Wo der Todbach seinen Namen her hat.
Eine Geschichte zu Pfingsten.
Direkt angrenzend an meine Heimatstadt St. Wendel liegt der Ort
Urweiler, der
seinen Namen ungefähr im 7. Jahrhundert nach Christus erhielt, so
wie die
meisten Orte, deren Namen mit „weiler“ endet. Die meisten gehen
zurück auf ein
Gehöft, bestehend aus einen oder zwei Häusern, was ich gerne mit
„drei Häuser
und ein Hund“ bezeichne. Der Eigentümer des Gehöfts wurde dann zum
Namensgeber
des Ortes, so daß der Name des Ortes sich aus dem Namen des
Eigentümers und dem
Zusatz „weiler“ zusammensetzt. Allerdings ist das ausgerechnet bei
Urweiler
nicht der Fall, denn das heute „ur“ ist alles, was im Laufe der
Zeit von der
Vorsilbe „ober“ übrig geblieben ist. Das heißt: Urweiler war ein
Ort, der
früher oberhalb eines anderen an einem Fluß oder Bach lag.
Urweilers Pendant
war dann folgerichtig Niederweiler, das südlich von St. Wendel am
Bach weiter
unten lag (und eines der wenigen Orte ist, der im 30-jährigen
Krieg tatsächlich
zerstört wurde. Der 30-jährige Krieg ist immer eine toller
Abfallplatz für alle
Orte, die irgendwann zerstört wurden und von denen niemand
wirklich weiß wann.
Dann war es immer der 30-jährige Krieg. Er hat einen wirklich
üblen Ruf und
nicht zu Unrecht, aber manchmal tut er mir schon ein bißchen leid
J).
Fährt man durch Urweiler hindurch und biegt kurz hinter der Mitte
nach links
ab, kommt man zur Dörrwiesmühle, eine Wassermühle, deren
Geschichte bis ins 17.
Jahrhundert zurückreicht und eine der wenigen Mühlen dieser Art
ist, die heute
noch ein funktionierendes Wasserrad hat. Dieses Wasserrad wird
nicht durch
einen Bach angetrieben, sondern von Wasser, das von einem Bach
abgezweigt und
durch einen langen Kanal zum Rad geleitet wird. Diese Abzweigung
liegt fast ein
Kilometer nördlich Urweilers auf halber Strecke nach
Baltersweiler, wo meine
Eltern wohnen und ich aufgewachsen bin (nicht geboren, nur
aufgewachsen - auf
diesen Umstand lege ich schon Wert, aber das ist eine andere
Geschichte). Im
Gegensatz zu Urweiler beruht der erste Teil des Namens
„Baltersweiler“
tatsächlich auf einem Eigennamen, das war wohl ein Mann namens
Balthasar oder
so ähnlich, von dem wir allerdings außer dem Namen nichts wissen,
und den Namen
kennen wir auch nur aus dem Ortsnamen. Ziemlich dürftig, aber will
man machen.
Durch Baltersweiler fließt ein Bach nach Urweiler und weiter nach
St. Wendel,
wo er nahe der heutigen Aral-Tankstelle in die Blies fließt und
mit dieser
zusammen nach Süden, um irgendwann zur Saar zu gelangen, dann
weiter in die
Mosel und den Rhein und noch viel später in die Nordsee und von da
in den
Atlantik. Dort entstehen dann Wolken, die fliegen ins Land hinein
und regnen
ihren Inhalt wieder auf die Erde. Und dann fängt das Ganze von
vorne an.
Dieser Bach, von dem aus u.a. das Wasser zur Dörrwiesmühle
abgeleitet wird, ist
der Todtbach, und weil er solch einen seltsamen Namen hat, will
ich erzählen,
woher dieser Name kommt.
Auf halber Strecke zwischen Urweiler und Baltersweiler gibt es
jenseits der
Eisenbahn ein Gebiet, das wird „Hirschweilerberg“ genannt. Es ist
kein
wirklicher Berg, sondern ein langer Hang, der zum Kesselberg
dahinter gehört.
Und sein Namen hieß früher nicht „Hirschweiler“, sondern hat sich
aus einem
älteren Namen gebildet, nämlich „Herisweiler“. Fragen Sie mich
nicht, wie der
Eigentümer dieses Hofes hieß, es muß irgendwas mit „Heris“ gewesen
sein.
Die Leute, die dort gewohnt haben, waren irgendwie seltsam, und
die Häuser, in
denen sie wohnten, sahen entsprechend aus. Nicht schön. Schief,
verwahrlost,
dreckig.
Meine Heimatstadt St. Wendel lebte damals von der Wallfahrt. In
der großen Kirche
in der Stadtmitte, die seit langer Zeit „Dom“ genannt wird (nicht
weil wir hier
einen Bischof haben - den haben wir hier nicht -, sondern weil sie
so groß
ist), lag damals schon in seinem Grab der heilige Wendalinus, von
dem die
Kirche und die Stadt ihren Namen hat. Über ihn wissen wir nichts
historisches,
sondern nur, was seine Legenden erzählen. Er soll aus Schottland
stammen,
neuerdings auch aus Irland, soll vor 1500 Jahren u.a. hier gelebt
haben, soll
im nahegelegenen Kloster Tholey Abt gewesen und dort gestorben,
aber hier in
St. Wendel (das es damals noch nicht gab) beerdigt worden sein.
