Monatsdigest

[Regionalforum-Saar] Mühlen, Kraftwerke, Wasse rbauten. Die Regulierung von Flüssen und Gewässern in der Rechtsgeschichte

Date: 2021/08/12 17:24:09
From: Roland Geiger via Regionalforum-Saar <regionalforum-saar(a)genealogy.net>

Mühlen, Kraftwerke, Wasserbauten. Die Regulierung von Flüssen und Gewässern in der Rechtsgeschichte

Veranstalter  Heimatpflege des Bezirks Schwaben; Lehrstuhl für Bürgerliches Recht und Zivilverfahrensrecht, Römisches Recht und Europäische Rechtsgeschichte, Universität Augsburg; Schwabenakademie Irsee

08.06.2021 - 09.06.2021

Von Corinna Malek, Heimatpflege, Bezirk Schwaben

Wasser als Quelle des Lebens ist eine der wichtigsten Ressourcen auf der Erde. Seine Verfügbarkeit und Verknappung stellt die Politik und Gesellschaft nicht nur in Zeiten des Klimawandels vor große Herausforderungen. Nahezu zeitlos erscheinen hier diverse Nutzungs- und Rechtsansprüche sowie Streitigkeiten am und um das Wasser, denen sich die vierte rechtsgeschichtliche Tagung der Heimatpflege des Bezirks Schwaben und des Lehrstuhls für Bürgerliches Recht und Zivilverfahrensrecht, Römisches Recht und Europäische Rechtsgeschichte widmete. Konzipiert wurde die Tagung vom ehemaligen schwäbischen Bezirksheimatpfleger PETER FASSL (Augsburg) und hätte ursprünglich im Frühjahr 2020 stattfinden sollen.

Nach den Begrüßungen von MARKWART HERZOG (Irsee) und dem neuen Bezirksheimatpfleger CHRISTOPH LANG (Augsburg) gab Peter Fassl den Teilnehmenden in seiner thematischen Einführung einen kurzen Überblick über die Beziehung Bayerns und Bayerisch-Schwabens zu seinen Flüssen und Gewässern und allgemein zum Wasser. In der Geschichte Bayerns, das über ein 6.000 km langes, verzweigtes Fluss- und Gewässernetz verfügt, spielte Wasser immer eine wichtige Rolle: Von den Stadtgründungen im Mittelalter, bis hin zur Industrialisierung, der Entwicklung des Gesundheitswesens und der modernen Infrastruktur von Städten und Gemeinden hatte Wasser stets eine Schlüsselfunktion, weshalb das Thema auch überregional von Interesse ist.

Anknüpfend an seine Einführung zeigte Fassl verschiedene Aspekte der Wassergeschichte Schwabens auf. Diese, so Fassl, sei bis dato noch nicht zusammenhängend erarbeitet worden und werde von vier großen Themenbereichen dominiert: die Nutzung der Wasserkraft, die Kontrolle der Urgewalt Wasser durch den Wasserbau, die Fischerei und die Flößerei. Zudem bildeten Wasserläufe natürliche Grenzen nach innen und nach außen. Zur Geschichte von Mensch und Wasser im fluss- und gewässerreichen Bayerisch-Schwaben gehören aber auch wiederkehrende Katastrophen, wie Hochwasser, die die Beziehung des Menschen zu seiner Umwelt über Jahrhunderte bis in die Gegenwart prägen. Rechtsgeschichtlich reizvoll ist eine Auseinandersetzung mit dem Thema insbesondere aufgrund der territorialen Zersplitterung Schwabens bis zum Beginn des 19. Jahrhunderts. Sie führte zu einer Vielzahl von rechtlichen Konflikten aufgrund kleinteiliger Wasserrechtsansprüche einzelner Rechteinhaber. Doch auch nach der Vereinheitlichung der Rechtsstruktur unter der Krone Bayerns blieben Konflikte rund um das Wasser keine Seltenheit. Vielmehr kamen neue Themen, wie die Verbauung von Flüssen oder die Landgewinnung durch Entwässerung, hinzu. Abschließend blickte Fassl auf die Gegenwart und neue Herausforderungen, beispielsweise durch den ökologisch verträglichen Wasserbau.

Die Vorträge von WOLFGANG WÜST (Erlangen), CHRISTOPH BACHMANN (München) und WALTER BAUERNFEIND (Nürnberg) erweiterten die Perspektive über den schwäbischen Bereich hinaus und boten Vergleichsmöglichkeiten mit den wasserrechtlichen Situationen in Altbayern, Franken und dem süddeutschen Raum.

Wüst legte anhand einer breit gefächerten und detailreichen Analyse verschiedener frühneuzeitlicher Rechtsordnungen zum Mühlen- und Müllerrecht die rechtliche Disziplinierung und Kontrolle in verschiedenen Herrschaftsbereichen dar. Anhand der gewählten Quellen wurde auch die breite und dichte Überlieferungslage deutlich. Wüst zeigte auf, dass dem Müller ein schlechter Ruf als unehrlicher Zeitgenosse aufgrund seiner Geschäftspraktiken anhaftete.

Christoph Bachmann widmete sich in einem ersten Teil seiner Ausführungen der Mühlentechnik und ihrer Entwicklung seit dem Spätmittelalter. Er zeigte auf, welche Unterschiede zwischen den verschiedenen Mahlwerken und Mühlsteinen bestanden und welchen Einfluss diese auf den Mahlprozess haben konnten. Im zweiten Teil setzte sich Bachmann mit dem altbayerischen Mühlenrecht am Beispiel verschiedener Mühlenordnungen und -satzungen auseinander. Deren Vorschriften, insbesondere zur Mühlenbeschau, führten oftmals zu Streitigkeiten und Gerichtsprozessen, in denen die vermeintliche Unehrlichkeit des Müllers ein Zankapfel war. Auch wenn die Rechtsquellen die Norm festsetzten, gab es in der gelebten Wirklichkeit Unterschiede.

Wie Mühlen zu einem wichtigen Faktor der Stadtentwicklung werden konnten, zeigte Walter Bauernfeind anhand der Stadt Nürnberg. Die Reichsstadt Nürnberg besaß seit dem 12. Jahrhundert innerhalb ihres Stadtgebiets drei zentrale Mühlen an der Pegnitz, die eine wichtige Rolle für die wirtschaftliche Entwicklung Nürnbergs in der Protoindustrialisierung spielten. Außerhalb der Kernstadt, innerhalb der „alten Landschaft“, besaß die Reichsstadt weitere Mühlen, wobei vor allem die Dutzendteichmühle von großer Bedeutung war. Auch bildete die Investition in Mühlen für Nürnberger Familien lukrative Möglichkeiten, die diese in ganz Europa wahrnahmen und sich im Umkehrschluss positiv auf die Reichsstadt und ihre langfristige wirtschaftliche Entwicklung auswirkten.

Das Stereotyp des „unehrlichen Müller“ wurde in der anschließenden Diskussion kritisch hinterfragt. Im Zentrum stand dabei die begriffliche Kontroverse um die Deutung der „Unehrlichkeit“ und ob sich diese vom sozialen Stand des Müllers oder seinem Geschäftsgebaren ableitete. Eine Klärung hierzu steht in der Forschung bisher aus.

Die Flößerei und mit ihr verbundene Flussnutzungsrechte beleuchteten die Beiträge von CHRISTOF PAULUS (München) und KARL FILSER (Augsburg). Beide Referenten stellten den Lech als natürliche Grenze zwischen dem schwäbischen und altbayerischen Herrschaftsbereich ins Zentrum ihrer Untersuchungen.

Christof Paulus widmete sich dabei dem Phänomen des „Flusses in Ketten“, bei dem der Fluss und einzelne Häfen mittels Ketten abgesperrt und somit die Zugänglichkeit und Passierbarkeit einzelner Flussabschnitte unterbunden wurde. Dies führte zu Rechtsstreitigkeiten. Als Beispiel präsentierte Paulus die Absperrung des Lechs durch die Reichsstadt Augsburg, die damit den altbayerischen Holzhandel verhinderte. Die Reichsstadt lotete auf diese Weise außenpolitische Spielräume im politischen Gerangel um Macht und Einfluss aus. Generell stand der Lech als zentrale Nord-Süd-Wirtschaftsachse oftmals im Zentrum von Streitigkeiten zwischen Schwaben und Altbayern.

Dies zeigte auch der von Karl Filser präsentierte Streitfall aus der Mitte des 18. Jahrhunderts, an dem wiederum die Reichsstadt Augsburg und das Kurfürstentum Bayern beteiligt waren. Im Zentrum der Streitigkeiten standen die Flößereirechte auf dem Lech, in die Kurfürst Maximilian III. Joseph mit dem Erlass einer neuen Holzordnung massiv eingriff. Der detailliert vorgetragene Streitfall zeigte deutlich, wie schnell Fluss- und Floßrechte zu massiven Rechtsstreitigkeiten zweier Herrschaftsträger führen konnten. Trotz diplomatischer Bemühungen wurden Verträge nicht immer von den Vertragsparteien geachtet, weshalb sich die Beilegung zäh und langwierig hinzog.

Eine erweiterte Perspektive aus dem bayerischen Umfeld hinaus brachte der Vergleich zwischen Granada und Preußen während des Spätmittelalters und der Frühen Neuzeit von IGNACIO CZEGUHN (Berlin) und YOLANDA QUESADA MORILLAS (Berlin). Ob diese beiden auf den ersten Blick sehr unterschiedlichen Herrschaftsbereiche überhaupt vergleichbar seien, stellte Czeguhn an den Beginn seiner Ausführungen. Als Vergleichsobjekte nutzte der Referent die Wassergesetzgebung und die damit verbundene Verwaltungsstruktur beider Länder. Nach einer kurzen Darstellung der jeweiligen Verhältnisse und Entwicklungen in Granada und Preußen stellte der Referent beide Beispiele anhand ihrer geographischen Vorgaben und der beteiligten administrativen Institutionen gegenüber. Es zeigte sich, dass der Vergleich zwar eine sehr gewagte Methode war, welche dennoch gute Einblicke in die unterschiedliche wasserrechtliche Situation beider Länder bot.

Einen weiteren Blick von außen brachte THEODOR BÜHLER (Winterthur) in die Tagung ein. Anhand des Klosterbezirks des Baseler St. Alban Klosters skizzierte der Referent die Veränderung der Landschaft entlang des Flusses Birs durch bauliche Eingriffe des Klosters. Er zeichnete die Entwicklung der Mühlen am Fluss nach, die eine hohe wirtschaftliche Bedeutung für den Klosterbezirk besaßen und maßgeblich zur Industrialisierung des gesamten Raums beitrugen. Rechtliche Rahmenbedingungen, die bis 1789 durch das klösterliche Obereigentum geregelt waren, gewährleisteten eine florierende Entwicklung. Nach der Aufhebung des Obereigentums des Klosters 1789 kam es zu vermehrten Streitigkeiten zwischen Kanton und Stadt Basel. Erst ein wasserrechtliches Gutachten Eugen Hubers, des Vaters des Schweizer Zivilgesetzbuches, konnte diese schließlich befrieden.

Wie verzwickt und schwer lösbar lokale Wasserrechtsstreitigkeiten noch im 19. Jahrhundert sein konnten, zeigte der Vortrag von LUTZ DIETRICH HERBST (Stuttgart). Anhand des Ruggerichts, einer besonderen Laiengerichtsform im heutigen Landkreis Ravensburg, präsentierte der Referent lokale Ausprägungen der Wasserrechtssprechung. Der von Herbst geschilderte Fall befasste sich mit der Klage des Hasenweiler Müllers von 1841, der vor das Ruggericht zog. Auslöser waren Nutzungsstreitigkeiten zwischen dem Müller und den örtlichen Bauern um das Wasser aus der Rotach. 1841 fällte das Ruggericht einen Schiedsspruch, der zwischen den kontroversen Interessen beider Seiten vermitteln sollte.

Einen anderen Streitfall, dessen Wurzeln im 19. Jahrhundert lagen, schilderte BERND KANNOWSKI (Bayreuth). Kannowski hatte als Rechtsgutachter den Fall selbst zwischen 2012 und 2014 betreut und schilderte aus seiner Gutachterperspektive die Situation. Geklagt hatte ein Müller aus der Umgebung Nürnbergs gegen die Unterhaltpflicht einer 1841 angelegten Dammanlage. Der Kläger hatte die nahegelegene Mühle erworben, ohne von der Unterhaltspflicht gegenüber der Entwässerungsanlage zu wissen. Seine Klage richtete sich gegen die Deutsche Bahn AG, die Rechtsnachfolger des damaligen Bauherrn, des bayerischen Eisenbahnfiskus, ist. Sowohl die komplexe rechtliche Nachfolgestruktur der Bauherrenschaft als auch die mehrmals geänderte gesetzliche Grundlage erschwerten die Lösung des Falls. Kannowski zeigte differenziert auf, wie eine schuldrechtliche und eine sachrechtliche Lösung des Streitfalls zu Gunsten des Müllers hätte ausgehen können. Letztlich wurde die Klage mittels eines Vergleichs gelöst, der die noch bestehenden Verbindlichkeiten des Müller bestätigte.

Den Fokus zurück nach Bayerisch-Schwaben richteten die nächsten Beiträge. Den Einstieg in den schwäbischen Raum übernahm CORINNA MALEK (Augsburg), die sich mit den rechtlichen Voraussetzungen für die Moorentwässerung und den Torfstich vom 18. bis ins 20. Jahrhundert befasste. Da Schwaben und Oberbayern über große Moorvorkommen verfügten, wurde hier bereits in der Frühen Neuzeit mit Mandaten und Verordnungen versucht, die Trockenlegung ausgedehnter Moorgebiete voranzutreiben, mit jedoch mangelhaftem Erfolg. Malek konnte zeigen, dass erst der Erlass der bayerischen Wassergesetze 1852 die notwendigen rechtlichen Voraussetzungen für eine gesteigerte Aktivität der bodenkulturellen Unternehmungen schuf und mit dem Erlass des Bayerischen Ödlandgesetzes 1923 nochmals Auftrieb erhielt. Der Torfabbau wurde erst nach Ende des Ersten Weltkriegs mit dem Erlass des Gesetzes über Torfwirtschaft 1920 geregelt.

