegt an der
Nahetalbahn und
war Endpunkt der Hochwaldbahn nach Trier sowie der Westrichbahn
nach
Kusel. „Gerade in den letzten Kriegsmonaten und -wochen ging durch
den
Bahnhof viel Kriegsgerät durch“, weiß Weiler und berichtet von
einer alten
Militärrampe im Wald, „die es noch immer gibt“. Über diese konnte
Großgerät auf die Schiene gebracht oder von dort heruntergeholt
werden. „Es gibt sogar Zeitzeugen, die mir erzählt haben, dass
hier einige
V2 verladen wurden.“ Die Abkürzung V2 steht für Vergeltungswaffe
zwei, die
weltweit erste funktionsfähige Großrakete mit
Flüssigkeitstriebwerk. Die
ballistische Artillerie-Rakete kam im Zweiten Weltkrieg ab 1944 in
großer Zahl
zum Einsatz.
Als sich die Bomber am 22. Februar 1945 dem Ort näherten, hielt
gerade ein
Passagierzug in Türkismühle. Da Fliegeralarm gegeben war, rannten
die Menschen
aus Zug und Bahnhof und suchten Schutz in dem vermeintlich
sicheren Keller des
unweit gelegenen Hotels Zwetsch. Das war in den 1870er-Jahren als
Hotel zur
Post erbaut worden.
Ungeachtet der Flugabwehrgeschütze auf der Anhöhe, wo heute Weiler
wohnt,
drangen die Bomber vor. Dann waren die Flieger über dem Dorf,
öffneten die
Klappen an den Bäuchen ihrer fliegenden Festungen und luden ihre
tödliche
Fracht ab. Gewaltige Explosionen erschütterten den Bahnhof und die
umliegenden
Gebäude. Die Gleisanlage wurde nachhaltig zerstört, ebenso unter
anderem das
Bahnhofsgebäude, das Gasthaus Schulz sowie das Geschäftshaus Anton
Meier. Auch
das Hotel Zwetsch wurde getroffen. Dessen Keller galt zwar als
bombensicher,
wurde aber dennoch zur Todesfalle.
„Man schätzt, dass etwa 50 Menschen in dem Keller Schutz suchten
und
verschüttet wurden. In dem Keller lagerte Koks, der sich durch den
Bombenangriff wohl entzündete. Das Feuer entzog der Luft den
Sauerstoff und die
Menschen erstickten“, berichtet Weiler. „Neben den beiden
Hotelbesitzerinnen
Philippine und Ida Zwetsch sowie ihrer Schwester Luise fanden
weitere Personen
aus Türkismühle, den Nachbarorten sowie die Fahrgäste des gerade
angekommenen
Zuges und zudem fünf Wehrmachtsangehörige, (. . .), den Tod.“
Während der Lösch- und Rettungsarbeiten griffen immer wieder
amerikanische
Kampfflugzeuge die Rettungskräfte an. „Wir haben die Flugzeuge nur
Dachrutscher
genannt, weil sie immer so tief über die Dächer der Häuser
geflogen kamen“,
sagt der Heimatforscher. Die Dachrutscher waren Jäger der Firma
Lockheed mit
der Bezeichnung P-38 Lightning. Jedenfalls machten diese Angriffe
die Bergung
der Opfer aus den Schuttmassen tagsüber schwierig bis nahezu
unmöglich. Die in
den folgenden Nächten geborgenen Opfer setzte man – ebenfalls
nachts – auf dem
Friedhof in Nohfelden bei, da ein solcher in Türkismühle selbst
zur damaligen
Zeit noch nicht angelegt war. „Die letzten Opfer konnten aber erst
gut
eineinhalb Jahre später völlig skelettiert geborgen werden“, hat
Weiler
recherchiert.
Das Grundstück des ehemaligen Hotels Zwetsch blieb in der
Folgezeit unbebaut.
Bis jetzt. 76 Jahre nach der Zerstörung des ehemaligen Hotels zur
Post sei mit
dem repräsentativen Neubau ein würdiger Nachfolger gefunden
worden, „der wie
das Vorgängergebäude zu einer Institution werden kann“. Jedenfalls
wünscht
Weiler das der Familie Kartal Vakkas, die den Citiy-Grill
betreibt.
|
Date: 2021/08/24 09:12:25
From: Roland Geiger via Regionalforum-Saar <regionalforum-saar(a)genealogy.net>
Peter Engels Nachruf - Legende und
Wirklichkeit.
Peter Engel wurde 1819 in St. Wendel geboren und starb 1919 in
Dansville im
amerikanischen Bundesstaat New York. Kurz vor seiner Beerdigung
erschien im
dortigen Lokalblatt ein langer Nachruf, wie er in den USA damals
und heute ab
und an immer noch üblich war. Darin wird der Verstorbene in den
Stationen
seines Lebens vorgestellt. Als ich den Nachruf mit meinen eigenen
Forschungen
verglich, fand ich einige Unstimmigkeiten, die ich in meinem
Vortrag vorstellen
will.
Saarbrücken-Scheidt, Lesesaal des Landesarchivs Saarbrücken
Dienstag, 31. August 2021, 17.20 Uhr
Der Eintritt ist frei; allerdings ist eine Voranmeldung beim
Vorsitzenden der Arbeitsgemeinschaft
für Saarländische Familienforschung notwendig.
Bitte kontaktieren Sie Markus Detemple per Email:
<markus(a)de-temple.de>
Mit freundlichen Grüßen
Roland Geiger
|
Date: 2021/08/24 09:22:16
From: Stefan Reuter via Regionalforum-Saar <regionalforum-saar(a)genealogy.net>
Hallo, Roland.
Kurz und gut: Erstklassiger Kommentar!
Vergleichbares ließe sich zu fast allen Berichten in den Medien schreiben/sagen, die sich mit den damaligen Ereignissen befassen.
Leider fast durchgängig verfasst nach der Devise: "Keine Ahnung, aber davon jede Menge!"
Gruß, Stefan
Guten Morgen,
gestern erschien im Regionalteil der Saarbrücker Zeitung ein
Artikel über den
Bombenangriff auf Türkismühle am 22. Februar 1945.
Der St. Wendeler Redakteur Thorsten Grim hatte den Türkismühler
Heimatforscher
Helmut Weiler interviewt und aus dessen Aussagen diesen Artikel
zusammengebastelt. Ich hatte schon lange befürchtet, daß mich das
zunehmende Alter
hat ruhiger und gelassener werden lassen, aber das hat sich als
unbegründet
erwiesen. Ich habe gestern morgen gut zwei Stunden damit
verbracht, die
nachstehende Email an Herrn Grim zu verfassen.
Den Artikel selbst finden Sie unkommentiert in der nächsten Email,
allerdings
reduziert um die Fotos.
Roland Geiger
----------------
Guten Morgen, Herr Grim,
ich habe Ihren Artikel über den Bombenangriff aus Türkismühle
gelesen. Mir ist
klar, daß Sie nur wiedergegeben haben, was Herr Weiler Ihnen
erzählt hat. Aber
kaum etwas davon, was den Hintergrund des Angriffs betrifft,
entspricht der Realität.