Dass die Novellierung des Bayerischen Wassergesetzes 1907 neue und erleichterte Bedingungen für den Wasserbau, insbesondere an kleineren Flüssen, schuf, stellte KATRIN HOLLY (Augsburg) anhand des Regulierungs- und Entwässerungsprojekts des unteren Zusamtales dar. Die Novellierung des Gesetzes bedeutete eine Vereinfachung für die Bildung von Genossenschaften, die sich zum Zweck von Wasserbauvorhaben zusammenschließen konnten, was unter anderem im Zusamtal geschah. Anhand der Chronologie der Ereignisse machte Holly deutlich, wie lange sich das Bauvorhaben entlang der Zusam hinzog und welche Probleme, vor allem finanzieller Art, dabei auftraten. Ebenso führten die veränderten Verhältnisse während der NS-Zeit zu einer Verzögerung des Projekts, bevor es aufgrund der Kriegswirren gänzlich zum Erliegen kam. Endgültig abgeschlossen wurden die Verbauungen erst Ende der 1970er- Jahre. Die Verbände wurden 1983 aufgelöst und an die zuständigen Gemeinden übertragen.

Schließlich rundete RALPH NEUMEIERS (Augsburg) Beitrag, der sich mit den Vorgaben der Europäischen Wasserrahmenrichtlinie und ihren Auswirkungen auf Schwaben befasste, den Blick in die Entwicklung des Wasserrechts bis in die Gegenwart ab. Neumeier skizzierte zunächst die Grundlagen der Verordnung und die von ihr verfolgten Umweltziele. Hierfür wurde der Gewässerzustand in Schwaben anhand von unterschiedlichen Bewertungsstufen untersucht. Aufbauend auf dem ermittelten Zustand erarbeitete die Regierung von Schwaben einen Bewirtschaftungsplan für die schwäbischen Gewässer, um sie in den von der Wasserrahmenrichtlinie geforderten „guten Zustand“ zu versetzen. Neumeier machte deutlich, dass der gewünschte Gewässerzustand in Schwaben vielerorts noch nicht dem „guten Zustand“ entspreche und noch eine Menge Arbeit und intensive Betreuung in den nächsten Jahrzehnten bedürfe.

Einen zeitlichen Sprung zurück in die Frühe Neuzeit unternahm FELIX GUFFLER (Augsburg) mit der Präsentation eines Reichskammergerichtsprozesses Ende des 16. Jahrhunderts. Anhand einer Lappalie entzündete sich ein handfester Rechtsstreit zwischen Marx Fugger und dem Hochstift Augsburg, der sich über 25 Jahre hinzog. Auslöser des Streits war das Fischen eines Hechts nahe der Ehekirchmühle im Altwasserbereich der Schmutter, die die Herrschaftsbereiche von Hochstift und Fuggerherrschaft trennte. Gestritten wurde um die Frage, ob der Altwasserbereich der Schmutter mitsamt den Fischbeständen rechtlich dem Hochstift oder Marx von Fugger und seinen Untertanen zustanden. Beilegt wurde der Streitfall durch einen Rechtsspruch des Reichskammergerichts erst 25 Jahre nach dem auslösenden Vorfall, wobei zu diesem Zeitpunkt bereits beide Streitparteien verstorben waren und sich die beteiligten Protagonisten nur noch dunkel an den genauen Hergang erinnern konnten.

Zum Abschluss des bayerisch-schwäbischen Blocks und in Ergänzung des Vortrags von Ralph Neumeier um eine weitere Perspektive präsentierte OLIVER BORN (Salgen) das schwierige Verhältnis zwischen Wasserkraftnutzung und Fischerei. Beide stehen seit Jahrzehnten in einem scheinbar unlösbaren Konflikt, der vor allem durch das starke Fischsterben infolge der Wasserkraftnutzung und dem damit verbundenen störenden Eingriff in die originäre Flussdynamik begründet ist. Born zeigte auf, wie Wasserkraftnutzung und die zugehörigen Kraftwerks- und Stauwerksbauten die Lebensräume verschiedener Flussfischarten nachhaltig veränderten und einschränkten. Er stellte dar, dass Fische vernetzte Schlüssellebensräume für den Arterhalt benötigten, die durch Verbauung von Flüssen und Gewässern gekappt und für viele Fischarten unerreichbar wurden. In der Folge stünden heut viele früher einheimische Fischarten auf der Roten Liste der gefährdeten Arten. Born plädierte daher für einen fischereiverträglichen Wasserbau, für den seit Jahren Gespräche mit Kraftwerksbetreibern und der bayerischen Staatsregierung liefen, bis dato jedoch ohne Ergebnis. Born zeigte außerdem gelungene Projekte auf, die die Wasserkraftnutzung mit der Fischerei und den Fischlebensräumen vereinbarer machten, beispielsweise der Bau von Fischtreppen in der Iller und im Lech oder Umgehungsbächen. Diese Maßnahmen seien oftmals die einzige Möglichkeit, die getrennten Lebensräume für Fische wieder zu verbinden und damit die bedrohten Arten zu erhalten.

Während der gesamten Tagung wurde deutlich, wie komplex sich Fragen des Rechts am Wasser bis in die Gegenwart gestalten und dass in vielen Bereichen anhand von Mikrostudien wichtige Erkenntnisgewinne erzielt werden können. Bis dato noch bestehende Forschungsdesiderate, beispielsweise in der Rechts- und Landesgeschichte, konnten klar benannt werden. Insbesondere gilt es, lokale und regionale Unterschiede und Besonderheiten zu eruieren. Auch können dadurch Vergleiche geschaffen werden, die die Umsetzung von Theorie in die Praxis genauer beleuchten.

Konferenzübersicht:

Markwart Herzog (Irsee): Begrüßung

Christoph Lang (Augsburg): Begrüßung

Christoph Becker (Augsburg)/Peter Fassl (Augsburg): Einführung

Peter Fassl (Augsburg): Anmerkungen zur Wasserrechtsgeschichte Schwabens

Wolfgang Wüst (Erlangen): „Was ist des Müllers größtes Glück? Dass die Säcke nicht reden können“ – Die Mühlen-Policey in Süddeutschland

Christoph Bachmann (München): Wieso klappert die Mühle am rauschenden Bach? Zur Rechtsgeschichte der Mühlen und der Wassernutzung in Altbayern

Walter Bauernfeind (Nürnberg): Nürnberger Mühlen. Stadtentwicklung am Fluss im Mittelalter

Christof Paulus (München): Fluss in Ketten. Streit um Wasserrechte am Lech im ausgehenden Spätmittelalter

Karl Filser (Augsburg): Flößereirechte am Lech

Ignacio Czeghun (Berlin)/Yolanda Quesada Morillas (Berlin): Das Wasserrecht im Spätmittelalter und der Frühen Neuzeit am Beispiel von Grenada/Spanien und von Preußen/Heiliges Römisches Reich

Theodor Bühler (Winterthur): Vom Klosterbezirk zum Gewerbebezirk dank Wasserverlauf, dargestellt am Kloster St. Alban in Basel

Lutz Dietrich Herbst (Stuttgart): Wasserdiebstahl an der Haslachmühle? Ein Fall für das Hasenweiler Ruggericht im Jahr 1841

Bernd Kannowski (Bayreuth): Über die Verantwortlichkeit der Deutschen Bundesbahn für die Unterhaltung einer 1851 durch den Bayerischen Eisenbahnfiskus angelegten Entwässerungsanlage

Corinna Malek (Augsburg): Die rechtlichen Rahmenbedingungen für die Entwässerung von Mooren in Bayern seit dem Ende des 18. Jahrhunderts

Katrin Holly (Augsburg): Die Regulierung kleinerer Flussläufe mit Umgebungsentwässerung in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts in Bayern durch öffentlich-rechtliche Wassergenossenschaften. Das Beispiel der „Genossenschaft zur Entwässerung des unteren Zusamtales“

Ralph Neumeier (Augsburg): Was bedeutet „guter Zustand“? Zum Stand der Umsetzung der Wasserrahmenrichtlinie

Felix Guffler (Augsburg): Wem gehört der Hecht? Ein Reichskammergerichtsprozess zu Grenz- und Rechtsstreitigkeiten zwischen Marx Fugger und dem Hochstift Augsburg an der Schmutter

Oliver Born (Salgen): Mühlen, Wehre, Wasserkraftanlagen und die Fischerei – ein unlösbarer Konflikt?

Zitation

Tagungsbericht: Mühlen, Kraftwerke, Wasserbauten. Die Regulierung von Flüssen und Gewässern in der Rechtsgeschichte, 08.06.2021 – 09.06.2021 hybrid (Irsee), in: H-Soz-Kult, 13.08.2021, <www.hsozkult.de/conferencereport/id/tagungsberichte-9018>.




[Regionalforum-Saar] Ausstellung "Gier. Was uns bewegt"

Date: 2021/08/13 19:33:15
From: Roland Geiger via Regionalforum-Saar <regionalforum-saar(a)genealogy.net>

Gier. Was uns bewegt

 

Haus der Geschichte Baden-Württemberg

27.05.2021 - 19.09.2021

https://www.hdgbw.de/ausstellungen/gierhassliebe/gier-ausstellung/



Rezensiert für H-Soz-Kult von Gudrun Kruip, Stiftung Bundespräsident-Theodor-Heuss-Haus, Stuttgart

Die Fähigkeit, zahlreiche starke Emotionen zu empfinden, zeichnet die Menschen vor allen anderen Lebewesen aus. Positive Gefühle wie Liebe oder Glück fallen ebenso darunter wie negative, etwa Hass oder Jähzorn. Der Kirche waren diese starken Gefühle schon früh suspekt, lenkten sie die Gläubigen doch von der Konzentration auf ihr Seelenheil ab und brachten sie stattdessen dazu, ihre individuellen Interessen zu verfolgen. Und so verurteilte die Kirche gleich sieben davon als „Todsünden“ (Hochmut, Geiz bzw. Habgier, Wollust, Zorn, Völlerei, Neid, Faulheit).

Mit „Gier. Was uns bewegt“ widmet das Haus der Geschichte Baden-Württemberg einer dieser „Todsünden“ nun eine ganze Ausstellung und legt dabei den Fokus auf die Ambivalenz des Begriffs. Denn die Einteilung der Gefühle in positiv oder negativ trügt: So kann Gier in der Spielart der Habgier großes Leid für andere verursachen; aber ohne Wissensgier oder Neugier wären viele Entdeckungen oder Erfindungen ausgeblieben. Die Ausstellung über Gier steht dabei nicht allein. Vielmehr zeigt das Haus der Geschichte in drei aufeinanderfolgenden Ausstellungen eine Trilogie der Gefühle und stellt den Drang nach dem „immer mehr“ in einen Kontext mit den nicht minder starken Gefühlen Hass und Liebe. Die Folgeausstellung „Hass“ soll am 17. Dezember 2021 beginnen; ein Katalog zur gesamten Ausstellungstrilogie ist für 2022 geplant. Das Haus setzt damit seinen Ansatz fort, die materiell schwer fassbaren, zugleich aber sehr menschlichen und durchaus geschichtsmächtigen Gefühle und Sinneseindrücke auf ihre historische Dimension hin zu überprüfen.[1] Für eine Ausstellung genießt dieser Ansatz noch immer Seltenheitswert[2], obwohl die Geschichte der Gefühle spätestens seit 2008 mit der Einrichtung eines eigenen Forschungsbereichs am Max-Planck-Institut für Bildungsforschung in der Geschichtswissenschaft angekommen ist.

Dass es sich bei Gier, Hass und Liebe keineswegs um eine bloße Aneinanderreihung dreier Ausstellungen, sondern tatsächlich um eine Trilogie miteinander verzahnter Emotionen handelt, verdeutlicht die Präsentation schon jetzt an mehreren Stellen. Gleich zu Beginn gibt es drei Videoinstallationen, die den Besucherinnen und Besuchern suggestiv verschiedene Seiten dieser Gefühle vorführen.[3]

Es bleibt der individuellen Betrachtung überlassen, welche der jeweiligen Gefühlsdimensionen prägender ist, und es ist anzunehmen, dass die entsprechende Bewertung ohnehin je nach Lebenssituation variiert. Damit wird schon anfangs ein Kernthema der Ausstellung deutlich: Gefühle, ihre Bewertung und der Umgang damit bei sich selbst und bei anderen hängen von zeitgeschichtlichen, aber auch individuellen Umständen ab, die Änderungen unterworfen sind. Betroffen von den Gefühlen – in diesem Fall von der Gier – sind aber alle.

Nach dem Entrée empfängt die vom büroberlin (https://www.bueroberlin.net) gestaltete Ausstellung ihre Besucherinnen und Besucher in schimmerndem Gold, bei dem sich unmittelbar die Assoziation von Reichtum, Schmuck und Jetset einstellt. Und darum geht es dann letztlich auch in den 31 kleineren Einheiten: die Jagd nach Ruhm und Anerkennung, nach Geld und Schönheit, der sich Moral und Mitgefühl im Zweifelsfall häufig unterordnen.

Besonders sinnfällig wird dies gleich in der ersten Einheit über den Chemiker Fritz Haber (1868–1934), der mit der Herstellung von Ammoniak aus Stickstoff und Wasserstoff die Düngemittelproduktion revolutionierte. Bis heute leistet dieses Verfahren einen wichtigen Beitrag zur Ernährung der Weltbevölkerung. Auf Kosten seiner Kollegen und seiner Ehefrau stellte Haber sein ganzes Wissen und Können in den Dienst dieser Entwicklung. Er brachte seinen Wissensdurst und Forscherehrgeiz jedoch auch skrupellos bei der Entwicklung von Sprengstoff und Giftgas ein, die im Ersten Weltkrieg zum Einsatz kamen. Der erst 1920 nachträglich für 1918 verliehene Nobelpreis an den „Vater des Gaskriegs“ stieß daher trotz dessen Verdienste um die Welternährung international auf Kritik.[4]

Und so geht es in der Ausstellung munter weiter mit den Niederungen menschlicher Emotionen, ohne dass diese, wie bei Haber, immer auch einen positiven Nebeneffekt haben müssten. Manchmal half der Zufall der Gier auf die Sprünge, etwa beim „Pulverkönig von Rottweil“ Max Duttenhofer, dessen Pulver vor allem dank des deutsch-französischen Krieges 1870/71 plötzlich stark nachgefragt war und seinem Hersteller immensen Reichtum, beste Kontakte und einflussreiche Ämter bescherte.

Manchmal sollte schlichtweg die eigene Existenz gerettet werden, wie bei Paul Mauser (1838–1914), der nur ein Sechstel einer Waffenfabrik besaß und dem ohne lukrative Waffenverträge die Fabrik von den tatsächlichen Eigentümern geschlossen worden wäre. Hier trat insbesondere die Türkei als Retterin auf, die zwischen 1887 und 1909 zur Großabnehmerin der Mauser’schen Gewehre wurde. Die geschäftlichen Kontakte zwischen Oberndorf und Konstantinopel führten aber auch zu Kontakten der Bevölkerung, auf die eine Vorschau zum Trilogie-Thema „Liebe“ anhand einer Narrenkappe verschmitzt hinweist.