Es handelte sich um einen Tagangriff, die Bomber kamen um 15 Uhr.
Damit war es
nicht die Royal Air Force, die den Angriff flog, sondern die
Amerikaner flogen
diesen Angriff. Damit ist das schöne Foto der Lancaster, das Sie
zeigen,
nutzlos, denn sie gehörte zu den Briten.
Ein paar Tage nach dem Angriff - am 26. Februar - überflog die
Ninth AirForce
(US) in einer Höhe von 24.000 Fuß den Ort und schoß Fotos, um zu
klären,
welchen Schaden sie zuvor am Bahnhof angerichtet hatte. Woraus
sich folgern läßt,
daß tatsächlich der Bahnhof das Ziel war. Türkismühle war
Verkehrsknotenpunkt,
von hier zweigte die Eisenbahnstrecke nach Hermeskeil ab. Legt man
diesen
Knotenpunkt lahm, können keine Züge passieren, was die Bewegungen
des Feindes
erheblich einschränkt. Damit handelte es sich hier um einen
taktischen Angriff,
der der aktuellen Lage geschuldet war.
Die Ninth Air Force besaß keine sog. „schweren Bomber“ (B-17
Flying Fortress
und B-24 Liberator), sondern kleinere mittelschwere und maximal
zweimotorige, z.B.
die B-26 Marauder. Sie war wendiger und für kleinere Ziele, z.B.
Türkismühle,
viel besser geeignet, als die viel behäbigeren schweren Bomber.
Letztere
tauchten nur in Pulks auf, was ihre Effizienz steigerte. Marauders
flogen
allein oder in kleinen Rotten zu drei oder sechs.
Sie beziehen sich auf die Operation Clarion. Darin findet sich in
wikipedia:
„Die 9th Air Force war mit 465 Bombern und 1053 Kampfflugzeugen im
Einsatz. Sie
bombardierten zahlreiche Eisenbahnbrücken und Bahnknoten im Raum Gießen,
Freiburg, Bingen
und Köln
und zerstörten unter anderem 118 Lokomotiven. Sie verloren im
Luftkampf drei
Bomber und zwölf Jagdflugzeuge, schossen dagegen 17 deutsche
Flugzeuge ab.“
Glauben Sie wirklich, General Spaatz hätte zugelassen, daß in
Vorbereitung
dieses Angriffes Flugblätter abgeworfen würden, um den Feind am
Boden zu
warnen? Die Alliierten besaßen die Lufthohheit, aber sie wußten,
daß sich am
Boden Truppen befanden, die sich wehren würden. Flugblätter hätten
die
Zivilisten gelesen, die Truppen aber auch. Die Soldaten beider
Seiten waren
mutig, aber wirklich dumm war keiner von ihnen.
Flugblätter dienten dazu, den Feind zu demotivieren und zum
Aufgeben zu
bringen; ihr Zweck war, die Gefahr von der anderen Seite zu
verringern. Ein
Text wie „Türkismühle im Loch - wir kriegen Dich doch“ ist eine
Provokation,
eine Verhöhnung, nicht eine Aufforderung zur Aufgabe. Dazu kommt:
wer soll
diese Flugblätter abgeworfen haben? Es mußte eine zweimotorige
Maschine sein,
aus deren Bombenschacht die Blätter abgeworfen wurden. Sie mußte
den Raum über
Türkismühle unbeschadet erreichen (also mindestens drei oder mehr
Flugzeuge),
tief runter gehen (von normaler Höhe bei 8 km auf mindestens 500
Meter), damit
die Blätter auch wirklich in Türkismühle landen, und sie mußte die
ganze
Strecke wieder zurückfliegen. Der ganze Aufwand, um dem Feind zu
sagen, für
welch einen Idioten man ihn hält. Dazu muß man schon wirklich
bescheuert sein.
Nach dem Angriff kamen lt. Weiler die Jäger in Form amerikanischer
P-38
Lightnings, um die Leute am Boden davon abzuhalten, die
Verschütteten zu
bergen. Wie soll ich das schreiben? Wissen Sie, wie ein Pilot in
einem Jäger
zielt? Mit seiner ganzen Maschine, denn die Maschinengewehre sind
fest in der
Tragfläche eingebaut und zielen auf einen Punkt, der in einer
gewissen
Entfernung genau vor der Flugzeugnase in Flugrichtung liegt. D.h.
bei einem
Vorbeiflug kann der Pilot zwar feuern, aber er trifft nichts, weil
das Ziel
dann neben ihm liegt. Er muß also ein ganzes Stück wegfliegen,
drehen, seine
Nase auf das Ziel ausrichten und darauf losfliegen. Ein ganzes
Stück davor
schießt er und dreht gleich wieder ab, denn er kommt mit ein paar
hundert
Stundenkilometern an. Dreht er nicht rechtzeitig ab, fliegt er in
den Boden.
Der Begriff „Dachrutscher“ scheint ein lokaler Begriff zu sein.
Ich hörte ihn
in den 90ern zum ersten Mal. Er bezeichnet einen feindlichen
Jäger, der
spätabends sehr tief über die Dächer der Häuser geflogen sein
soll, daher der Name.
Welcher Nationalität er war, wußte niemand, und gesehen hat ihn
wohl auch
niemand. Die Flugzeuge, die Herr Weiler meint, die P-38 Lightning,
wurde in der
Regel als Eskorte für Bomber eingesetzt (suchen Sie doch mal nach
dem Gedicht
„Lightnings in the Sky“), aber auch als Jagdbomber, d.h. unter den
Tragflächen
hingen leichte Bomben. „Jabo“ für Jagdbomber ist dann auch der
Begriff, den die
Leute hierzulande den einzel oder in Rotte fliegenden einsitzigen
und
einmotorigen Jagdflugzeugen der Amerikaner gaben, die so gut wie
jedes sich
anbietende Bodenziel angriffen, wiederum taktisch, um potentielle
Gegner auf
dem Boden auszuschalten. Um festzustellen, wie sich aus einem
schnellfliegenden
Flugzeug aus ein paar hundert Metern Höhe der Unterschied zwischen
Zivilisten
und Soldaten ausmachen läßt, empfehle ich Ihnen einen Flug in
Marpingen in
einem zweisitzigen Tiefdecker. Schauen Sie aus dem Fenster, und
identifizieren
Sie Personen und Tiere.
Herr Weiler gibt an, es seien etwa 50 Personen bei dem Angriff
umgekommen. Ein
bißchen später sagt er, die letzten Opfer seien nach 1,5 Jahren
gefunden
worden. D.h. es dürfte einfach sein, die Zahl und Namen der Toten
ermitteln.
Oder ist das zuviel Mühe und paßt nicht in sein Feindbild?
Zu dem Einsatz der Amerikaner über Türkismühle am 22. Februar 1945
gibt es
sicher einen Einsatzbericht, der im amerikanischen Nationalarchiv
in College
Park, Maryland, liegt. Dort muß man heutzutage nicht mal
hinfahren. Aber drum
bemühen muß man sich schon.