In vielen Fällen scheint der Drang nach materiellem Gewinn jedes Gefühl für Verantwortung und soziales Miteinander zum Verschwinden zu bringen. So werden Betrug und Steuerhinterziehungen trotz ihrer oft immensen Dimensionen mitunter immer noch als Kavaliersdelikte wahrgenommen oder in der breiteren Öffentlichkeit nicht hinreichend verstanden, wie anhand der Beispiele von FlowTex und Cum-Ex gezeigt wird. Gleichzeitig simuliert eine interaktive Computeranimation, was Steuerausfälle für die Allgemeinheit bedeuten: schlechte Bildung für alle, weniger Kulturangebote, Lücken in der Gesundheitsversorgung, kaputte Straßen mit entsprechenden Staus und bei unterfinanzierter Polizei auch mangelnde Sicherheit. Spätestens hier stellt sich die Frage, ob persönliche Gier nicht zu Konsequenzen führt, die auch die Profiteure der Gier abschrecken müssten. Interessant wäre deshalb eine Ausweitung des Themas auf politische und rechtliche Folgen gewesen: Was wird unternommen, um aufgedeckte Wirtschaftsverbrechen zu ahnden und Betrugsszenarien dieser Milliarden-Ausmaße künftig zu verhindern? Und welche Strukturen fördern überhaupt das Entstehen von Gier und deren Erfolg?

Doch die Ausstellung thematisiert nicht nur fragwürdiges, teils kriminelles Gebaren von Wissenschaftlern oder Geschäftsleuten, sondern leuchtet auch tief in das heutige Alltagsleben hinein. Eine riesige Sneakersammlung wirft die Frage auf, wie weit Sammelleidenschaft führen kann und wie viel sie einem finanziell wert ist. Darüber hinaus zeigt die Sneakersammlung aber auch exemplarisch, dass heutzutage nahezu jeder Kleiderschrank deutlich überfüllt ist, nicht zuletzt weil Kleidung in Deutschland billig zu haben ist. Dass den Preis dafür andere zahlen, die diese Kleidung zu Hungerlöhnen in weit entfernten Ländern produzieren, wird dabei gern ausgeblendet. Leider hat dieses Thema kein eigenes Ausstellungssegment bekommen, obwohl es nahezu jeden persönlich betrifft und sich in der baden-württembergischen Textilindustrie gewiss auch einschlägige Beispiele gefunden hätten.

Die Konsumlust auf Kosten anderer, diesmal auf Kosten der Milchkühe, wird auch am Beispiel der „Wegwerfkuh“ gezeigt. Die Milchleistung heutiger Kühe ist zehnmal so hoch wie diejenige vor 200 Jahren, was zu miserablen Lebensbedingungen und einer deutlich verkürzten Lebenszeit der Tiere führt. Denn nicht nur Kleidung, sondern auch Lebensmittel sind für die Konsumentinnen und Konsumenten so günstig zu erwerben, dass lediglich die Ausbeutung der Tiere das Auskommen der Produzenten zu sichern scheint. Wie schwer die Schuldigen für diesen Prozess auszumachen sind, zeigt eine virtuelle Kurzführung der Ausstellungskuratorin Franziska Dunkel.[5]

An anderer Stelle steht vor allem der Drang nach Aufmerksamkeit, Rampenlicht und Schönheit im Fokus. So erfüllte sich für die Friseurin Gordana Apostoloska 2019 ein Traum, als sie sich auf Kosten des Senders Vox komplett neu einkleiden durfte und dann auch noch den ersten Preis als „Shopping Queen“ gewann. Ein gut gefüllter Kleiderschrank (oder in ihrem Fall: ein ganzer Keller voller Kleidung) ist für Apostoloska der Garant, „dazuzugehören“ – und bevor sie zu wenig habe, habe sie lieber zuviel. Brustimplantate oder das (inzwischen gelöschte) Instagram-Profil der Ex-Influencerin Katharina Weber reflektieren ebenfalls die Gier nach dem perfekten Körper und dem schönen Schein.

Auch beim Fußball dominiert die Gier, ohne die laut Jürgen Klopp oder Joachim Löw kein Sieg möglich sei. Doch schon die Vitrine daneben hält die Schattenseite bereit: Viele sportliche Höchstleistungen sind bis heute nur dank Doping zu erreichen. An diesem Beispiel zeigt sich erneut, wie vielfältig verschränkt Gier sein kann, denn von den Siegen und Rekorden profitieren Sportlerinnen und Sportler, Fans sowie die gesamte Sport- und Medienbranche.

Die komplexe Struktur der Ausstellung macht eine Orientierung nicht immer ganz leicht: Dreizehn Oberthemen werden mit jeweils bis zu fünf Aspekten veranschaulicht – so umfasst das Thema „Betrug“ etwa die Aspekte FlowTex, Cum-Ex sowie die Einführung der Kassenbonpflicht im Einzelhandel. Jeder Aspekt hat zudem nicht nur ein eigenes Schlagwort, sondern auch eine eigene Jahreszahl. Insgesamt deckt die Ausstellung eine Spanne von über zwei Jahrhunderten ab und wandert dabei mäandernd in der Zeit voran. Da jeder Aspekt aber eine eigene kleine Kabinetteinheit darstellt, erschließt sich das Ganze dennoch problemlos.

Irritierend ist allerdings der zeitliche Rücksprung, um die beiden wichtigen Themen Kolonien/Rassismus und Nationalsozialismus zu behandeln, die erst folgen, nachdem die Besucherinnen und Besucher mit Shopping Queen, Influencern und Vorratsdatenspeicherung bereits in der heutigen Zeit angekommen sind. Beide Themen werden mit mehr Einzelaspekten illustriert als fast jedes andere Thema und nehmen allein dadurch schon einen besonderen Stellenwert ein. Sowohl das Thema „Kolonien“ als auch „Raub“ (bezogen auf den Nationalsozialismus) zeigen zum Abschluss der Ausstellung, dass Gier nicht nur zu persönlicher Bereicherung führt, sondern durch eine fatale Melange mit Rassismus/Antisemitismus, Habgier und Sensationslust auch in tödliche Menschenverachtung und Massenmord münden kann.

Es ist unbedingt empfehlenswert, das umfangreiche Begleitprogramm und Zusatzmaterial auf der Website des Hauses der Geschichte ebenfalls zu beachten.[6] Neben einem virtuellen Rundgang durch die Ausstellung gibt es thematische Kurzführungen zu entdecken, Videoberichte stellen einzelne Objekte vor, und Interviews mit Prominenten und Psychologen leuchten unterschiedliche Facetten der Gier aus. Die Ausstellungsarchitektin Julia Neubauer von büroberlin erläutert die Ideen, die hinter der Gestaltung aus goldenen Bahnen stecken, und die baden-württembergische Staatssekretärin Petra Olschowski schildert ihren Zugang zum Ausstellungsthema. Ungewöhnlich ist vor allem die künstlerische Aufbereitung der Gier. Mitten in der Ausstellung steht eigens eine große Vitrine, deren Leere einen Gegenpol zur sie umgebenden Raffgier darstellt, die aber auch ein Podium für Performances abgibt, die Studierende der Staatlichen Hochschule für Musik und Darstellende Kunst Stuttgart entwickelt haben. Die Aufführungen werden nicht vorab angekündigt – die Besucherinnen und Besucher dürfen sich einfach überraschen lassen.

Anmerkungen:
[1] So unter anderem in der schon 2014 gezeigten Ausstellung „Fastnacht der Hölle – der Erste Weltkrieg und die Sinne“. Virtueller Rundgang durch die Ausstellung unter https://www.hdgbw.de/ausstellungen/ausstellungsarchiv/1-weltkrieg-und-die-sinne/ (05.08.2021). Siehe auch die Rezension von Thomas Thiemeyer, in: H-Soz-Kult, 24.05.2014, https://www.hsozkult.de/exhibitionreview/id/rezausstellungen-194 (05.08.2021).
[2] Eine Wanderausstellung, u.a. konzipiert von Ute Frevert, der Direktorin des Forschungsbereichs „Geschichte der Gefühle“ am Max-Planck-Institut für Bildungsforschung in Berlin, thematisierte 2019, im Jubiläumsjahr der Weimarer Demokratiegründung, „Die Macht der Gefühle – Deutschland 19 / 19“. Die in mehreren Sprachen erhältliche Poster-Ausstellung behandelt insgesamt 20 Gefühle, darunter auch Hass und Liebe; Gier allerdings nur in der Form der „Neugier“. Siehe den Flyer unter https://machtdergefuehle.de/wp-content/uploads/2019/03/DMDG_Broschu%CC%88re_micro_190204.pdf (05.08.2021).
[3] Die Videoinstallation ist auch Teil des digitalen Angebots zur Ausstellung: https://www.hdgbw.de/ausstellungen/gierhassliebe/gier-ausstellung/ sowie unter https://www.youtube.com/watch?v=FMSHmQodswM (05.08.2021).
[4] Als Standardwerk siehe Margit Szöllösi-Janze, Fritz Haber 1868–1934. Eine Biographie, München 1998.
[5] 10 Minuten Gier: Profitstreben. Kurzführung in der Ausstellung „Gier. Was uns bewegt“ mit Dr. Franziska Dunkel, https://www.youtube.com/watch?v=bn-MgNoln9Y (05.08.2021). Auf YouTube sind auch Kurzführungen der anderen Ausstellungskuratoren zu sehen.
[6]https://www.hdgbw.de/ausstellungen/gierhassliebe/gier-ausstellung/ und https://www.hdgbw.de/ausstellungen/gierhassliebe/gier-digital/ (05.08.2021).

Zitation

Gudrun Kruip: Rezension zu: Gier. Was uns bewegt, 27.05.2021 – 19.09.2021 Haus der Geschichte Baden-Württemberg, in: H-Soz-Kult, 14.08.2021, <www.hsozkult.de/exhibitionreview/id/rezausstellungen-381>.




[Regionalforum-Saar] Der Tod eines Stahlindustriellen an der Heimatfront, 1944

Date: 2021/08/21 09:01:32
From: Roland Geiger via Regionalforum-Saar <regionalforum-saar(a)genealogy.net>

Inge Plettenberg

Mordfall Röchling - Der Tod eines Stahlindustriellen an der Heimatfront, 1944

17. Dezember 1944, drei Monate vor dem Ende des Zweiten Weltkrieges im Saarland. Zwei Männer verschwinden spurlos bei einem Kontrollgang durch die Völklinger Hütte: Carl Theodor Röchling, Juniorchef der Röchling’schen Eisen- und Stahlwerke, und Oberingenieur Heinrich Koch, Chef der Versorgungs- und Instandhaltungsbetriebe.

Zehn Tage später findet man sie tot auf – erschossen. Was ist geschehen? Wer hat die beiden Männer ermordet?

Die Geschichtsschreibung lieferte auf diese Fragen seither zwei unterschiedliche Antworten; es schien, als ließe sich der Kriminalfall nie mehr ganz aufklären ...

Mit diesem Buch liegt nun erstmals eine detaillierte Untersuchung des Falles vor, die zu einem eindeutigen Ergebnis kommt. Sie stützt sich auf die Aussagen einer überlebenden Zeugin und rückt erstmals auch die ermittelnde Polizei und mit dem Fall befasste Juristen ins Blickfeld.

Aber wie erzählt man eine Geschichte, um die von Anfang an zahlreiche Legenden gesponnen wurden?

Die Autorin, die hier die Ergebnisse jahrzehntelanger Recherchen abschließend zusammenfasst, hat sich für eine wissenschaftliche, quellengestützte Darstellung entschieden. Der Krimi-Effekt stellt sich auf diese Weise von selbst ein.

erschienen im Geistkirch-Verlag

Mordfall Röchling
Autor: Inge Plettenberg
ISBN 978-3-946036-23-4
Hardcover mit Lesebändchen | 296 Seiten | Format 17 x 24 cm | 78 Farb- und s/w-Fotos / Abblidungen
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[Regionalforum-Saar] Interview "Inge Plettenbergs Buc h über Tod von Hermann-Röchling-Sohn Carl Theodor"

Date: 2021/08/21 09:07:33
From: Roland Geiger via Regionalforum-Saar <regionalforum-saar(a)genealogy.net>

Inge Plettenbergs Buch über Tod von Hermann-Röchling-Sohn Carl Theodor

Wie nah standen sich Vater und Sohn? Hermann Röchling wurde als NS-Verbrecher verurteilt, sein Sohn soll durch SS-Sicherheitskräfte ermordet worden sein. Hier sieht man die beiden auf dem Flugfeld in St. Arnual um 1938. Foto: Archiv Saarstahl

Völklingen Über die Ermordung Carl Theodor Röchlings in der Völklinger Hütte kursieren zwei Versionen. Aber welche ist wahr? Das versucht jetzt ein Buch zu klären – und belastet zwei russische Zwangsarbeiter.

Von Cathrin Elss-Seringhaus, Reporterin

Am 17. Dezember 1944 wurde der einzige Sohn des Stahl-Magnaten und Hitler-Vertrauten Hermann Röchling in der Völklinger Hütte erschossen. Nie wurden die Tatumstände ganz aufgeklärt. Das ließ die Saarbrücker Historikerin Dr. Inge Plettenberg nie ganz los. Mit ihrem jüngst erschienenen Buch „Mordfall Röchling. Der Tod eines Stahlindiustriellen an der Heimatfront, 1944“ (Geistkirch Verlag, 27,90 Euro) gelingt ihr ein Kunststück. Sie rekonstruiert nicht nur minutiös ein Verbrechen, sie beleuchtet auch die Lebensumstände in der Hütte kurz vor Ende des Krieges, taucht hinab in die Lebensverhältnisse der Zwangsarbeiter und in die Familienverhältnisse der für die Hütte Verantwortlichen. Der Leser wird hinein gezogen in eine spannende Ermittlunsarbeit in Sachen historische Wahrheit. 

Statt eines klassischen Geschichtsbuchs haben Sie eine Art Krimi geschrieben, schildern Ihre detektivische Spurensuche in einem Tötungsdelikt, das vor 76 Jahren stattfand. Warum wählten Sie diese ungewöhnliche Form?

Dr. Inge Plettenberg ist freie Journalistin und hat zahlreiche Fernsehdokumentationen zu historischen Themen realisiert. Bis 2011 war sie beim Saarländischen Rundfunk beschäftigt.  Seither ist sie als Buchautorin tätig und führte für das Weltkulturerbe Völklinger Hütte Forschungsarbeiten zum Thema Zwangsarbeit in der Völklinger Hütte durch.

Plettenberg
Sachlich ist meine Darstellung hoffentlich dennoch. Ich wollte den Leser meinen eigenen Erkenntnisprozess nachvollziehen lassen. Es lagen zwei Versionen vor zur Ermordung Carl Theodor Röchlings am 17. Dezember 1944, und es konnten ja nicht beide wahr sein. Ich wollte auch für mich die Details im Hintergrund klären, Schritt für Schritt zur Wahrheit vordringen. Dafür bot sich meiner Ansicht nach das auktoriale Erzählen nicht an.