Die Erinnerung spielt uns Streiche, vor allem an Erlebnisse, die
wir als junge
Menschen hatten. Wir interpretierten sie mit den intellektuellen
Möglichkeiten,
die wir damals hatten. Im Laufe der Jahre erinnern wir uns dann
nicht mehr an
die Erlebnisse, sondern an diese Interpretationen und das, was uns
andere
darüber erzählten.
Ich sprach in den 1990ern mit einem Augenzeugen aus Eisen, der mir
von einem
Flugzeugabsturz berichtete. Dort drüben, wies er mit der Hand, kam
das Flugzeug
her und brannte. Hier drüben ist einer ausgestiegen, und dort
hinter den
Häusern ist es abgestürzt. Ich nahm seine Aussage als Grundlage
und fand
heraus, daß er von drei Ereignissen sprach, die zu
unterschiedlichen Zeiten
binnen zweier Jahre stattgefunden hatten.
Augenzeugenberichte sind tolle Grundlagen, aber sie müssen
analysiert werden.
Sonst kann das furchtbar in die Hose gehen.
Mit freundlichen Grüßen
Roland Geiger
_______________________________________________
Regionalforum-Saar mailing list
Regionalforum-Saar(a)genealogy.net
https://list.genealogy.net/mm/listinfo/regionalforum-saar
Date: 2021/08/31 08:38:56
From: Roland Geiger via Regionalforum-Saar <regionalforum-saar(a)genealogy.net>
„Allerunterthänigst unterfertigte Bitte“ –
Inhalt, Form und
Bedeutung von Bittschriften im langen 19. Jahrhundert
Veranstalter
Marion Dotter, Collegium Carolinum München; Kristýna Kaucka,
Masaryk Institut,
Prag; Ulrike Marlow, Ludwig-Maximilians-Universität München
10.06.2021 - 11.06.2021
Von Marion Dotter, Collegium Carolinum München; Ulrike Marlow,
Ludwig-Maximilians-Universität München
Bittschriften werden in der Forschung zur Beantwortung
unterschiedlicher
Fragestellungen herangezogen, wie zum Beispiel in der
Armutsforschung, um die
Lebensverhältnisse der Unterschichten nachvollziehen und
darstellen zu können.
In den letzten Jahren erschienen mehrere Dissertationen, die sich
in ihrer
Analyse auf Bittschriften als Quellen stützen.[1] Doch fehlt es noch an
einem Überblick zu
den Adressaten und Verfassern von Bittschriften, ihrer
inhaltlichen und
stilistischen Aufbereitung sowie ihrer Bedeutung für das
staatliche und
politische Handeln im 19. Jahrhundert. Für die Frühe Neuzeit liegt
solch ein
Sammelband mit dem Titel „Bittschriften und Gravamina“,
herausgegeben von
Cecelia Nubola und Andreas Würgler, vor.[2] Im Gegensatz zum
deutschsprachigen
existieren im englischsprachigen Raum Publikationen zum
Supplikationswesen im
19. Jahrhundert: Unter anderem wird nach Entwicklungen im
Bittschriftenwesen in
der longue durée gefragt und werden Petitionen von
politisch-sozialen
Bewegungen in den Blick genommen.[3] Die britische Forschung
untersuchte
beispielsweise Petitionen an das englische Parlament, also an eine
politische
Institution mit Entscheidungskompetenz.[4] In der deutschsprachigen
Forschung
existiert derzeit noch kein Überblick zur Vielfältigkeit der in
den Gesuchen
vorgebrachten individuellen, teils auch kollektiven Anliegen.
Schließlich ist
derzeit die Frage noch offen, welche Auswirkungen die zahlreich
überlieferten
Bittgesuche auf die politische Modernisierung im 19. Jahrhundert
hatten, also
inwiefern der Einzelfall Ausgangspunkt weitreichenderer
staatsrechtlicher
Reformen oder neuer Politikfelder sein konnte. Dabei stellt sich
zudem die
Frage, wie sich Bittschriften als Massenquelle systematisch
auswerten lassen.
All diesen Fragen wandte sich der Workshop zu. Nach einer kurzen
Einführung der
Organisatorinnen folgte der Plenarvortrag von SILKE MARBURG
(Dresden). Von
ihrem aktuellen Forschungsprojekt zu Gravamina im 17. und 18.
Jahrhundert, das
im Graduiertenkolleg „Geschichte der sächsischen Landtage“
angesiedelt ist,
versuchte sie Bezüge und ein theoretisches Angebot an die
Petitionsforschung
herzustellen. Die sächsischen Stände der Frühen Neuzeit konnten
die Anliegen
der sogenannten Landschaft an den Landesherrn schriftlich
herantragen und auf
diese Weise gegebenenfalls erfolgreich Politik betreiben. Die
Stände besaßen
dazu zwei Möglichkeiten: Zum einen konnten sie sich in Generalia
zu Themen der
Innen- und Außenpolitik äußern. Zum anderen konnten sie regionale
und lokale
Anliegen in einer Art Supplikensammlung, den Gravamina,
zusammenstellen und an
den Landtag übermitteln, der ein Forum für diesen
Kommunikationsprozess
darstellte. Inspiriert von den gemeinsamen Überlegungen mit Edith
Schriefl über
„Die politische Versammlung als Ökonomie der Offenheiten“[5] stellte Marburg eine
institutionentheoretische Perspektive vor, um Bittschriften im 19.
Jahrhundert
gewinnbringend analysieren zu können. Bittschriften zeugen von
einem Gefälle in
der institutionalisierten Kommunikation. Die Macht des Adressaten
ist heute
noch ablesbar, da er die Ressourcen besaß, die an ihn gerichteten
Gesuche
anzunehmen, zu bearbeiten und zu archivieren. Die Bittsteller
griffen in ihren
Argumentationen auf Werte, Pflichten und Rechte zurück, die der
Adressat in
seiner Antwort wiederum ebenfalls spiegelte. Letztlich gehören
Gravamina,
Petitionen und Bittschriften in Bezüge, in denen es um Ordnung
geht. Auch wenn
das einzelne Schriftstück dem widerspricht, kommt es zur
Geordnetheit. Denn in
den Bittschriften ging es nicht nur um das Anliegen an sich,
sondern auf
nichtdiskursiven Wege wurde das Ungeordnete ausgedrückt.Das sei
ein
vielversprechender Analyseort. In diesem Sinne bietet die Ökonomie[6] der Offenheiten einen
Perspektivwechsel
an.