Hängt das nicht auch damit zusammen, dass Sie ahnten, die Botschaft „Fall gelöst, ich weiß Bescheid, wie es wirklich war“ – nämlich dass es russische Zwangsarbeiter waren, die Carl Theodor Röchling und seinen Begleiter Hermann Koch erschossen, und nicht etwa der SS-Sicherheitsdienst, – dass diese Version also auf massiven Widerstand stoßen würde? Was macht es eigentlich bis heute so heikel, irgendetwas zum Thema Röchling zu veröffentlichen?



Carl Theodor Röchling um 1920 auf dem Pferd seines Vaters Hermann Röchling. Der glühende Hitler-Verehrer Hermann Röchling erlebte den Tod seines Sohnes an der „Heimatfront“, die er selbst idealisiert hatte. Foto: Rainald Gußmann/Familienalbum von Gemmingen;

Plettenberg
Ich erlebe das als regionales Problem. Es wird sich erst erledigen, wenn die letzten Röchlingianer gegangen sind, die in Hermann Röchling nur den Wohltäter sehen. Mit ihnen geht dann auch das Narrativ, das Ende der 50er Jahre wichtig war für das Firmenimage, nämlich dass Carl Theodor Röchling dem NS-Regime kritisch gegenüber stand und sich dem Nero-Befehl Hitlers widersetzte, die Hütte zu zerstören, bevor sie dem Feind in die Hände fiel. Dass dieser Befehl erst im März 1945 erging, als Carl Theodor Röchling bereits tot war, wird übersehen. Man definiert Röchling Junior als Anti-Nazi, NS-Opfer und Retter tausender Arbeitsplätze im Saarland.

Aber kurioserweise haben auch Röchling-Kritiker Interesse an dieser Version, weil für sie die Nazis grundsätzlich die Bösen und Verbrecher sind, und es ins Bild passt, wenn man damals Russen unschuldig zum Tode verurteilte...

Plettenberg
Manche Leute neigen dazu, alle Verbrechen der Nationalsozialisten an der Person Hermann Röchlings festzumachen. Oft wird mit Allgemeinplätzen argumentiert, man ist gar nicht so sehr an Fakten interessiert. Das beobachte ich auch im Umgang mit meinen Forschungsergebnissen zur Zwangsarbeit in der Völklinger Hütte. Wenn ich als Historikerin genau wissen will, wie die Lebensumstände dieser Menschen waren, und nicht einfach nur sage: Sie lebten „menschenunwürdig“, dann wird dies bereits als distanzlos gegenüber den Röchlings kritisiert. Doch wenn man Hermann Röchling zur Unperson erklärt, sich nur an ihm festbeißt, übersieht man, wieviele andere saarländische Hütten und Gruben ebenfalls Zwangsarbeiter beschäftigten. Solcherart Geschichtsbetrachtung mag das eigene Wohlgefühl stärken, dass man auf der moralisch richtigen Seite steht, aber zum Verständnis damaliger und heutiger Entwicklungen trägt es nicht bei.

Im Vorwort schreiben Sie, das Buch handle nicht nur von einem Kriminalfall, sondern auch von einer Tragödie, die sechs Familien umfasst. Wie meinen Sie das?

Plettenberg
Ich habe nicht nur die beiden erschossenen Männer, sondern auch ihre Familien, und darüber hinaus die Familien der als Täter Verurteilten im Blick. Besondere Bedeutung besitzt das Vater-Sohn-Verhältnis zwischen Carl Theodor und Hermann Röchling. Letzterer erlebte ja ein persönliches Drama, weil sein Sohn an der „Heimatfront“ starb, die er, der Vater, in seiner Kriegsdenkschrift 1936 als Erfordernis des totalen Krieges beschrieben hatte. Und Carl Theodor Röchlings Witwe heiratet 1946 tatsächlich einen NS-Gegner, Dr. Ernst Röchling, der einen der Hitler-Attentäter von 1944 versteckte und dafür vom „Volksgerichtshof“ in Berlin zu fünf Jahren Zuchthaus verurteilt wurde. Das allein ist eine besondere Geschichte. Und dann ist da die Ehefrau von Oberingenieur Koch, der zusammen mit Carl Theodor ermordet wurde: Sie war Jüdin. Welchen administrativen Schikanen sie ausgesetzt war, bereits bevor der „Holocaust“ begann, das habe ich erstmals aufgearbeitet. Auch um biographische Informationen zu den Russen, auf die Carl Theodor Röchling und Koch stießen, habe ich mich bemüht. Erstmals in Gänze publiziert wird auch das Interview, das ich 2010 im Auftrag des Saarländischen Rundfunks mit der letzten Überlebenden der Vorfälle in der Mordnacht geführt habe.

Diese Russin ist Ihre Hauptzeugin, um zu belegen, dass es tatsächlich ein Zufall war, dass Carl Theodor Röchling und Hermann Koch an diesem Dezembertag auf die vier jungen Russen trafen, die sich versteckten, nachdem der Fabrikbetrieb und die Beschäftigung aller ausländischen Arbeiter Anfang Dezember 1944 beendet worden waren. Und dass diese Männer sozusagen aus Notwehr handelten, weil sie davon ausgehen mussten, dass ihnen wegen ihres Verbleibs im Werk der Tod drohte.

Plettenberg
Deshalb hatte ich auch zunächst Probleme mit dem etwas reißerischen Titel „Mordfall Röchling“. Aber ich stütze meine Argumentation für diese These der Vorfälle auch darauf, dass es für diese Version behördliche Dokumente gibt, die im Rastatter Prozess auftauchten, insbesondere die Anklageschrift vom 21. Januar 1945 mit dem Ermittlungs-und Obduktionsbericht. Für die andere Version, die von einer Liquidierung von Carl Theodor Röchling durch den SS-Sicherheitsdienst ausgeht, gibt es nichts dergleichen, nur Aussagen Dritter über seine vermeintliche regimekritische Haltung. Die NS-Opfer-Version passte eben sehr gut zur Legendenbildung, die der Familie Röchling ab 1956 bei ihrem Neustart in Völklingen half.

Erwarten Sie, dass das Narrativ jetzt offiziell geändert wird?

Plettenberg
Nein. Für die heutigen Unternehmen, die unter dem Namen Röchling laufen, spielt die NS-Vergangenheit keine Rolle mehr. Und für die jungen Familienmitglieder, die ich kennen lernen konnte, liegen die Todesumstände eines Vorfahren im Jahr 1944 viel zu weit zurück. Wenn man sich überhaupt dafür interessiert, dann ist die junge Generation prinzipiell offen gegenüber allen Erkenntnissen.

Das Gespräch führte Cathrin Elss-Seringhaus




 

[Regionalforum-Saar] Kommentar zu "Als Bomben auf T ürkismühle fielen" gestern in der SZ

Date: 2021/08/24 08:54:24
From: Roland Geiger via Regionalforum-Saar <regionalforum-saar(a)genealogy.net>

Guten Morgen,

gestern erschien im Regionalteil der Saarbrücker Zeitung ein Artikel über den Bombenangriff auf Türkismühle am 22. Februar 1945.

Der St. Wendeler Redakteur Thorsten Grim hatte den Türkismühler Heimatforscher Helmut Weiler interviewt und aus dessen Aussagen diesen Artikel zusammengebastelt. Ich hatte schon lange befürchtet, daß mich das zunehmende Alter hat ruhiger und gelassener werden lassen, aber das hat sich als unbegründet erwiesen. Ich habe gestern morgen gut zwei Stunden damit verbracht, die nachstehende Email an Herrn Grim zu verfassen.

Den Artikel selbst finden Sie unkommentiert in der nächsten Email, allerdings reduziert um die Fotos.

Roland Geiger

----------------

Guten Morgen, Herr Grim,

ich habe Ihren Artikel über den Bombenangriff aus Türkismühle gelesen. Mir ist klar, daß Sie nur wiedergegeben haben, was Herr Weiler Ihnen erzählt hat. Aber kaum etwas davon, was den Hintergrund des Angriffs betrifft, entspricht der Realität.

Es handelte sich um einen Tagangriff, die Bomber kamen um 15 Uhr. Damit war es nicht die Royal Air Force, die den Angriff flog, sondern die Amerikaner flogen diesen Angriff. Damit ist das schöne Foto der Lancaster, das Sie zeigen, nutzlos, denn sie gehörte zu den Briten.

Ein paar Tage nach dem Angriff - am 26. Februar - überflog die Ninth AirForce (US) in einer Höhe von 24.000 Fuß den Ort und schoß Fotos, um zu klären, welchen Schaden sie zuvor am Bahnhof angerichtet hatte. Woraus sich folgern läßt, daß tatsächlich der Bahnhof das Ziel war. Türkismühle war Verkehrsknotenpunkt, von hier zweigte die Eisenbahnstrecke nach Hermeskeil ab. Legt man diesen Knotenpunkt lahm, können keine Züge passieren, was die Bewegungen des Feindes erheblich einschränkt. Damit handelte es sich hier um einen taktischen Angriff, der der aktuellen Lage geschuldet war.

Die Ninth Air Force besaß keine sog. „schweren Bomber“ (B-17 Flying Fortress und B-24 Liberator), sondern kleinere mittelschwere und maximal zweimotorige, z.B. die B-26 Marauder. Sie war wendiger und für kleinere Ziele, z.B. Türkismühle, viel besser geeignet, als die viel behäbigeren schweren Bomber. Letztere tauchten nur in Pulks auf, was ihre Effizienz steigerte. Marauders flogen allein oder in kleinen Rotten zu drei oder sechs.

Sie beziehen sich auf die Operation Clarion. Darin findet sich in wikipedia:
„Die 9th Air Force war mit 465 Bombern und 1053 Kampfflugzeugen im Einsatz. Sie bombardierten zahlreiche Eisenbahnbrücken und Bahnknoten im Raum Gießen, Freiburg, Bingen und Köln und zerstörten unter anderem 118 Lokomotiven. Sie verloren im Luftkampf drei Bomber und zwölf Jagdflugzeuge, schossen dagegen 17 deutsche Flugzeuge ab.“

Glauben Sie wirklich, General Spaatz hätte zugelassen, daß in Vorbereitung dieses Angriffes Flugblätter abgeworfen würden, um den Feind am Boden zu warnen? Die Alliierten besaßen die Lufthohheit, aber sie wußten, daß sich am Boden Truppen befanden, die sich wehren würden. Flugblätter hätten die Zivilisten gelesen, die Truppen aber auch. Die Soldaten beider Seiten waren mutig, aber wirklich dumm war keiner von ihnen.

Flugblätter dienten dazu, den Feind zu demotivieren und zum Aufgeben zu bringen; ihr Zweck war, die Gefahr von der anderen Seite zu verringern. Ein Text wie „Türkismühle im Loch - wir kriegen Dich doch“ ist eine Provokation, eine Verhöhnung, nicht eine Aufforderung zur Aufgabe. Dazu kommt: wer soll diese Flugblätter abgeworfen haben? Es mußte eine zweimotorige Maschine sein, aus deren Bombenschacht die Blätter abgeworfen wurden. Sie mußte den Raum über Türkismühle unbeschadet erreichen (also mindestens drei oder mehr Flugzeuge), tief runter gehen (von normaler Höhe bei 8 km auf mindestens 500 Meter), damit die Blätter auch wirklich in Türkismühle landen, und sie mußte die ganze Strecke wieder zurückfliegen. Der ganze Aufwand, um dem Feind zu sagen, für welch einen Idioten man ihn hält. Dazu muß man schon wirklich bescheuert sein.

Nach dem Angriff kamen lt. Weiler die Jäger in Form amerikanischer P-38 Lightnings, um die Leute am Boden davon abzuhalten, die Verschütteten zu bergen. Wie soll ich das schreiben? Wissen Sie, wie ein Pilot in einem Jäger zielt? Mit seiner ganzen Maschine, denn die Maschinengewehre sind fest in der Tragfläche eingebaut und zielen auf einen Punkt, der in einer gewissen Entfernung genau vor der Flugzeugnase in Flugrichtung liegt. D.h. bei einem Vorbeiflug kann der Pilot zwar feuern, aber er trifft nichts, weil das Ziel dann neben ihm liegt. Er muß also ein ganzes Stück wegfliegen, drehen, seine Nase auf das Ziel ausrichten und darauf losfliegen. Ein ganzes Stück davor schießt er und dreht gleich wieder ab, denn er kommt mit ein paar hundert Stundenkilometern an. Dreht er nicht rechtzeitig ab, fliegt er in den Boden.

Der Begriff „Dachrutscher“ scheint ein lokaler Begriff zu sein. Ich hörte ihn in den 90ern zum ersten Mal. Er bezeichnet einen feindlichen Jäger, der spätabends sehr tief über die Dächer der Häuser geflogen sein soll, daher der Name. Welcher Nationalität er war, wußte niemand, und gesehen hat ihn wohl auch niemand. Die Flugzeuge, die Herr Weiler meint, die P-38 Lightning, wurde in der Regel als Eskorte für Bomber eingesetzt (suchen Sie doch mal nach dem Gedicht „Lightnings in the Sky“), aber auch als Jagdbomber, d.h. unter den Tragflächen hingen leichte Bomben. „Jabo“ für Jagdbomber ist dann auch der Begriff, den die Leute hierzulande den einzel oder in Rotte fliegenden einsitzigen und einmotorigen Jagdflugzeugen der Amerikaner gaben, die so gut wie jedes sich anbietende Bodenziel angriffen, wiederum taktisch, um potentielle Gegner auf dem Boden auszuschalten. Um festzustellen, wie sich aus einem schnellfliegenden Flugzeug aus ein paar hundert Metern Höhe der Unterschied zwischen Zivilisten und Soldaten ausmachen läßt, empfehle ich Ihnen einen Flug in Marpingen in einem zweisitzigen Tiefdecker. Schauen Sie aus dem Fenster, und identifizieren Sie Personen und Tiere.

Herr Weiler gibt an, es seien etwa 50 Personen bei dem Angriff umgekommen. Ein bißchen später sagt er, die letzten Opfer seien nach 1,5 Jahren gefunden worden. D.h. es dürfte einfach sein, die Zahl und Namen der Toten ermitteln. Oder ist das zuviel Mühe und paßt nicht in sein Feindbild?

Zu dem Einsatz der Amerikaner über Türkismühle am 22. Februar 1945 gibt es sicher einen Einsatzbericht, der im amerikanischen Nationalarchiv in College Park, Maryland, liegt. Dort muß man heutzutage nicht mal hinfahren. Aber drum bemühen muß man sich schon.

Die Erinnerung spielt uns Streiche, vor allem an Erlebnisse, die wir als junge Menschen hatten. Wir interpretierten sie mit den intellektuellen Möglichkeiten, die wir damals hatten. Im Laufe der Jahre erinnern wir uns dann nicht mehr an die Erlebnisse, sondern an diese Interpretationen und das, was uns andere darüber erzählten.

Ich sprach in den 1990ern mit einem Augenzeugen aus Eisen, der mir von einem Flugzeugabsturz berichtete. Dort drüben, wies er mit der Hand, kam das Flugzeug her und brannte. Hier drüben ist einer ausgestiegen, und dort hinter den Häusern ist es abgestürzt. Ich nahm seine Aussage als Grundlage und fand heraus, daß er von drei Ereignissen sprach, die zu unterschiedlichen Zeiten binnen zweier Jahre stattgefunden hatten.

Augenzeugenberichte sind tolle Grundlagen, aber sie müssen analysiert werden. Sonst kann das furchtbar in die Hose gehen.

Mit freundlichen Grüßen

Roland Geiger

[Regionalforum-Saar] Als Bomben auf Türkismüh le fielen

Date: 2021/08/24 08:55:31
From: Roland Geiger via Regionalforum-Saar <regionalforum-saar(a)genealogy.net>

gestern in der SZ, Regionalteil St. Wendel:

Als Bomben auf Türkismühle fielen

[Großes Foto: Am 22. Februar 1945 erfolgte der folgenreichste von insgesamt 51 Luftangriffen auf Türkismühle. Das Foto zeigt einen viermotorigen britischen Bomber vom Typ Lancaster im Anflug auf Hamburg im Zweiten Weltkrieg.]

Türkismühle Am Bahnhof Türkismühle eröffnete im Sommer ein Döner-Imbiss. Aber das Grundstück, auf dem er steht, hat eine tragische Geschichte: Hier suchten im Februar 1945 zahlreiche Menschen im Keller eines Hotels Schutz vor den Bomben, die die Alliierten über Türkismühle abwarfen – vergeblich.

Von Thorsten Grim, Redakteur Lokalredaktion St. Wendel

Mit der Ardennenoffensive im Winter 1944/45 hatte Hitler im Westen alles auf eine Karte gesetzt – und verloren. Wenngleich die Wehrmacht damit den Angriff der West-Alliierten auf das Deutsche Reich nach Einschätzung der Historiker der Bundeszentrale für Politische Bildung um etwa sechs Wochen verzögert hatte. Dennoch war mit dem Scheitern der Großoffensive der von den Nazis noch immer beschworene Endsieg endgültig in unerreichbare Ferne gerückt. Unaufhaltsam wanderte die West-Front in östliche Richtung.

Dabei helfen, den Widerstand der Deutschen zu brechen, sollte die Operation Clarion. So lautete der Code-Name der größten und weiträumigsten anglo-amerikanischen Luftangriffskampagne im Zweiten Weltkrieg. Innerhalb von 48 Stunden wollten die Alliierten am 22. und 23. Februar 1945 der Infrastruktur im Reich einen tödlichen Schlag versetzen. Auch das Dörfchen Türkismühle hatten die Angreifer als Ziel für ihre Bomberpiloten auserkoren.

Seine Entstehung verdankt der Ort einer günstigen Verkehrslage. Und genau die sollten ihm und zahlreichen Menschen am 22. Februar ’45 zum Verhängnis werden. Allerdings fielen die Bomben auf den Bahnknotenpunkt nicht aus heiterem Himmel. Es war bewölkt. Und: „Der Angriff war angekündigt worden“, erinnert sich Helmut Weiler. Der Türkismühler ist pensionierter Gymnasiallehrer und passionierter Heimatforscher. Zahlreiche Schriften hat Weiler zur Geschichte seines Heimatortes und des Hochwaldes verfasst. Auch mit dem Bombardement Ende Februar 1945 hat er sich befasst. „Die Alliierten hatten über dem Dorf Flugblätter abgeworfen. Darauf stand: Türkismühle im Loch – wir kriegen Dich doch“, berichtet der Heimatforscher, der damals noch ein kleiner Junge war.

76 Jahre später sitzen wir am Tisch des Esszimmers in seinem Wohnhaus, das im Gebiet auf dem Eber steht. „Hier, wo wir jetzt sitzen, waren damals jede Menge Luftabwehrgeschütze stationiert“, berichtet Weiler. „Wenn man in diese Richtung weiter geht“, er zeigt aus dem Fenster in westliche Richtung, „würde man eine Absturzstelle finden. Da wurde eine viermotorige Maschine der Amis abgeschossen.“

Anlass für Weiler, sich noch einmal mit jenem Schicksalstag wenige Monate vor Kriegsende zu beschäftigen, war jüngst die Neueröffnung des Türkismühler City-Grills in der Saarbrücker Straße. Denn der steht genau auf jenem Platz, wo damals zahlreiche Menschen ihr Leben verloren.

Die Bomber mit ihrer todbringenden Luftfracht kamen nachmittags gegen 15 Uhr aus Richtung Nohfelden durch das Nahetal geflogen. Tief brummten die Motoren der Propellermaschinen, Sirenen hatten Fliegeralarm geheult. Bis 1944 war Türkismühle fast vollständig von Luftangriffen verschont geblieben. Doch mit dem Näherrücken der Front war das florierende Dörfchen immer stärker ins Visier der Bomberstaffeln gerückt. Schließlich war hier ein wichtiger Verkehrsknotenpunkt – gerade auch für die Wehrmacht. 51 Angriffe aus der Luft sollten in der Folge bis Kriegsende über Türkismühle niedergehen.

Der damals beidseitige Trennungsbahnhof lag und liegt an der Nahetalbahn und war Endpunkt der Hochwaldbahn nach Trier sowie der Westrichbahn nach Kusel. „Gerade in den letzten Kriegsmonaten und -wochen ging durch den Bahnhof viel Kriegsgerät durch“, weiß Weiler und berichtet von einer alten Militärrampe im Wald, „die es noch immer gibt“. Über diese konnte Großgerät auf die Schiene gebracht oder von dort heruntergeholt werden. „Es gibt sogar Zeitzeugen, die mir erzählt haben, dass hier einige V2 verladen wurden.“ Die Abkürzung V2 steht für Vergeltungswaffe zwei, die weltweit erste funktionsfähige Großrakete mit Flüssigkeitstriebwerk. Die ballistische Artillerie-Rakete kam im Zweiten Weltkrieg ab 1944 in großer Zahl zum Einsatz.

Als sich die Bomber am 22. Februar 1945 dem Ort näherten, hielt gerade ein Passagierzug in Türkismühle. Da Fliegeralarm gegeben war, rannten die Menschen aus Zug und Bahnhof und suchten Schutz in dem vermeintlich sicheren Keller des unweit gelegenen Hotels Zwetsch. Das war in den 1870er-Jahren als Hotel zur Post erbaut worden.

Ungeachtet der Flugabwehrgeschütze auf der Anhöhe, wo heute Weiler wohnt, drangen die Bomber vor. Dann waren die Flieger über dem Dorf, öffneten die Klappen an den Bäuchen ihrer fliegenden Festungen und luden ihre tödliche Fracht ab. Gewaltige Explosionen erschütterten den Bahnhof und die umliegenden Gebäude. Die Gleisanlage wurde nachhaltig zerstört, ebenso unter anderem das Bahnhofsgebäude, das Gasthaus Schulz sowie das Geschäftshaus Anton Meier. Auch das Hotel Zwetsch wurde getroffen. Dessen Keller galt zwar als bombensicher, wurde aber dennoch zur Todesfalle.

„Man schätzt, dass etwa 50 Menschen in dem Keller Schutz suchten und verschüttet wurden. In dem Keller lagerte Koks, der sich durch den Bombenangriff wohl entzündete. Das Feuer entzog der Luft den Sauerstoff und die Menschen erstickten“, berichtet Weiler. „Neben den beiden Hotelbesitzerinnen Philippine und Ida Zwetsch sowie ihrer Schwester Luise fanden weitere Personen aus Türkismühle, den Nachbarorten sowie die Fahrgäste des gerade angekommenen Zuges und zudem fünf Wehrmachtsangehörige, (. . .), den Tod.“

Während der Lösch- und Rettungsarbeiten griffen immer wieder amerikanische Kampfflugzeuge die Rettungskräfte an. „Wir haben die Flugzeuge nur Dachrutscher genannt, weil sie immer so tief über die Dächer der Häuser geflogen kamen“, sagt der Heimatforscher. Die Dachrutscher waren Jäger der Firma Lockheed mit der Bezeichnung P-38 Lightning. Jedenfalls machten diese Angriffe die Bergung der Opfer aus den Schuttmassen tagsüber schwierig bis nahezu unmöglich. Die in den folgenden Nächten geborgenen Opfer setzte man – ebenfalls nachts – auf dem Friedhof in Nohfelden bei, da ein solcher in Türkismühle selbst zur damaligen Zeit noch nicht angelegt war. „Die letzten Opfer konnten aber erst gut eineinhalb Jahre später völlig skelettiert geborgen werden“, hat Weiler recherchiert.

Das Grundstück des ehemaligen Hotels Zwetsch blieb in der Folgezeit unbebaut. Bis jetzt. 76 Jahre nach der Zerstörung des ehemaligen Hotels zur Post sei mit dem repräsentativen Neubau ein würdiger Nachfolger gefunden worden, „der wie das Vorgängergebäude zu einer Institution werden kann“. Jedenfalls wünscht Weiler das der Familie Kartal Vakkas, die den Citiy-Grill betreibt.


[Regionalforum-Saar] Vortrag "Peter Engels Nachruf - Legende und Wirklichkeit"

Date: 2021/08/24 09:12:25
From: Roland Geiger via Regionalforum-Saar <regionalforum-saar(a)genealogy.net>

Peter Engels Nachruf - Legende und Wirklichkeit.

Peter Engel wurde 1819 in St. Wendel geboren und starb 1919 in Dansville im amerikanischen Bundesstaat New York. Kurz vor seiner Beerdigung erschien im dortigen Lokalblatt ein langer Nachruf, wie er in den USA damals und heute ab und an immer noch üblich war. Darin wird der Verstorbene in den Stationen seines Lebens vorgestellt. Als ich den Nachruf mit meinen eigenen Forschungen verglich, fand ich einige Unstimmigkeiten, die ich in meinem Vortrag vorstellen will.

Saarbrücken-Scheidt, Lesesaal des Landesarchivs Saarbrücken
Dienstag, 31. August 2021, 17.20 Uhr

Der Eintritt ist frei; allerdings ist eine Voranmeldung beim Vorsitzenden der Arbeitsgemeinschaft für Saarländische Familienforschung notwendig.
Bitte kontaktieren Sie Markus Detemple per Email: <markus(a)de-temple.de>

Mit freundlichen Grüßen

Roland Geiger

Re: [Regionalforum-Saar] Kommentar zu "Als Bomben auf T ürkismühle fielen" gestern in der SZ

Date: 2021/08/24 09:22:16
From: Stefan Reuter via Regionalforum-Saar <regionalforum-saar(a)genealogy.net>

Hallo, Roland. 

Kurz und gut: Erstklassiger Kommentar!

Vergleichbares ließe sich zu fast allen Berichten in den Medien schreiben/sagen, die sich mit den damaligen Ereignissen befassen.

Leider fast durchgängig verfasst nach der Devise: "Keine Ahnung, aber davon jede Menge!"

Gruß, Stefan 

Roland Geiger via Regionalforum-Saar <regionalforum-saar(a)genealogy.net> schrieb am Di., 24. Aug. 2021, 08:54:

Guten Morgen,

gestern erschien im Regionalteil der Saarbrücker Zeitung ein Artikel über den Bombenangriff auf Türkismühle am 22. Februar 1945.

Der St. Wendeler Redakteur Thorsten Grim hatte den Türkismühler Heimatforscher Helmut Weiler interviewt und aus dessen Aussagen diesen Artikel zusammengebastelt. Ich hatte schon lange befürchtet, daß mich das zunehmende Alter hat ruhiger und gelassener werden lassen, aber das hat sich als unbegründet erwiesen. Ich habe gestern morgen gut zwei Stunden damit verbracht, die nachstehende Email an Herrn Grim zu verfassen.

Den Artikel selbst finden Sie unkommentiert in der nächsten Email, allerdings reduziert um die Fotos.

Roland Geiger

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Guten Morgen, Herr Grim,

ich habe Ihren Artikel über den Bombenangriff aus Türkismühle gelesen. Mir ist klar, daß Sie nur wiedergegeben haben, was Herr Weiler Ihnen erzählt hat. Aber kaum etwas davon, was den Hintergrund des Angriffs betrifft, entspricht der Realität.

Es handelte sich um einen Tagangriff, die Bomber kamen um 15 Uhr. Damit war es nicht die Royal Air Force, die den Angriff flog, sondern die Amerikaner flogen diesen Angriff. Damit ist das schöne Foto der Lancaster, das Sie zeigen, nutzlos, denn sie gehörte zu den Briten.

Ein paar Tage nach dem Angriff - am 26. Februar - überflog die Ninth AirForce (US) in einer Höhe von 24.000 Fuß den Ort und schoß Fotos, um zu klären, welchen Schaden sie zuvor am Bahnhof angerichtet hatte. Woraus sich folgern läßt, daß tatsächlich der Bahnhof das Ziel war. Türkismühle war Verkehrsknotenpunkt, von hier zweigte die Eisenbahnstrecke nach Hermeskeil ab. Legt man diesen Knotenpunkt lahm, können keine Züge passieren, was die Bewegungen des Feindes erheblich einschränkt. Damit handelte es sich hier um einen taktischen Angriff, der der aktuellen Lage geschuldet war.

Die Ninth Air Force besaß keine sog. „schweren Bomber“ (B-17 Flying Fortress und B-24 Liberator), sondern kleinere mittelschwere und maximal zweimotorige, z.B. die B-26 Marauder. Sie war wendiger und für kleinere Ziele, z.B. Türkismühle, viel besser geeignet, als die viel behäbigeren schweren Bomber. Letztere tauchten nur in Pulks auf, was ihre Effizienz steigerte. Marauders flogen allein oder in kleinen Rotten zu drei oder sechs.

Sie beziehen sich auf die Operation Clarion. Darin findet sich in wikipedia:
„Die 9th Air Force war mit 465 Bombern und 1053 Kampfflugzeugen im Einsatz. Sie bombardierten zahlreiche Eisenbahnbrücken und Bahnknoten im Raum Gießen, Freiburg, Bingen und Köln und zerstörten unter anderem 118 Lokomotiven. Sie verloren im Luftkampf drei Bomber und zwölf Jagdflugzeuge, schossen dagegen 17 deutsche Flugzeuge ab.“

Glauben Sie wirklich, General Spaatz hätte zugelassen, daß in Vorbereitung dieses Angriffes Flugblätter abgeworfen würden, um den Feind am Boden zu warnen? Die Alliierten besaßen die Lufthohheit, aber sie wußten, daß sich am Boden Truppen befanden, die sich wehren würden. Flugblätter hätten die Zivilisten gelesen, die Truppen aber auch. Die Soldaten beider Seiten waren mutig, aber wirklich dumm war keiner von ihnen.