Danach widmete sich das erste Panel den „Bittschriften als
Instrument im modernen
Verwaltungs- und Rechtsstaat“. DANIEL BENEDIKT STIENEN (München)
leistete mit
seinem Vortrag zu den Ankaufsgesuchen deutscher Grundbesitzer im
östlichen
Preußen einen Beitrag zur Emotionsgeschichte: Er zeigte
Bittgesuche als Quelle,
in der Gefühle wie Scham und Verständnislosigkeit ebenso wie ein
kollektives
Bekenntnis zur Nation zu Tage treten. Der einzelne Antragsteller
und seine
Vorstellung von der „deutschen Nation“ wurde über das Konzept der
„Erwartungserwartung“ mit der ablehnenden Haltung der königlichen
preußischen
Verwaltungsbeamten verschränkt. Da die Bittsteller ihr Ziel nicht
erreichen
konnten, änderten sie ihre Strategie: Ihre Gesuche wandelten sich
im
Untersuchungszeitraum von der Bitte zur Drohung.
Ebenfalls eine Veränderung in der Vorgehensweise ist anhand der
Texte des
Rabbiners Samson Wolf Rosenfeld (um 1780–1862) nachvollziehbar,
der als
Verfasser von Petitionen an das Bayerische Parlament hervortrat.
MORITZ
BAUERFEIND (Basel) untersuchte gedruckte Texte aus den Jahren
1819, 1822 und
1846. Sie werfen nicht nur die Frage nach der Reichweite von
Bittschriften,
sondern auch nach der Entstehung einer jüdischen Öffentlichkeit im
Vormärz auf.
Weiter wird zu erforschen sein, inwieweit Samson Rosenfeld allein
gehandelt hat
oder mit seinen Eingaben auf die Sorgen und Wünsche seiner
Gemeinde reagierte.
Nicht ausschließlich für sich selbst baten auch die Petenten jener
Bittschreiben, die ELISABETH BERGER (Salzburg) vorstellte: Anträge
von
Armeemitgliedern und ihrer Angehörigen um Verkürzung der
Wehrdienstzeit. Vor
allem die Eltern der Rekruten hofften, dass ihre Söhne wegen der
aufwendigen
Feldarbeit frühzeitig aus dem Heer entlassen werden konnten. Auf
der Basis
eines Quellenbestandes aus den 1890er-Jahren im Steirischen
Landesarchiv zeigte
Berger auf, wie mit Bittschriften eine Lücke im Wehrgesetz
geschlossen und
schließlich eine Novellierung dieses Gesetzes geschaffen werden
konnte. Sie
wies auch auf die symbolische Bedeutung des Kaisers hin, der als
oberster
Befehlshaber aller Streitkräfte in den Texten häufig angerufen
wird, ohne für
diese Entscheidung tatsächlich relevant zu sein. Denn die Gesuche
durchliefen
ein mehrstufiges bürokratisches Verfahren, das in ähnlicher Form
von mehreren
Vorträgen angesprochen wurde. Politische Institutionen, wie
Gemeinden oder
Ministerien, nahmen die Bittschriften entgegen und ließen die
darin enthaltenen
Angaben überprüfen. Auf dieser Basis wurde über die Gewährung der
Bitte
entschieden, worüber die Bittenden abschließend benachrichtigt
wurden.
Deutlich wichtiger für den Entscheidungsprozess war der Monarch
bei
Bittgesuchen aus dem adeligen Milieu. JAN ŽUPANIČ (Prag) zeichnete
den
Behördenweg der Nobilitierungsgesuche im Habsburgischen
Verwaltungsapparat des
späten 18. und 19. Jahrhunderts nach. In seinen Ausführungen wies
er auf die
parallele Existenz eines Gnaden- und eines Rechtssystems in Bezug
auf das
Nobilitierungswesen hin.
Einen weniger bürokratie- als vielmehr adelshistorischen Ansatz
wählte MICHAELA
ŽÁKOVÁ (Prag) in ihrem Vortrag zum Prager Damenstift. Anhand der
Bitten um die
begehrten Stiftsplätze konnte sie das Bild einer für die höfischen
und
administrativen Stellen „idealen armen Aristokratin“ des 19.
Jahrhunderts
nachzeichnen. Damit verwies sie auf mehrere Argumentationslinien,
die in
Bittschriften auch in anderen Zusammenhängen aufgerufen wurden:
Die
Bedürftigkeit, die Verdienste um Staat und Öffentlichkeit, die
Familie und
schließlich die „moralische Tauglichkeit“.
Ähnliches brachte auch Etelka (Szapáry) Gräfin Andrassy vor, als
sie sich in
den 1850er-Jahren mehrmals um die Begnadigung ihrer während der
ungarischen
Revolution verurteilten und ins Ausland geflohenen Söhne Gyula
(1823–1890) und
Aladár (1827–1903) kümmerte. SUSANNE ZENKER (Wien) verglich zwei
sehr
unterschiedliche Textbeispiele der Antragstellerin, die nicht
zuletzt
Rückschlüsse auf die vielfältigen Entstehungsbedingungen von
Bittschriften
zulassen: Während Etelka den ersten Text selbst verfasste und sich
dafür auch
entschuldigte, wurde die zweite Schrift von einem Anwalt
aufgesetzt und von
einem professionellen Schreiber ausgeführt. Schließlich bettete
Zenker diese
beiden Fälle in das umfassendere Amnestiesystem der
neoabsolutistischen Ära ein
und stellte die Möglichkeit der Einreichung von Bittschriften als
ein wichtiges
Regierungsinstrument zur Bewältigung der Revolution in Ungarn dar.
Teil der Strafjustiz waren nicht nur Amnestien, sondern auch
Adelsentsetzungen,
die CHRISTIANE BUB (Tübingen) in ihrem Vortrag zu delinquenten
Adeligen in
Preußen in den Blick nahm. Sie interpretierte Bittschriften als
wichtige Quelle
der „neuen Sozialgeschichte“, der sie sich über das Konzept der
„Un-/Doing
difference“ annäherte. Dadurch konnte sie die Unterschiede
zwischen Adel und
Bürgertum, die bei armen oder kriminellen Adeligen aufgelöst
wurden, neu
vermessen.
Der höfischen Welt wandte sich daraufhin das dritte Panel zu,
wobei erneut
Preußen und die Habsburgermonarchie im Zentrum standen. ANJA
BITTNER (Berlin)
ging zunächst auf die hofinternen Bittschriften am Berliner Hof
und damit auf
die Versorgungsmöglichkeiten ein, die durch dieses System für die
königlichen
Angestellten geschaffen wurden. Die Bittschriften zeichnen nicht
nur ein
eindrückliches Bild von den Lebensverhältnissen dieser
Antragsteller, sondern
auch von deren selbstbewusstem und forderndem Auftreten gegenüber
ihren
Vorgesetzten. Die Petenten waren von der Sozialfunktion des Hofes
überzeugt und
nutzten diese für die Verbesserung ihrer Lebensverhältnisse.
Aus dem gesamten Reich kommende Bittschriften an Kaiserin
Elisabeth von
Österreich untersuchte ULRIKE MARLOW (München). Sie konzentrierte
sich auf eine
quantitative Analyse und konnte Konjunkturen bzw.
kronlandspezifische
Unterschiede bei der Zahl der Einreichungen an die Herrschergattin
zeigen.
Damit ist auch ein genderspezifischer Ansatz verbunden, der Frauen
am Hof in
das Zentrum (symbol-)politischer Machtausübung rückte.