Flugblätter dienten dazu, den Feind zu demotivieren und zum Aufgeben zu bringen; ihr Zweck war, die Gefahr von der anderen Seite zu verringern. Ein Text wie „Türkismühle im Loch - wir kriegen Dich doch“ ist eine Provokation, eine Verhöhnung, nicht eine Aufforderung zur Aufgabe. Dazu kommt: wer soll diese Flugblätter abgeworfen haben? Es mußte eine zweimotorige Maschine sein, aus deren Bombenschacht die Blätter abgeworfen wurden. Sie mußte den Raum über Türkismühle unbeschadet erreichen (also mindestens drei oder mehr Flugzeuge), tief runter gehen (von normaler Höhe bei 8 km auf mindestens 500 Meter), damit die Blätter auch wirklich in Türkismühle landen, und sie mußte die ganze Strecke wieder zurückfliegen. Der ganze Aufwand, um dem Feind zu sagen, für welch einen Idioten man ihn hält. Dazu muß man schon wirklich bescheuert sein.

Nach dem Angriff kamen lt. Weiler die Jäger in Form amerikanischer P-38 Lightnings, um die Leute am Boden davon abzuhalten, die Verschütteten zu bergen. Wie soll ich das schreiben? Wissen Sie, wie ein Pilot in einem Jäger zielt? Mit seiner ganzen Maschine, denn die Maschinengewehre sind fest in der Tragfläche eingebaut und zielen auf einen Punkt, der in einer gewissen Entfernung genau vor der Flugzeugnase in Flugrichtung liegt. D.h. bei einem Vorbeiflug kann der Pilot zwar feuern, aber er trifft nichts, weil das Ziel dann neben ihm liegt. Er muß also ein ganzes Stück wegfliegen, drehen, seine Nase auf das Ziel ausrichten und darauf losfliegen. Ein ganzes Stück davor schießt er und dreht gleich wieder ab, denn er kommt mit ein paar hundert Stundenkilometern an. Dreht er nicht rechtzeitig ab, fliegt er in den Boden.

Der Begriff „Dachrutscher“ scheint ein lokaler Begriff zu sein. Ich hörte ihn in den 90ern zum ersten Mal. Er bezeichnet einen feindlichen Jäger, der spätabends sehr tief über die Dächer der Häuser geflogen sein soll, daher der Name. Welcher Nationalität er war, wußte niemand, und gesehen hat ihn wohl auch niemand. Die Flugzeuge, die Herr Weiler meint, die P-38 Lightning, wurde in der Regel als Eskorte für Bomber eingesetzt (suchen Sie doch mal nach dem Gedicht „Lightnings in the Sky“), aber auch als Jagdbomber, d.h. unter den Tragflächen hingen leichte Bomben. „Jabo“ für Jagdbomber ist dann auch der Begriff, den die Leute hierzulande den einzel oder in Rotte fliegenden einsitzigen und einmotorigen Jagdflugzeugen der Amerikaner gaben, die so gut wie jedes sich anbietende Bodenziel angriffen, wiederum taktisch, um potentielle Gegner auf dem Boden auszuschalten. Um festzustellen, wie sich aus einem schnellfliegenden Flugzeug aus ein paar hundert Metern Höhe der Unterschied zwischen Zivilisten und Soldaten ausmachen läßt, empfehle ich Ihnen einen Flug in Marpingen in einem zweisitzigen Tiefdecker. Schauen Sie aus dem Fenster, und identifizieren Sie Personen und Tiere.

Herr Weiler gibt an, es seien etwa 50 Personen bei dem Angriff umgekommen. Ein bißchen später sagt er, die letzten Opfer seien nach 1,5 Jahren gefunden worden. D.h. es dürfte einfach sein, die Zahl und Namen der Toten ermitteln. Oder ist das zuviel Mühe und paßt nicht in sein Feindbild?

Zu dem Einsatz der Amerikaner über Türkismühle am 22. Februar 1945 gibt es sicher einen Einsatzbericht, der im amerikanischen Nationalarchiv in College Park, Maryland, liegt. Dort muß man heutzutage nicht mal hinfahren. Aber drum bemühen muß man sich schon.

Die Erinnerung spielt uns Streiche, vor allem an Erlebnisse, die wir als junge Menschen hatten. Wir interpretierten sie mit den intellektuellen Möglichkeiten, die wir damals hatten. Im Laufe der Jahre erinnern wir uns dann nicht mehr an die Erlebnisse, sondern an diese Interpretationen und das, was uns andere darüber erzählten.

Ich sprach in den 1990ern mit einem Augenzeugen aus Eisen, der mir von einem Flugzeugabsturz berichtete. Dort drüben, wies er mit der Hand, kam das Flugzeug her und brannte. Hier drüben ist einer ausgestiegen, und dort hinter den Häusern ist es abgestürzt. Ich nahm seine Aussage als Grundlage und fand heraus, daß er von drei Ereignissen sprach, die zu unterschiedlichen Zeiten binnen zweier Jahre stattgefunden hatten.

Augenzeugenberichte sind tolle Grundlagen, aber sie müssen analysiert werden. Sonst kann das furchtbar in die Hose gehen.

Mit freundlichen Grüßen

Roland Geiger

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[Regionalforum-Saar] „Allerunterthänigst u nterfertigte Bitte“ – Inhalt, Form und Bedeut ung von Bittschriften im langen 19. Jahrhundert

Date: 2021/08/31 08:38:56
From: Roland Geiger via Regionalforum-Saar <regionalforum-saar(a)genealogy.net>

„Allerunterthänigst unterfertigte Bitte“ – Inhalt, Form und Bedeutung von Bittschriften im langen 19. Jahrhundert

Veranstalter
Marion Dotter, Collegium Carolinum München; Kristýna Kaucka, Masaryk Institut, Prag; Ulrike Marlow, Ludwig-Maximilians-Universität München

10.06.2021 - 11.06.2021

Von Marion Dotter, Collegium Carolinum München; Ulrike Marlow, Ludwig-Maximilians-Universität München

Bittschriften werden in der Forschung zur Beantwortung unterschiedlicher Fragestellungen herangezogen, wie zum Beispiel in der Armutsforschung, um die Lebensverhältnisse der Unterschichten nachvollziehen und darstellen zu können. In den letzten Jahren erschienen mehrere Dissertationen, die sich in ihrer Analyse auf Bittschriften als Quellen stützen.[1] Doch fehlt es noch an einem Überblick zu den Adressaten und Verfassern von Bittschriften, ihrer inhaltlichen und stilistischen Aufbereitung sowie ihrer Bedeutung für das staatliche und politische Handeln im 19. Jahrhundert. Für die Frühe Neuzeit liegt solch ein Sammelband mit dem Titel „Bittschriften und Gravamina“, herausgegeben von Cecelia Nubola und Andreas Würgler, vor.[2] Im Gegensatz zum deutschsprachigen existieren im englischsprachigen Raum Publikationen zum Supplikationswesen im 19. Jahrhundert: Unter anderem wird nach Entwicklungen im Bittschriftenwesen in der longue durée gefragt und werden Petitionen von politisch-sozialen Bewegungen in den Blick genommen.[3] Die britische Forschung untersuchte beispielsweise Petitionen an das englische Parlament, also an eine politische Institution mit Entscheidungskompetenz.[4] In der deutschsprachigen Forschung existiert derzeit noch kein Überblick zur Vielfältigkeit der in den Gesuchen vorgebrachten individuellen, teils auch kollektiven Anliegen. Schließlich ist derzeit die Frage noch offen, welche Auswirkungen die zahlreich überlieferten Bittgesuche auf die politische Modernisierung im 19. Jahrhundert hatten, also inwiefern der Einzelfall Ausgangspunkt weitreichenderer staatsrechtlicher Reformen oder neuer Politikfelder sein konnte. Dabei stellt sich zudem die Frage, wie sich Bittschriften als Massenquelle systematisch auswerten lassen.

All diesen Fragen wandte sich der Workshop zu. Nach einer kurzen Einführung der Organisatorinnen folgte der Plenarvortrag von SILKE MARBURG (Dresden). Von ihrem aktuellen Forschungsprojekt zu Gravamina im 17. und 18. Jahrhundert, das im Graduiertenkolleg „Geschichte der sächsischen Landtage“ angesiedelt ist, versuchte sie Bezüge und ein theoretisches Angebot an die Petitionsforschung herzustellen. Die sächsischen Stände der Frühen Neuzeit konnten die Anliegen der sogenannten Landschaft an den Landesherrn schriftlich herantragen und auf diese Weise gegebenenfalls erfolgreich Politik betreiben. Die Stände besaßen dazu zwei Möglichkeiten: Zum einen konnten sie sich in Generalia zu Themen der Innen- und Außenpolitik äußern. Zum anderen konnten sie regionale und lokale Anliegen in einer Art Supplikensammlung, den Gravamina, zusammenstellen und an den Landtag übermitteln, der ein Forum für diesen Kommunikationsprozess darstellte. Inspiriert von den gemeinsamen Überlegungen mit Edith Schriefl über „Die politische Versammlung als Ökonomie der Offenheiten“[5] stellte Marburg eine institutionentheoretische Perspektive vor, um Bittschriften im 19. Jahrhundert gewinnbringend analysieren zu können. Bittschriften zeugen von einem Gefälle in der institutionalisierten Kommunikation. Die Macht des Adressaten ist heute noch ablesbar, da er die Ressourcen besaß, die an ihn gerichteten Gesuche anzunehmen, zu bearbeiten und zu archivieren. Die Bittsteller griffen in ihren Argumentationen auf Werte, Pflichten und Rechte zurück, die der Adressat in seiner Antwort wiederum ebenfalls spiegelte. Letztlich gehören Gravamina, Petitionen und Bittschriften in Bezüge, in denen es um Ordnung geht. Auch wenn das einzelne Schriftstück dem widerspricht, kommt es zur Geordnetheit. Denn in den Bittschriften ging es nicht nur um das Anliegen an sich, sondern auf nichtdiskursiven Wege wurde das Ungeordnete ausgedrückt.Das sei ein vielversprechender Analyseort. In diesem Sinne bietet die Ökonomie[6] der Offenheiten einen Perspektivwechsel an.

Danach widmete sich das erste Panel den „Bittschriften als Instrument im modernen Verwaltungs- und Rechtsstaat“. DANIEL BENEDIKT STIENEN (München) leistete mit seinem Vortrag zu den Ankaufsgesuchen deutscher Grundbesitzer im östlichen Preußen einen Beitrag zur Emotionsgeschichte: Er zeigte Bittgesuche als Quelle, in der Gefühle wie Scham und Verständnislosigkeit ebenso wie ein kollektives Bekenntnis zur Nation zu Tage treten. Der einzelne Antragsteller und seine Vorstellung von der „deutschen Nation“ wurde über das Konzept der „Erwartungserwartung“ mit der ablehnenden Haltung der königlichen preußischen Verwaltungsbeamten verschränkt. Da die Bittsteller ihr Ziel nicht erreichen konnten, änderten sie ihre Strategie: Ihre Gesuche wandelten sich im Untersuchungszeitraum von der Bitte zur Drohung.

Ebenfalls eine Veränderung in der Vorgehensweise ist anhand der Texte des Rabbiners Samson Wolf Rosenfeld (um 1780–1862) nachvollziehbar, der als Verfasser von Petitionen an das Bayerische Parlament hervortrat. MORITZ BAUERFEIND (Basel) untersuchte gedruckte Texte aus den Jahren 1819, 1822 und 1846. Sie werfen nicht nur die Frage nach der Reichweite von Bittschriften, sondern auch nach der Entstehung einer jüdischen Öffentlichkeit im Vormärz auf. Weiter wird zu erforschen sein, inwieweit Samson Rosenfeld allein gehandelt hat oder mit seinen Eingaben auf die Sorgen und Wünsche seiner Gemeinde reagierte.

Nicht ausschließlich für sich selbst baten auch die Petenten jener Bittschreiben, die ELISABETH BERGER (Salzburg) vorstellte: Anträge von Armeemitgliedern und ihrer Angehörigen um Verkürzung der Wehrdienstzeit. Vor allem die Eltern der Rekruten hofften, dass ihre Söhne wegen der aufwendigen Feldarbeit frühzeitig aus dem Heer entlassen werden konnten. Auf der Basis eines Quellenbestandes aus den 1890er-Jahren im Steirischen Landesarchiv zeigte Berger auf, wie mit Bittschriften eine Lücke im Wehrgesetz geschlossen und schließlich eine Novellierung dieses Gesetzes geschaffen werden konnte. Sie wies auch auf die symbolische Bedeutung des Kaisers hin, der als oberster Befehlshaber aller Streitkräfte in den Texten häufig angerufen wird, ohne für diese Entscheidung tatsächlich relevant zu sein. Denn die Gesuche durchliefen ein mehrstufiges bürokratisches Verfahren, das in ähnlicher Form von mehreren Vorträgen angesprochen wurde. Politische Institutionen, wie Gemeinden oder Ministerien, nahmen die Bittschriften entgegen und ließen die darin enthaltenen Angaben überprüfen. Auf dieser Basis wurde über die Gewährung der Bitte entschieden, worüber die Bittenden abschließend benachrichtigt wurden.

Deutlich wichtiger für den Entscheidungsprozess war der Monarch bei Bittgesuchen aus dem adeligen Milieu. JAN ŽUPANIČ (Prag) zeichnete den Behördenweg der Nobilitierungsgesuche im Habsburgischen Verwaltungsapparat des späten 18. und 19. Jahrhunderts nach. In seinen Ausführungen wies er auf die parallele Existenz eines Gnaden- und eines Rechtssystems in Bezug auf das Nobilitierungswesen hin.

Einen weniger bürokratie- als vielmehr adelshistorischen Ansatz wählte MICHAELA ŽÁKOVÁ (Prag) in ihrem Vortrag zum Prager Damenstift. Anhand der Bitten um die begehrten Stiftsplätze konnte sie das Bild einer für die höfischen und administrativen Stellen „idealen armen Aristokratin“ des 19. Jahrhunderts nachzeichnen. Damit verwies sie auf mehrere Argumentationslinien, die in Bittschriften auch in anderen Zusammenhängen aufgerufen wurden: Die Bedürftigkeit, die Verdienste um Staat und Öffentlichkeit, die Familie und schließlich die „moralische Tauglichkeit“.

Ähnliches brachte auch Etelka (Szapáry) Gräfin Andrassy vor, als sie sich in den 1850er-Jahren mehrmals um die Begnadigung ihrer während der ungarischen Revolution verurteilten und ins Ausland geflohenen Söhne Gyula (1823–1890) und Aladár (1827–1903) kümmerte. SUSANNE ZENKER (Wien) verglich zwei sehr unterschiedliche Textbeispiele der Antragstellerin, die nicht zuletzt Rückschlüsse auf die vielfältigen Entstehungsbedingungen von Bittschriften zulassen: Während Etelka den ersten Text selbst verfasste und sich dafür auch entschuldigte, wurde die zweite Schrift von einem Anwalt aufgesetzt und von einem professionellen Schreiber ausgeführt. Schließlich bettete Zenker diese beiden Fälle in das umfassendere Amnestiesystem der neoabsolutistischen Ära ein und stellte die Möglichkeit der Einreichung von Bittschriften als ein wichtiges Regierungsinstrument zur Bewältigung der Revolution in Ungarn dar.

Teil der Strafjustiz waren nicht nur Amnestien, sondern auch Adelsentsetzungen, die CHRISTIANE BUB (Tübingen) in ihrem Vortrag zu delinquenten Adeligen in Preußen in den Blick nahm. Sie interpretierte Bittschriften als wichtige Quelle der „neuen Sozialgeschichte“, der sie sich über das Konzept der „Un-/Doing difference“ annäherte. Dadurch konnte sie die Unterschiede zwischen Adel und Bürgertum, die bei armen oder kriminellen Adeligen aufgelöst wurden, neu vermessen.

Der höfischen Welt wandte sich daraufhin das dritte Panel zu, wobei erneut Preußen und die Habsburgermonarchie im Zentrum standen. ANJA BITTNER (Berlin) ging zunächst auf die hofinternen Bittschriften am Berliner Hof und damit auf die Versorgungsmöglichkeiten ein, die durch dieses System für die königlichen Angestellten geschaffen wurden. Die Bittschriften zeichnen nicht nur ein eindrückliches Bild von den Lebensverhältnissen dieser Antragsteller, sondern auch von deren selbstbewusstem und forderndem Auftreten gegenüber ihren Vorgesetzten. Die Petenten waren von der Sozialfunktion des Hofes überzeugt und nutzten diese für die Verbesserung ihrer Lebensverhältnisse.

Aus dem gesamten Reich kommende Bittschriften an Kaiserin Elisabeth von Österreich untersuchte ULRIKE MARLOW (München). Sie konzentrierte sich auf eine quantitative Analyse und konnte Konjunkturen bzw. kronlandspezifische Unterschiede bei der Zahl der Einreichungen an die Herrschergattin zeigen. Damit ist auch ein genderspezifischer Ansatz verbunden, der Frauen am Hof in das Zentrum (symbol-)politischer Machtausübung rückte.

Das letzte Panel konzentrierte sich auf die Adressaten der Bittschriften: ROBERT LUFT (München) beschäftigte sich mit den Petitionen an den österreichischen Reichstag, der als Institution seit den 1860er-Jahren Empfänger von Bittschreiben wurde. Das Staatsgrundgesetz von 1867 hielt fest: „Das Petitonsrecht steht Jedermann zu.“[7] Beide Kammern des Reichsrats besaßen das Recht, „über eingehende Petitionen Auskunft [von der Exekutive] zu verlangen“ [8] und auf diese Weise erhaltene Bittschriften gewissermaßen an die Regierung weiterzuleiten. Erneut zeigt sich an diesem Beispiel die Entwicklung einer politischen Öffentlichkeit, die sich nicht zuletzt über derartige Anträge an Abgeordnete artikulierte und dadurch die Diskurse ihrer Zeit prägte.

Einer der Abgeordneten, die Gesuche entgegennahmen, war Tomáš Garrigue Masaryk, auf den JOHANNES GLEIXNER (München) einging. Allerdings wurde der Politiker nicht nur in seiner staatstragenden Funktion angerufen, sondern auch als Gelehrter, Professor oder bekanntes Mitglied des öffentlichen Lebens, den man als Verbündeten gewinnen wollte. Gleixner legte eine „soziale Ordnung“ der betrachteten Quellen vor, die von stilistisch-formalen über inhaltliche bis zu kontextuellen Elementen reichte, stellte mit seinen Ausführungen aber vor allem einen außerstaatlichen Akteur als Empfänger von Bittschriften vor.

Die Beiträge haben insbesondere den Staat als Problemlöser in den Blick genommen, wenn auch in Form von verschiedenen Institutionen (Kaiser, Hof, Militärbehörden, Parlament, etc.). Insofern bedarf es in der künftigen Forschung einer stärkeren Berücksichtigung von nichtstaatlichen Akteuren als Empfänger von Bittschriften und deren Einflussmöglichkeiten. Zudem beschäftigten sich zahlreiche Vorträge mit der Frage nach der Bürokratisierung im Umgang mit Bittschriften im 19. Jahrhundert und inwieweit diese als Kennzeichen der Moderne gelten könne. Auch hier können Bittschriften als Grundlage weiterer Studien dienen. Zahlreiche Kontinuitäten und Parallelen zur Frühen Neuzeit, etwa im Bearbeitungsprozess der Gesuche, betten das Thema in epochenübergreifende Diskurse ein. Diese werden auch im Zentrum des „Netzwerks Bittschriften“ stehen, das im Anschluss an den Workshop gegründet wurde. Dieser Verbund wird die Beschäftigung mit dem Thema mit weiteren Veranstaltungen fortführen. Auch ein Sammelband auf Basis des Workshops soll die Bittschriftenforschung beleben.

Konferenzübersicht:

Begrüßung, Einführung

Plenarvortrag

Silke Marburg (Technische Universität Dresden): Bittschriften im 18. und 19. Jahrhundert. Eine Einführung

Panel: Bittschriften als Instrument im modernen Verwaltungs- und Rechtsstaat

Daniel Benedikt Stienen (Bayerische Akademie der Wissenschaften, München): „…ich bitte einen loyalen und treuen Deutschen nicht schlechter behandeln zu wollen“. Die emotionale Konstruktion der Nation in Ankaufgesuchen deutscher Grundbesitzer im östlichen Preußen (1886–1914)

Kommentar: Klaas-Hinrich Ehlers (Freie Universität Berlin)

Moritz Bauerfeind (Universität Basel): „Menschen werden immer menschlicher, wenn man sie wie Menschen behandelt.“ Die Bittschriften des Rabbiners Samson Wolf Rosenfeld an das Bayrische Parlament

Kommentar: Martina Niedhammer (Collegium Carolinum München)

Elisabeth Berger (Universität Salzburg): „… weshalb ich mich wohl bei meinem jüngsten Sohn einer kleinen Berücksichtigung für würdig erachte.“ Bitten um dauerhafte Beurlaubung Wehrpflichtiger in Österreich-Ungarn um 1900

Kommentar: Thomas Süsler-Rohringer (Ludwig-Maximilians-Universität München)

Panel: Bittschriften aus dem adeligen Milieu

Jan Županič (Karls-Universität Prag): Nobilitierungen in der Habsburgermonarchie im 19. Jahrhundert

Michaela Žáková (Tschechische Akademie der Wissenschaften, Prag): Das Bild der „armen“ Aristokratin in den Bittschriften der Kandidatinnen des Theresianischen Damenstiftes in Prag

Kommentar: Marion Dotter (Collegium Carolinum München)

Susanne Zenker (Universität Wien): Bittschriften als Teil des Begnadigungsprozesses von Gyula Graf Andrássy

Christiane Bub (Eberhard Karls Universität Tübingen): Bittschriften delinquenter Adliger in der preußischen Strafjustiz der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts

Kommentar: Martin Klement (Tschechische Akademie der Wissenschaften, Prag)

Panel: Bittschriften im höfischen Kontext

Anja Bittner (Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften, Berlin): Bittschriften am preußischen Hof im 19. Jahrhundert

Ulrike Marlow (Ludwig-Maximilians-Universität München): „Eure Kaiserliche, Königliche, Apostolische Majestät“ – Bittschriften an Kaiserin Elisabeth von Österreich (1854–1898)

Kommentar: Mark Hengerer (Ludwig-Maximilians-Universität München)

Panel: Bittschriften an staatliche und außerstaatliche Akteure

Robert Luft (Collegium Carolinum München): Akteure, Adressaten und Akten. Petitionen an den österreichischen Reichsrat in der späten Habsburgermonarchie

Johannes Gleixner (Collegium Carolinum München): Der Intellektuelle als öffentliche Fürsorgeinstitution: Bittschriften an T. G. Masaryk vor 1914

Kommentar: Jana Osterkamp (Ludwig-Maximilians-Universität München / Collegium Carolinum München)

Abschlussdiskussion

Anmerkungen:
[1] Als Beispiel seien hier genannt die Arbeiten von Johanna Singer, Arme adlige Frauen im Kaiserreich, Tübingen 2016, und von Chelion Begass, Armer Adel in Preußen 1770–1830, Berlin 2020, beide im Kontext des Tübinger SFB „Bedrohte Ordnungen“ entstanden, und das Projekt von Michaela Žáková zum Theresianischen Damenstift in Prag.
[2] Cecilia Nubola / Andreas Würgler (Hrsg.) Bittschriften und Gravamina. Politik, Verwaltung und Justiz in Europa (14.–18. Jahrhundert), Berlin 2005.
[3] Henry Miller, Introduction. The Transformation of Petitioning in the Long Nineteenth Century (1780–1914), in: Social Science History 43 (2019), S. 409–429, online: https://www.cambridge.org/core/journals/social-science-history/article/introduction-the-transformation-of-petitioning-in-the-long-nineteenth-century-17801914/EBC1924B1C51EB5BE8C7760F43A73149 [9.6.2021]
[4] Richard Huzzey / Henry Miller, Petitions, Parliament and Political Culture: Petitioning the House of Commons, 1780–1918, in: Past & Present 248 (2020), S. 123–164, online: https://academic.oup.com/past/article/248/1/123/5819582 [9.6.2021]
[5] Silke Marburg / Edith Schriefl (Hrsg.), Die politische Versammlung als Ökonomie der Offenheiten. Kommentierte Quellen zur Geschichte der sächsischen Landtage vom Mittelalter bis in die Gegenwart, Ostfildern 2021, hier bes. S. 9–26.
[6] Silke Marburg und Edith Schriefl verwenden den Ökonomie-Begriff „in einem an den Wirtschaftswissenschaften orientierten unspezifischen Sinn und [dieser] impliziert schlicht die Gesamtheit eines in Form eines Haushalts miteinander zusammenhängenden Handelns“, Silke Marburg / Edith Schriefl: Die politische Versammlung als Ökonomie der Offenheiten, in: dies. (Hrsg.): Die politische Versammlung als Ökonomie der Offenheiten. Kommentierte Quellen zur Geschichte der sächsischen Landtage vom Mittelalter bis in die Gegenwart, Ostfildern 2021, S. 9–26, hier S. 17 f.
[7] Staatsgrundgesetz vom 21. December 1867, über die allgemeinen Rechte der Staatsbürger für die im Reichsrathe vertretenen Königreiche und Länder, Artikel 11, RGBL. 142/1867, Onlineressource: https://alex.onb.ac.at/cgi-content/alex?aid=rgb&datum=1867&page=422&size=45&size=45 [12.07.2021]
[8] Gesetz vom 21. December 1867, wodurch das Grundgesetz über die Reichsvertretung vom 26. Februar 1861 abgeändert wird, § 22, RGBL. 141/1867, Onlineressource: https://alex.onb.ac.at/cgi-content/alex?aid=rgb&datum=1867&page=422&size=45&size=45 [12.07.2021]

Zitation

Tagungsbericht: „Allerunterthänigst unterfertigte Bitte“ – Inhalt, Form und Bedeutung von Bittschriften im langen 19. Jahrhundert, 10.06.2021 – 11.06.2021 digital (München), in: H-Soz-Kult, 25.08.2021, <www.hsozkult.de/conferencereport/id/tagungsberichte-9033>.




[Regionalforum-Saar] Schau auf mich und tue es! Materie lle, visuelle und praktische Dimensionen des Rezept-Büch leins

Date: 2021/08/31 23:29:16
From: Roland Geiger via Regionalforum-Saar <regionalforum-saar(a)genealogy.net>

Schau auf mich und tue es! Materielle, visuelle und praktische Dimensionen des Rezept-Büchleins


Veranstalter  PD Dr. Stefan Laube, HU-Berlin, Institut für Kulturwissenschaft
Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel (Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel)

Ausrichter Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel

Veranstaltungsort Herzog August Bibliothek (Augusteerhalle)

Gefördert durch Deutsche Forschungsgemeinshaft (DFG)

38304 Wolfenbüttel

Vom - Bis  27.09.2021 - 29.09.2021

Von Stefan Laube


Schau auf mich und tue es! Materielle, visuelle und praktische Dimensionen des Rezept-Büchleins

Wie stelle ich Seife her? Wie färbe ich Textilien? Welche Ingredienzien benötige ich für ein wirkungsvolles Medikament? Wie findet man Bodenschätze und fördert sie zu Tage? Praktische Informationen dieser Qualität sind bereits im frühen Buchdruck fixiert worden. Ratgeberliteratur versetzte interessierte Laien in die Lage, sich weitgehend unabhängig von institutionellen Konstellationen und mündlichen Lehrsituationen Informationen aus allen möglichen Bereichen des Wissens zu beschaffen.

Die seit Ende des 15. Jahrhunderts belegte Existenz von gedruckten Gebrauchsanweisungen bzw. Ratgeberabhandlungen zeigt, dass dem Umgang mit Substanzen und Geräten ein neues Medium zu Hilfe kam, das dazu befähigen sollte, einen technischen Ablauf nachzuvollziehen und diesen in eigene Handlungen zu überführen. Die Frage ist aufgeworfen, ob diese Quellengattung in Ausstattung und Gestaltung durch bestimmte Muster geprägt ist. Vier Sektionen setzen folgende Akzente: (a) Der Gebrauch von Büchern und seine Spuren; (b) Handschrift – Druck – Digitalisat, (c) Visuelle Übersetzung und Intermedialität (d) Praxeologische Konsequenzen.
Die Tagung ist eine Präsenzveranstaltung, eine virtuelle Teilnahme ist möglich. Den Tagungslink erhalten Sie auf Anfrage.

Programm

Montag, 27. September 2021
14:00-14:30 Begrüßung

Stefan Laube (Berlin

Wolfenbüttel)
Zur Einführung: Kann es ratlose Ratgeber geben (am Beispiel von Pesttraktaten)?