Das letzte Panel konzentrierte sich auf die Adressaten der
Bittschriften:
ROBERT LUFT (München) beschäftigte sich mit den Petitionen an den
österreichischen Reichstag, der als Institution seit den
1860er-Jahren
Empfänger von Bittschreiben wurde. Das Staatsgrundgesetz von 1867
hielt fest:
„Das Petitonsrecht steht Jedermann zu.“[7] Beide Kammern des
Reichsrats besaßen das
Recht, „über eingehende Petitionen Auskunft [von der Exekutive] zu
verlangen“ [8] und auf diese Weise
erhaltene Bittschriften
gewissermaßen an die Regierung weiterzuleiten. Erneut zeigt sich
an diesem
Beispiel die Entwicklung einer politischen Öffentlichkeit, die
sich nicht
zuletzt über derartige Anträge an Abgeordnete artikulierte und
dadurch die
Diskurse ihrer Zeit prägte.
Einer der Abgeordneten, die Gesuche entgegennahmen, war Tomáš
Garrigue Masaryk,
auf den JOHANNES GLEIXNER (München) einging. Allerdings wurde der
Politiker
nicht nur in seiner staatstragenden Funktion angerufen, sondern
auch als
Gelehrter, Professor oder bekanntes Mitglied des öffentlichen
Lebens, den man
als Verbündeten gewinnen wollte. Gleixner legte eine „soziale
Ordnung“ der
betrachteten Quellen vor, die von stilistisch-formalen über
inhaltliche bis zu
kontextuellen Elementen reichte, stellte mit seinen Ausführungen
aber vor allem
einen außerstaatlichen Akteur als Empfänger von Bittschriften vor.
Die Beiträge haben insbesondere den Staat als Problemlöser in den
Blick
genommen, wenn auch in Form von verschiedenen Institutionen
(Kaiser, Hof,
Militärbehörden, Parlament, etc.). Insofern bedarf es in der
künftigen
Forschung einer stärkeren Berücksichtigung von nichtstaatlichen
Akteuren als
Empfänger von Bittschriften und deren Einflussmöglichkeiten. Zudem
beschäftigten sich zahlreiche Vorträge mit der Frage nach der
Bürokratisierung
im Umgang mit Bittschriften im 19. Jahrhundert und inwieweit diese
als
Kennzeichen der Moderne gelten könne. Auch hier können
Bittschriften als
Grundlage weiterer Studien dienen. Zahlreiche Kontinuitäten und
Parallelen zur Frühen
Neuzeit, etwa im Bearbeitungsprozess der Gesuche, betten das Thema
in
epochenübergreifende Diskurse ein. Diese werden auch im Zentrum
des „Netzwerks
Bittschriften“ stehen, das im Anschluss an den Workshop gegründet
wurde. Dieser
Verbund wird die Beschäftigung mit dem Thema mit weiteren
Veranstaltungen
fortführen. Auch ein Sammelband auf Basis des Workshops soll die
Bittschriftenforschung beleben.
Konferenzübersicht:
Begrüßung, Einführung
Plenarvortrag
Silke Marburg (Technische Universität Dresden): Bittschriften im
18. und 19.
Jahrhundert. Eine Einführung
Panel: Bittschriften als Instrument im modernen Verwaltungs- und
Rechtsstaat
Daniel Benedikt Stienen (Bayerische Akademie der Wissenschaften,
München):
„…ich bitte einen loyalen und treuen Deutschen nicht schlechter
behandeln zu
wollen“. Die emotionale Konstruktion der Nation in Ankaufgesuchen
deutscher
Grundbesitzer im östlichen Preußen (1886–1914)
Kommentar: Klaas-Hinrich Ehlers (Freie Universität Berlin)
Moritz Bauerfeind (Universität Basel): „Menschen werden immer
menschlicher,
wenn man sie wie Menschen behandelt.“ Die Bittschriften des
Rabbiners Samson
Wolf Rosenfeld an das Bayrische Parlament
Kommentar: Martina Niedhammer (Collegium Carolinum München)
Elisabeth Berger (Universität Salzburg): „… weshalb ich mich wohl
bei meinem
jüngsten Sohn einer kleinen Berücksichtigung für würdig erachte.“
Bitten um
dauerhafte Beurlaubung Wehrpflichtiger in Österreich-Ungarn um
1900
Kommentar: Thomas Süsler-Rohringer (Ludwig-Maximilians-Universität
München)
Panel: Bittschriften aus dem adeligen Milieu
Jan Županič (Karls-Universität Prag): Nobilitierungen in der
Habsburgermonarchie im 19. Jahrhundert
Michaela Žáková (Tschechische Akademie der Wissenschaften, Prag):
Das Bild der
„armen“ Aristokratin in den Bittschriften der Kandidatinnen des
Theresianischen
Damenstiftes in Prag
Kommentar: Marion Dotter (Collegium Carolinum München)
Susanne Zenker (Universität Wien): Bittschriften als Teil des
Begnadigungsprozesses von Gyula Graf Andrássy
Christiane Bub (Eberhard Karls Universität Tübingen):
Bittschriften
delinquenter Adliger in der preußischen Strafjustiz der ersten
Hälfte des 19.
Jahrhunderts
Kommentar: Martin Klement (Tschechische Akademie der
Wissenschaften, Prag)
Panel: Bittschriften im höfischen Kontext
Anja Bittner (Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften,
Berlin):
Bittschriften am preußischen Hof im 19. Jahrhundert
Ulrike Marlow (Ludwig-Maximilians-Universität München): „Eure
Kaiserliche,
Königliche, Apostolische Majestät“ – Bittschriften an Kaiserin
Elisabeth von
Österreich (1854–1898)
Kommentar: Mark Hengerer (Ludwig-Maximilians-Universität München)
Panel: Bittschriften an staatliche und außerstaatliche Akteure
Robert Luft (Collegium Carolinum München): Akteure, Adressaten und
Akten.
Petitionen an den österreichischen Reichsrat in der späten
Habsburgermonarchie
Johannes Gleixner (Collegium Carolinum München): Der
Intellektuelle als
öffentliche Fürsorgeinstitution: Bittschriften an T. G. Masaryk
vor 1914
Kommentar: Jana Osterkamp (Ludwig-Maximilians-Universität München
/ Collegium
Carolinum München)
Abschlussdiskussion
Anmerkungen:
[1] Als Beispiel seien hier
genannt die Arbeiten
von Johanna Singer, Arme adlige Frauen im Kaiserreich, Tübingen
2016, und von
Chelion Begass, Armer Adel in Preußen 1770–1830, Berlin 2020,
beide im Kontext
des Tübinger SFB „Bedrohte Ordnungen“ entstanden, und das Projekt
von Michaela
Žáková zum Theresianischen Damenstift in Prag.
[2] Cecilia Nubola / Andreas
Würgler (Hrsg.)
Bittschriften und Gravamina. Politik, Verwaltung und Justiz in
Europa (14.–18.