14:30-17:15 Sektion I: Bücher im Gebrauch und ihre Spuren

14:30-15:15 Petra Feuerstein-Herz (Wolfenbüttel)
„Nimm, Thu, Stell“ – Benutzungsspuren in gedruckter Ratgeberliteratur. Eine Fallstudie zu den Beständen der Herzog August Bibliothek

15:15-16:00 Julie Gardham (Glasgow)
`Magi´ of the North: The wonderful book collecting world of John Ferguson and the Liber Physiognomy of Michael Scot.

16:00-16:30 Kaffeepause

16:30-17:15 Robert Maclean (Glasgow)
Who owned the Margarita Philosophica and how was it used?

Dienstag, 28. September 2021

09:30-12:15 Sektion II: Handschrift – Druck – Digitalisat

09:30-10:15 Tillmann Taape (New York)
Texts of Action: Material and Digital Approaches to an Early Modern “How-To” Text at the Making and Knowing Project

10.15-11:00 Sven Limbeck (Wolfenbüttel)
Text – Medium – Aufschreibesystem. (Alchemische) Rezepte in Büchern

11:00-11:30 Kaffeepause

11:00-11:45 Véronique Adam (Grenoble)
Alchemical Diagrams in Recipe Books: From Mining Exploration to Cooking

11:45-12:45 Bibliotheksführung

 Library tour

12:45-14:30 Mittagspause

 Lunch break



14:30-17:45 Sektion III: Visuelle Übersetzung und Intermedialität

14:30-15:15 Laurence Grove (Glasgow)
How to Fly?

15:15-16:00 Alfred Messerli (Zürich)
Erzählen und zeigen: Georg Agricola als Fachprosaautor in De re metallica libri XII

16:00-16:30 Kaffeepause

Coffee break

16:30-17:15 Anke Timmermann (Lincolnshire)
The Crowning of Nature in the Ferguson Collection: Recipe Literature Reconsidered

17:15-18:00 Hole Rößler (Wolfenbüttel)
Die Anleitung als Monument. Zur biographisch-memorialen Funktion der technischen Schriften Joseph Furttenbachs (1591–1667)

Mittwoch, 29. September 2021

09:30-12:15 Sektion IV: Zwischen Vorschrift und Improvisation

09:30-10:15 Laura Balbiani (Aosta)
So wird´s gemacht! Oder nicht? Frühneuzeitliche Rezepte auf Bewährungsprobe

10:15-11:00 Simone Pia Zweifel (St. Gallen)
Rezeptbuch-Praktiken und die Frage der Gattung

11:00-11:30 Kaffeepause

11:30-12:15 Britta-Juliane Kruse (Wolfenbüttel)
Die Hausapotheke der Herzogin: Bezüge zwischen Personen, Rezepten und Objekten am Witwensitz Sophias von Braunschweig-Lüneburg (1574)

12:15-12:45 Schlussdiskussion

Kontakt

PD Dr. Stefan Laube

Zitation

Schau auf mich und tue es! Materielle, visuelle und praktische Dimensionen des Rezept-Büchleins. In: H-Soz-Kult, 31.08.2021, <www.hsozkult.de/event/id/event-112514>.




[Regionalforum-Saar] Kinderlosigkeit. Ersehnte, verweigerte und bereute Elternschaft im Mittelalter

Date: 2021/08/31 23:30:57
From: Roland Geiger via Regionalforum-Saar <regionalforum-saar(a)genealogy.net>

Kinderlosigkeit. Ersehnte, verweigerte und bereute Elternschaft im Mittelalter

Autor Toepfer, Regina
Erschienen Berlin 2020: J.B. Metzler Verlag
Anzahl Seiten 510 S.
Preis € 29,99
ISBN 978-3-476-05674-0

Inhalt meinclio.clio-online.de/uploads/media/book/toc_book-59726.pdf

Rezensiert für H-Soz-Kult von Clara Harder, Historisches Institut, Universität zu Köln

Die hier zu besprechende Monographie von Regina Toepfer über Kinderlosigkeit im Mittelalter lässt Bekanntes weit hinter sich und bricht in neue Gefilde auf. Unterstützt von der Volkswagenstiftung hat die Inhaberin des Lehrstuhls für deutsche Philologie (Ältere Abteilung) an der Universität Würzburg mit ihrem neuesten Buch ein Opus magnum vorgelegt, mit dem ihr das Kunststück gelingt, auf unterhaltsame Art und Weise ein bisher kaum bearbeitetes Themengebiet zu erschließen. Den Dienst, den Toepfer damit der Mediävistik erwiesen hat, gilt es darum zunächst umstandslos anzuerkennen.

Bereits der Untertitel zeigt auf, dass das Phänomen der Kinderlosigkeit überaus facettenreich ist. Toepfer spricht von ersehnter, verweigerter und bereuter Elternschaft im Mittelalter und steckt damit bereits den Rahmen ab, in dem sich ihre Studie bewegt. Sie sucht bewusst und zielgerichtet den Anschluss an gegenwärtige Debatten über die Rollenerwartungen von Eltern bzw. Müttern („Regretting Motherhood“) oder ethisch-moralische Fragen der Reproduktionsmedizin und lässt sich von diesen souverän inspirieren, ohne in unpassende, anachronistische Vergleiche zu verfallen. Zu Beginn erläutert Toepfer ihr Konzept, das wenig überraschend stark kulturhistorisch angelegt ist. Als Germanistin interessiere sie sich für Narrative, nicht dafür, „wie die Situation von kinderlosen Paaren ‚wirklich gewesen‘“ sei (S. 7). Kinderlosigkeit begreift sie als „kulturelles Konstrukt“ (S. 14). Die Bezeichnung einer Person als „kinderlos“ sei fast immer abwertend gemeint (S. 13). Kinderlosigkeit sei aber kein statischer Zustand, könne eine Vielzahl an Ursachen haben und, das ist immer wieder Thema, auch gewollt sein. Deswegen führt Toepfer für ihre Studien den Zentralbegriff der „Unfruchtbarkeit“ ein. Fruchtbarkeit und Unfruchtbarkeit stünden in einem diskursiv untrennbaren Verhältnis zueinander. Toepfer bietet im Folgenden einen analytisch-systematischen Zugang zu den mittelalterlichen Unfruchtbarkeits-Narrativen. Eindrucksvoll widerlegt sie dabei ihre eigene Ausgangsthese über die negative Konnotation von Kinderlosigkeit. Denn sie zeigt mit ihren zahlreichen Quellenbeispielen umfassend, wie vielfältig und ambivalent mittelalterliche Autoren (ausbleibende) Elternschaft diskutieren konnten. Eine grundsätzliche Abwertung von kinderlosen Personen scheint sich, so eine zentrale These des Buches, vor allem in Folge der Reformation durchzusetzen und damit ein frühneuzeitliches Phänomen zu sein.

Die Arbeit zerfällt in einen allgemeineren und einen literaturhistorischen Teil, ohne dass beide explizit voneinander getrennt werden. In den ersten fünf Kapiteln werden theologische, medizinische, rechtliche, dämonische und ethische Diskurse über Kinderlosigkeit aufgegriffen. Das heterogene Quellenmaterial, das Toepfer hierfür direkt und indirekt heranzieht, erlaubt es ihr, die Vielgestaltigkeit der Narrative exemplarisch vorzuführen. Über Auswahl und Schwerpunktsetzung ließe sich trefflich streiten, auch wenn man Toepfer kaum Einseitigkeit vorwerfen kann. Es rief allerdings ein gewisses Befremden bei der Rezensentin hervor, dass ausgerechnet eine Germanistin sich in diesen Kapiteln so selten zu den Autoren und Rezipienten ihrer Quellen sowie zu deren Verbreitung äußert. Einzelne Befunde gilt es deswegen (auch) im Hinblick auf den historischen Kontext der Materialien zu hinterfragen. Die zeitliche Verteilung des Materials über das Mittelalter hinweg ist keineswegs gleichmäßig. Toepfer greift auf einige unentbehrliche antike Zeugnisse (v.a. Bibel, Kirchenväter) zurück und macht auch einen kleinen Ausflug ins Hochmittelalter. Die überwiegende Mehrzahl ihrer Quellen entstammt aber dem 14. bis 16. Jahrhundert, und hier liegt auch der zeitliche Schwerpunkt bei den literarischen Quellen, die im zweiten Teil der Darstellung ausgewertet werden. Die Vielfalt der Materialien geht dabei immer wieder auf Kosten der inhaltlichen Details: Wenn Toepfer die alttestamentarische Leidensgeschichte von Jakobs Frau Rahel darlegt, unterschlägt sie unnötiger Weise (denn es hätte ihrer Argumentation nicht geschadet), dass Gott Rahels Schwester Lea ausdrücklich Kinder als Trost schenkt, da ihr Mann Jakob sie nicht liebt und die jüngere und schönere Rahel bevorzugt. Ihre Söhne bleiben für Lea aber ein unzureichender Ausgleich für die fortgesetzte Zurückweisung durch ihren Mann. Die Geschichte illustriert zweifellos Rahels Leid ob ihrer Kinderlosigkeit, sie zeigt aber gleichzeitig, dass Leas Fruchtbarkeit eben nicht dazu führt, dass diese glücklich wird. Toepfers Lehre aus der Episode („Wer Söhne gebärt, ist von Gott gesegnet“, S. 27) erscheint vor diesem Hintergrund unnötig verkürzt. Ähnliche Beispiele ließen sich für jedes Kapitel in diesem ersten Teil (bis S. 183) anfügen, in dem die Autorin argumentativ zwar nicht immer überzeugt, aber zahlreiche anregende Impulse bietet.

Im zweiten Teil des Werkes kommt die Germanistin zu der ihr eigenen Expertise, wenn sie Diskurse der erzählenden Literatur aufgreift. Ihre Typologie von sieben Narrativen der Kinderlosigkeit ist wunderbar systematisch und argumentativ absolut überzeugend. Sie präsentiert ein wiederum erhebliches Korpus an literarischen (lateinischen und volkssprachlichen) Texten. Zunächst widmet sich die Autorin dem zeitweilig oder dauerhaft unerfüllten Kinderwunsch: Das Kapitel „Göttliche Hilfe“ deutet Erzählungen um göttliche Erlösung und Heilszusagen frommer Protagonisten, die in Form des ersehnten Nachwuchses daherkommt. Weniger glücklich enden hingegen Versuche von Kinderlosen, Hilfe durch „gefährliche Dritte“ zu erhalten. Diese werden von mittelalterlichen Erzählern als „Eindringlinge“ dargestellt, deren Unterwanderung der Kernfamilie Abstammungsfragen meist ebenso verkomplizieren wie die im nächsten Kapitel besprochene „soziale Alternative“ zur Erfüllung des Kinderwunsches, ein fremdes Kind anzunehmen. Absolut herausragend ist das Kapitel über die „mystische Mutterschaft“, in dem die Bedeutung von Jesuskindfiguren für in Orden oder religiösen Gemeinschaften lebenden Frauen dargelegt wird. Toepfer leuchtet hier „Mutterschaft als genuin weibliche Frömmigkeitsform“ (S. 294) in einem völlig neuen Sinne aus. Das Kapitel zeichnet sich auch dadurch aus, dass es vermehrt weibliche Perspektiven in den Vordergrund rückt. Denn in den vorangegangenen wie in den nachfolgenden Kapiteln sind die Autoren der Quellen sowie ihr Gegenstand fast immer Männer. Auch stehen deren Sichtweisen im Vordergrund in den letzten drei Kapiteln, die sich mit bereuter und verweigerter Elternschaft auseinandersetzen – wodurch ein zentraler Unterschied zu gegenwärtigen Debatten mehr als offensichtlich wird. Toepfer rundet ihre Studien mit einem ausführlichen Epilog ab, bevor Anmerkungsapparat, Literaturverzeichnis und ein Namensregister folgen.

Zentral für Toepfers Analyse ist eine normativitätskritische Perspektive. Die Leidenschaft für ihren Gegenstand ist der Autorin dabei stets anzumerken. Diese führt an der ein oder anderen Stelle dazu, dass sie ihre überwiegend wertneutrale Position verlässt. So werden in ihrer Darstellung Frauen, die medizinische Hilfe bei der Fortpflanzung in Anspruch nehmen, überwiegend als hilflose Opfer der Reproduktionsmedizin stilisiert, die allerlei Dinge über sich ergehen lassen müssen. Die spätantiken Kirchenväter verbreiten ein eher freundlich daherkommendes Keuschheitsideal, Luthers Lob der Ehe ist für Toepfer hingegen ein Abweichler unterjochendes Reproduktionsdiktat. Das wirkt aufgrund häufiger Wiederholungen zum Teil etwas anstrengend.

Toepfer hat die Arbeit in dem Willen verfasst, ein Buch für Fachpublikum und breitere Öffentlichkeit gleichermaßen zu schreiben (S. 473). Diesem Ansinnen trägt nicht nur der erfreulich niedrige Preis des Werkes Rechnung, sondern auch die überaus angenehm zu lesende Wissenschaftsprosa. Die Kapitel sind zwar teilweise aufeinander bezogen, aber auch unabhängig voneinander verständlich, so dass ein episodisches Lesen möglich ist. Auch die Diskussion der 14 Bildquellen bereichern die Darstellung. Gleichzeitig sind ein paar Einschränkungen nötig. So muss der interessierte Laie (und/oder Student) erhebliches Vorwissen zur Geschichte im Allgemeinen und zur mittelalterlichen Epoche im Speziellen mitbringen, um den inhaltlichen Anschluss nicht zu verlieren. Das (geschichts-) wissenschaftliche Fachpublikum dürfte hingegen einiges auszusetzen haben an den oftmals sehr knapp ausfallenden Belegen, den seltenen Erläuterungen zum jeweiligen historischen Kontext und an der fehlenden Rückbindung an die aktuellere historische Forschung vor allem im ersten Teil der Arbeit. Angesichts der erstaunlichen Vielfalt der vorgestellten Materialien und Perspektiven ist dies aber wahrscheinlich zu verschmerzen.

Auch wenn die Nutzung des Zentralbegriffs "Unfruchtbarkeit" mitsamt seines „Fertilitätssternchens“ nicht alle Leser überzeugen dürfte, so sind die versammelten Studien mit ihrem reichhaltigen Fundus an Quellen und Analysen mit Gewinn zu lesen. Toepfers Buch eröffnet zahlreiche Anknüpfungspunkte für Historiker, Germanisten und andere und lädt zu Widerspruch und zum Weiterarbeiten ein. Ihr Mut, gewohnte Pfade zu verlassen, hat sich gelohnt. Mögen andere dies zum Anlass nehmen, es ihr gleich zu tun!

Zitation

Clara Harder: Rezension zu: Toepfer, Regina: Kinderlosigkeit. Ersehnte, verweigerte und bereute Elternschaft im Mittelalter. Berlin  2020. ISBN 978-3-476-05674-0, In: H-Soz-Kult, 01.09.2021, <www.hsozkult.de/publicationreview/id/reb-94453>.