Jahrhundert), Berlin 2005.
[3] Henry Miller, Introduction.
The
Transformation of Petitioning in the Long Nineteenth Century
(1780–1914), in:
Social Science History 43 (2019), S. 409–429, online: https://www.cambridge.org/core/journals/social-science-history/article/introduction-the-transformation-of-petitioning-in-the-long-nineteenth-century-17801914/EBC1924B1C51EB5BE8C7760F43A73149
[9.6.2021]
[4] Richard Huzzey / Henry
Miller, Petitions,
Parliament and Political Culture: Petitioning the House of
Commons, 1780–1918,
in: Past & Present 248 (2020), S. 123–164, online: https://academic.oup.com/past/article/248/1/123/5819582
[9.6.2021]
[5] Silke Marburg / Edith
Schriefl (Hrsg.), Die
politische Versammlung als Ökonomie der Offenheiten. Kommentierte
Quellen zur
Geschichte der sächsischen Landtage vom Mittelalter bis in die
Gegenwart,
Ostfildern 2021, hier bes. S. 9–26.
[6] Silke Marburg und Edith
Schriefl verwenden
den Ökonomie-Begriff „in einem an den Wirtschaftswissenschaften
orientierten
unspezifischen Sinn und [dieser] impliziert schlicht die
Gesamtheit eines in
Form eines Haushalts miteinander zusammenhängenden Handelns“,
Silke Marburg /
Edith Schriefl: Die politische Versammlung als Ökonomie der
Offenheiten, in:
dies. (Hrsg.): Die politische Versammlung als Ökonomie der
Offenheiten.
Kommentierte Quellen zur Geschichte der sächsischen Landtage vom
Mittelalter
bis in die Gegenwart, Ostfildern 2021, S. 9–26, hier S. 17 f.
[7] Staatsgrundgesetz vom 21.
December 1867,
über die allgemeinen Rechte der Staatsbürger für die im
Reichsrathe vertretenen
Königreiche und Länder, Artikel 11, RGBL. 142/1867,
Onlineressource: https://alex.onb.ac.at/cgi-content/alex?aid=rgb&datum=1867&page=422&size=45&size=45
[12.07.2021]
[8] Gesetz vom 21. December 1867,
wodurch das
Grundgesetz über die Reichsvertretung vom 26. Februar 1861
abgeändert wird, §
22, RGBL. 141/1867, Onlineressource: https://alex.onb.ac.at/cgi-content/alex?aid=rgb&datum=1867&page=422&size=45&size=45
[12.07.2021]
Zitation
Tagungsbericht: „Allerunterthänigst unterfertigte Bitte“ – Inhalt,
Form und
Bedeutung von Bittschriften im langen 19. Jahrhundert, 10.06.2021
– 11.06.2021
digital (München), in: H-Soz-Kult, 25.08.2021, <www.hsozkult.de/conferencereport/id/tagungsberichte-9033>.
|
Date: 2021/08/31 23:29:16
From: Roland Geiger via Regionalforum-Saar <regionalforum-saar(a)genealogy.net>
Schau
auf
mich und tue es! Materielle, visuelle und praktische Dimensionen
des Rezept-Büchleins
Veranstalter PD Dr. Stefan
Laube,
HU-Berlin, Institut für Kulturwissenschaft
Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel (Herzog August Bibliothek
Wolfenbüttel)
Ausrichter Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel
Veranstaltungsort Herzog August Bibliothek (Augusteerhalle)
Gefördert durch Deutsche Forschungsgemeinshaft (DFG)
38304 Wolfenbüttel
Vom - Bis 27.09.2021 -
29.09.2021
Von Stefan Laube
Schau auf mich und tue es! Materielle, visuelle und praktische
Dimensionen des
Rezept-Büchleins
Wie stelle ich Seife her? Wie färbe ich Textilien? Welche
Ingredienzien
benötige ich für ein wirkungsvolles Medikament? Wie findet man
Bodenschätze und
fördert sie zu Tage? Praktische Informationen dieser Qualität sind
bereits im
frühen Buchdruck fixiert worden. Ratgeberliteratur versetzte
interessierte
Laien in die Lage, sich weitgehend unabhängig von institutionellen
Konstellationen und mündlichen Lehrsituationen Informationen aus
allen
möglichen Bereichen des Wissens zu beschaffen.
Die seit Ende des 15. Jahrhunderts belegte Existenz von gedruckten
Gebrauchsanweisungen bzw. Ratgeberabhandlungen zeigt, dass dem
Umgang mit
Substanzen und Geräten ein neues Medium zu Hilfe kam, das dazu
befähigen
sollte, einen technischen Ablauf nachzuvollziehen und diesen in
eigene
Handlungen zu überführen. Die Frage ist aufgeworfen, ob diese
Quellengattung in
Ausstattung und Gestaltung durch bestimmte Muster geprägt ist.
Vier Sektionen
setzen folgende Akzente: (a) Der Gebrauch von Büchern und seine
Spuren; (b)
Handschrift – Druck – Digitalisat, (c) Visuelle Übersetzung und
Intermedialität
(d) Praxeologische Konsequenzen.
Die Tagung ist eine Präsenzveranstaltung, eine virtuelle Teilnahme
ist möglich.
Den Tagungslink erhalten Sie auf Anfrage.
Programm
Montag, 27. September 2021
14:00-14:30 Begrüßung
Stefan Laube (Berlin
Wolfenbüttel)
Zur Einführung: Kann es ratlose Ratgeber geben (am Beispiel von
Pesttraktaten)?
14:30-17:15 Sektion I: Bücher im Gebrauch und ihre Spuren
14:30-15:15 Petra Feuerstein-Herz (Wolfenbüttel)
„Nimm, Thu, Stell“ – Benutzungsspuren in gedruckter
Ratgeberliteratur. Eine
Fallstudie zu den Beständen der Herzog August Bibliothek
15:15-16:00 Julie Gardham (Glasgow)
`Magi´ of the North: The wonderful book collecting world of John
Ferguson and
the Liber Physiognomy of Michael Scot.
16:00-16:30 Kaffeepause
16:30-17:15 Robert Maclean (Glasgow)
Who owned the Margarita Philosophica and how was it used?
Dienstag, 28. September 2021
09:30-12:15 Sektion II: Handschrift – Druck – Digitalisat
09:30-10:15 Tillmann Taape (New York)
Texts of Action: Material and Digital Approaches to an Early
Modern “How-To”
Text at the Making and Knowing Project
10.15-11:00 Sven Limbeck (Wolfenbüttel)
Text – Medium – Aufschreibesystem. (Alchemische) Rezepte in
Büchern
11:00-11:30 Kaffeepause
11:00-11:45 Véronique Adam (Grenoble)
Alchemical Diagrams in Recipe Books: From Mining Exploration to
Cooking
11:45-12:45 Bibliotheksführung
Library tour
12:45-14:30 Mittagspause
Lunch break
14:30-17:45 Sektion III: Visuelle Übersetzung und Intermedialität
14:30-15:15 Laurence Grove (Glasgow)
How to Fly?
15:15-16:00 Alfred Messerli (Zürich)
Erzählen und zeigen: Georg Agricola als Fachprosaautor in De re
metallica libri
XII
16:00-16:30 Kaffeepause
Coffee break
16:30-17:15 Anke Timmermann (Lincolnshire)
The Crowning of Nature in the Ferguson Collection: Recipe
Literature
Reconsidered
17:15-18:00 Hole Rößler (Wolfenbüttel)
Die Anleitung als Monument. Zur biographisch-memorialen Funktion
der
technischen Schriften Joseph Furttenbachs (1591–1667)
Mittwoch, 29. September 2021
09:30-12:15 Sektion IV: Zwischen Vorschrift und Improvisation
09:30-10:15 Laura Balbiani (Aosta)
So wird´s gemacht! Oder nicht? Frühneuzeitliche Rezepte auf
Bewährungsprobe
10:15-11:00 Simone Pia Zweifel (St. Gallen)
Rezeptbuch-Praktiken und die Frage der Gattung
11:00-11:30 Kaffeepause
11:30-12:15 Britta-Juliane Kruse (Wolfenbüttel)
Die Hausapotheke der Herzogin: Bezüge zwischen Personen, Rezepten
und Objekten
am Witwensitz Sophias von Braunschweig-Lüneburg (1574)
12:15-12:45 Schlussdiskussion
Kontakt
PD Dr. Stefan Laube
Zitation
Schau auf mich und tue es! Materielle, visuelle und praktische
Dimensionen des
Rezept-Büchleins. In: H-Soz-Kult, 31.08.2021, <www.hsozkult.de/event/id/event-112514>.
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Date: 2021/08/31 23:30:57
From: Roland Geiger via Regionalforum-Saar <regionalforum-saar(a)genealogy.net>
Kinderlosigkeit. Ersehnte, verweigerte und bereute
Elternschaft im Mittelalter
Autor Toepfer, Regina
Erschienen Berlin 2020: J.B.
Metzler Verlag
Anzahl Seiten 510 S.
Preis € 29,99
ISBN 978-3-476-05674-0
Inhalt meinclio.clio-online.de/uploads/media/book/toc_book-59726.pdf
Rezensiert für H-Soz-Kult von Clara Harder, Historisches Institut,
Universität zu Köln
Die hier zu besprechende Monographie von Regina Toepfer über
Kinderlosigkeit im Mittelalter lässt Bekanntes weit hinter sich
und bricht in neue Gefilde auf. Unterstützt von der
Volkswagenstiftung hat die Inhaberin des Lehrstuhls für deutsche
Philologie (Ältere Abteilung) an der Universität Würzburg mit
ihrem neuesten Buch ein Opus magnum vorgelegt, mit dem ihr das
Kunststück gelingt, auf unterhaltsame Art und Weise ein bisher
kaum bearbeitetes Themengebiet zu erschließen. Den Dienst, den
Toepfer damit der Mediävistik erwiesen hat, gilt es darum zunächst
umstandslos anzuerkennen.
Bereits der Untertitel zeigt auf, dass das Phänomen der
Kinderlosigkeit überaus facettenreich ist. Toepfer spricht von
ersehnter, verweigerter und bereuter Elternschaft im Mittelalter
und steckt damit bereits den Rahmen ab, in dem sich ihre Studie
bewegt. Sie sucht bewusst und zielgerichtet den Anschluss an
gegenwärtige Debatten über die Rollenerwartungen von Eltern bzw.
Müttern („Regretting Motherhood“) oder ethisch-moralische Fragen
der Reproduktionsmedizin und lässt sich von diesen souverän
inspirieren, ohne in unpassende, anachronistische Vergleiche zu
verfallen. Zu Beginn erläutert Toepfer ihr Konzept, das wenig
überraschend stark kulturhistorisch angelegt ist. Als Germanistin
interessiere sie sich für Narrative, nicht dafür, „wie die
Situation von kinderlosen Paaren ‚wirklich gewesen‘“ sei (S. 7).
Kinderlosigkeit begreift sie als „kulturelles Konstrukt“ (S. 14).
Die Bezeichnung einer Person als „kinderlos“ sei fast immer
abwertend gemeint (S. 13). Kinderlosigkeit sei aber kein
statischer Zustand, könne eine Vielzahl an Ursachen haben und, das
ist immer wieder Thema, auch gewollt sein. Deswegen führt Toepfer
für ihre Studien den Zentralbegriff der „Un∗fruchtbarkeit“
ein. Fruchtbarkeit und Unfruchtbarkeit stünden in einem diskursiv
untrennbaren Verhältnis zueinander. Toepfer bietet im Folgenden
einen analytisch-systematischen Zugang zu den mittelalterlichen Un∗fruchtbarkeits-Narrativen.
Eindrucksvoll widerlegt sie dabei ihre eigene Ausgangsthese über
die negative Konnotation von Kinderlosigkeit. Denn sie zeigt mit
ihren zahlreichen Quellenbeispielen umfassend, wie vielfältig und
ambivalent mittelalterliche Autoren (ausbleibende) Elternschaft
diskutieren konnten. Eine grundsätzliche Abwertung von kinderlosen
Personen scheint sich, so eine zentrale These des Buches, vor
allem in Folge der Reformation durchzusetzen und damit ein
frühneuzeitliches Phänomen zu sein.
Die Arbeit zerfällt in einen allgemeineren und einen
literaturhistorischen Teil, ohne dass beide explizit voneinander
getrennt werden. In den ersten fünf Kapiteln werden theologische,
medizinische, rechtliche, dämonische und ethische Diskurse über
Kinderlosigkeit aufgegriffen. Das heterogene Quellenmaterial, das
Toepfer hierfür direkt und indirekt heranzieht, erlaubt es ihr,
die Vielgestaltigkeit der Narrative exemplarisch vorzuführen. Über
Auswahl und Schwerpunktsetzung ließe sich trefflich streiten, auch
wenn man Toepfer kaum Einseitigkeit vorwerfen kann. Es rief
allerdings ein gewisses Befremden bei der Rezensentin hervor, dass
ausgerechnet eine Germanistin sich in diesen Kapiteln so selten zu
den Autoren und Rezipienten ihrer Quellen sowie zu deren
Verbreitung äußert. Einzelne Befunde gilt es deswegen (auch) im
Hinblick auf den historischen Kontext der Materialien zu
hinterfragen. Die zeitliche Verteilung des Materials über das
Mittelalter hinweg ist keineswegs gleichmäßig. Toepfer greift auf
einige unentbehrliche antike Zeugnisse (v.a. Bibel, Kirchenväter)
zurück und macht auch einen kleinen Ausflug ins Hochmittelalter.
Die überwiegende Mehrzahl ihrer Quellen entstammt aber dem 14. bis
16. Jahrhundert, und hier liegt auch der zeitliche Schwerpunkt bei
den literarischen Quellen, die im zweiten Teil der Darstellung
ausgewertet werden. Die Vielfalt der Materialien geht dabei immer
wieder auf Kosten der inhaltlichen Details: Wenn Toepfer die
alttestamentarische Leidensgeschichte von Jakobs Frau Rahel
darlegt, unterschlägt sie unnötiger Weise (denn es hätte ihrer
Argumentation nicht geschadet), dass Gott Rahels Schwester Lea
ausdrücklich Kinder als Trost schenkt, da ihr Mann Jakob sie nicht
liebt und die jüngere und schönere Rahel bevorzugt. Ihre Söhne
bleiben für Lea aber ein unzureichender Ausgleich für die
fortgesetzte Zurückweisung durch ihren Mann. Die Geschichte
illustriert zweifellos Rahels Leid ob ihrer Kinderlosigkeit, sie
zeigt aber gleichzeitig, dass Leas Fruchtbarkeit eben nicht dazu
führt, dass diese glücklich wird. Toepfers Lehre aus der Episode
(„Wer Söhne gebärt, ist von Gott gesegnet“, S. 27) erscheint vor
diesem Hintergrund unnötig verkürzt. Ähnliche Beispiele ließen
sich für jedes Kapitel in diesem ersten Teil (bis S. 183) anfügen,
in dem die Autorin argumentativ zwar nicht immer überzeugt, aber
zahlreiche anregende Impulse bietet.
Im zweiten Teil des Werkes kommt die Germanistin zu der ihr
eigenen Expertise, wenn sie Diskurse der erzählenden Literatur
aufgreift. Ihre Typologie von sieben Narrativen der
Kinderlosigkeit ist wunderbar systematisch und argumentativ
absolut überzeugend. Sie präsentiert ein wiederum erhebliches
Korpus an literarischen (lateinischen und volkssprachlichen)
Texten. Zunächst widmet sich die Autorin dem zeitweilig oder
dauerhaft unerfüllten Kinderwunsch: Das Kapitel „Göttliche Hilfe“
deutet Erzählungen um göttliche Erlösung und Heilszusagen frommer
Protagonisten, die in Form des ersehnten Nachwuchses daherkommt.
Weniger glücklich enden hingegen Versuche von Kinderlosen, Hilfe
durch „gefährliche Dritte“ zu erhalten. Diese werden von
mittelalterlichen Erzählern als „Eindringlinge“ dargestellt, deren
Unterwanderung der Kernfamilie Abstammungsfragen meist ebenso
verkomplizieren wie die im nächsten Kapitel besprochene „soziale
Alternative“ zur Erfüllung des Kinderwunsches, ein fremdes Kind
anzunehmen. Absolut herausragend ist das Kapitel über die
„mystische Mutterschaft“, in dem die Bedeutung von
Jesuskindfiguren für in Orden oder religiösen Gemeinschaften
lebenden Frauen dargelegt wird. Toepfer leuchtet hier
„Mutterschaft als genuin weibliche Frömmigkeitsform“ (S. 294) in
einem völlig neuen Sinne aus. Das Kapitel zeichnet sich auch
dadurch aus, dass es vermehrt weibliche Perspektiven in den
Vordergrund rückt. Denn in den vorangegangenen wie in den
nachfolgenden Kapiteln sind die Autoren der Quellen sowie ihr
Gegenstand fast immer Männer. Auch stehen deren Sichtweisen im
Vordergrund in den letzten drei Kapiteln, die sich mit bereuter
und verweigerter Elternschaft auseinandersetzen – wodurch ein
zentraler Unterschied zu gegenwärtigen Debatten mehr als
offensichtlich wird. Toepfer rundet ihre Studien mit einem
ausführlichen Epilog ab, bevor Anmerkungsapparat,
Literaturverzeichnis und ein Namensregister folgen.
Zentral für Toepfers Analyse ist eine normativitätskritische
Perspektive. Die Leidenschaft für ihren Gegenstand ist der Autorin
dabei stets anzumerken. Diese führt an der ein oder anderen Stelle
dazu, dass sie ihre überwiegend wertneutrale Position verlässt. So
werden in ihrer Darstellung Frauen, die medizinische Hilfe bei der
Fortpflanzung in Anspruch nehmen, überwiegend als hilflose Opfer
der Reproduktionsmedizin stilisiert, die allerlei Dinge über sich
ergehen lassen müssen. Die spätantiken Kirchenväter verbreiten ein
eher freundlich daherkommendes Keuschheitsideal, Luthers Lob der
Ehe ist für Toepfer hingegen ein Abweichler unterjochendes
Reproduktionsdiktat. Das wirkt aufgrund häufiger Wiederholungen
zum Teil etwas anstrengend.
Toepfer hat die Arbeit in dem Willen verfasst, ein Buch für
Fachpublikum und breitere Öffentlichkeit gleichermaßen zu
schreiben (S. 473). Diesem Ansinnen trägt nicht nur der erfreulich
niedrige Preis des Werkes Rechnung, sondern auch die überaus
angenehm zu lesende Wissenschaftsprosa. Die Kapitel sind zwar
teilweise aufeinander bezogen, aber auch unabhängig voneinander
verständlich, so dass ein episodisches Lesen möglich ist. Auch die
Diskussion der 14 Bildquellen bereichern die Darstellung.
Gleichzeitig sind ein paar Einschränkungen nötig. So muss der
interessierte Laie (und/oder Student) erhebliches Vorwissen zur
Geschichte im Allgemeinen und zur mittelalterlichen Epoche im
Speziellen mitbringen, um den inhaltlichen Anschluss nicht zu
verlieren. Das (geschichts-) wissenschaftliche Fachpublikum dürfte
hingegen einiges auszusetzen haben an den oftmals sehr knapp
ausfallenden Belegen, den seltenen Erläuterungen zum jeweiligen
historischen Kontext und an der fehlenden Rückbindung an die
aktuellere historische Forschung vor allem im ersten Teil der
Arbeit. Angesichts der erstaunlichen Vielfalt der vorgestellten
Materialien und Perspektiven ist dies aber wahrscheinlich zu
verschmerzen.
Auch wenn die Nutzung des Zentralbegriffs "Un∗fruchtbarkeit"
mitsamt seines „Fertilitätssternchens“ nicht alle Leser überzeugen
dürfte, so sind die versammelten Studien mit ihrem reichhaltigen
Fundus an Quellen und Analysen mit Gewinn zu lesen. Toepfers Buch
eröffnet zahlreiche Anknüpfungspunkte für Historiker, Germanisten
und andere und lädt zu Widerspruch und zum Weiterarbeiten ein. Ihr
Mut, gewohnte Pfade zu verlassen, hat sich gelohnt. Mögen andere
dies zum Anlass nehmen, es ihr gleich zu tun!
Zitation
Clara Harder: Rezension zu: Toepfer, Regina: Kinderlosigkeit.
Ersehnte, verweigerte und bereute Elternschaft im Mittelalter.
Berlin 2020. ISBN 978-3-476-05674-0, In: H-Soz-Kult,
01.09.2021, <www.hsozkult.de/publicationreview/id/reb-94453>.
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