„Soll“, nicht
„ist“. Das heißt: wir glauben das es so war, aber bestätigt wissen
tun wir
nichts. Aber das ist ja, was „glauben“ heißt: von etwas fest
überzeugt zu sein,
ohne einen Beweis zu haben oder so gar trotz Gegenbeweisen.
Er lebte also vermutlich irgendwann, starb irgendwann und irgendwo
und wurde
vermutlich irgendwann hier begraben. Über seinem Grab baute man
eine Kapelle,
und Menschen kamen von überall her, um an seinem Grab zu beten und
um seine
Hilfe zu bitten. Und ab und zu wurde Hilfe gewährt. So etwas nennt
man
„Wunder“. Und die sprechen sich herum, was dazu führt, dass immer
mehr Leute
dorthin kommen, um am Grab zu beten und um Hilfe zu bitten. Heute
nennt man so
etwas einen „Schnellball“-Effekt.
Manche Leute kamen und gingen nicht mehr weg, sondern bauten sich
ein Haus
(oder zwei) und boten anderen Leuten, die des Wegs kamen, ihre
Hilfe an.
Wandern macht durstig und Beten vermutlich hungrig. Und schon war
die erste
Herberge da, die ein Dach über dem Kopf zum Übernachten, ein Glas
Bier für den
Durst und eine Bratwurst für den kleinen und großen Hunger bot.
Ein Schmied kam
hinzu, der die Schuhe der Pferde und anderer Vierbeiner
reparierte. Ein Schuhmacher
kam erst später, denn Pilgern erfolgt traditionell meistens
barfuß. Schon wurde
die Kapelle zu klein, und man baute sie zu einer richtigen Kirche
um. Und schon
ließen sich ein paar Leute hier nieder, die gut drin waren,
Menschen dazu zu
bringen, dass sie das tun, was sie (die Leute) meinen, es sei das
Richtige.
Nein, ich rede nicht von Politikern, die kamen erst nach den
Geistlichen.
Natürlich warf die Versorgung der Pilger Gewinne ab, obwohl das
sicher nicht
gewollt war, aber sei’s drum, das nehmen wir dann in Kauf.
Hoch-Zeiten der Wendelsverehrung war das Pfingstfest (morgen und
übermorgen)
und der 20. Oktober, das ist der Festtag des heiligen Wendelin
(eigentlich der
Tag seines Todes, aber - das ist bei Heiligen so - auch ihr
Geburtstag für das
neues Leben im Himmel). An diesen Tagen war in St. Wendel die
Hölle los (okay,
das Wort paßt jetzt nicht so gut, aber es trifft die Sache schon).
Pilger kamen aus allen Richtungen, und manche nicht zum ersten
Mal.
Und so kam es, daß eine Gruppe von Norden her über Baltersweiler
nach St.
Wendel kommen sollte an einem Sonntagmorgen. Das Bier stand kalt,
die Würstchen
lagen auf dem Grill, aber - sie kamen nicht. Man wartete am
Morgen, man wartete
am Nachmittag. Und als es Abend wurde, sprang einer der Wartenden
auf sein
Pferd und ritt Richtung Baltersweiler, um zu schauen, was los sei.
Er fand sie
nicht auf dem Weg dorthin und nicht in Baltersweiler und nicht im
Ort
hintendran. Erst zwei Orte weiter fande er sie. Er sprang vom
Pferd und sprach
sie an: Wo wollt Ihr hin? St. Wendel liegt in der anderen
Richtung.
„Oh“, sagte ihr Sprecher, „das wissen wir. Wir kamen heute morgen
nach und
durch Baltersweiler und wanderten auf der Straße entlang des
Höhenrückens und
sahen schon den Turm der Kirche aus der Ferne. Wir passierten den
Galgen auf
halben Weg - da müßt Ihr aufpassen, die fallen bald.“
Der Galgen stand auf halber Strecke zwischen Baltersweiler und St.
Wendel links
des Wegs auf einer kleinen Anhöhe. Er bestand nicht aus zwei
Pfosten mit einem
Querbalken, sondern aus 3 Pfosten mit drei Querbalken, angeordnet
in einem
Dreieck. Das war praktisch, dann konnte man immer drei zusammen
aufhängen, da
hing dann einer nicht ganz alleine. Und sie blieben solange
hängen, bis sie von
alleine herunterfielen. Das sah bestimmt nicht gut aus und roch
sicherlich
nicht gut, aber der erzieherische Effekt war phänomenal. Jeder,
der hier
vorbeikam und die Gehenkten sah, konnte sich denken, daß man in
St. Wendel für
Zucht und Ordnung sorgte und auch nicht vor strengeren Maßnahmen
zurückschreckte.
„Wir passierten also den Galgen“, sagte der Sprecher, und schauten
dann nach
links hinunter ins Tal und sahen dort diesen Ort - „Herisweiler“ -
und der sah
so schlimm aus, da dachten wir uns, wenn das so anfängt, wie
schlimm wird’s
dann erst in St. Wendel. Nein, das tun wir uns nicht an. Wir
drehen um und
wanderen nach Trier, dort gibt’s viel mehr Kirchen (das stimmt!)
und das Bier
schmeckt auch besser (das stimmt wohl!).“
Der St. Wendeler ritt sofort nach St. Wendel zurück und berichtete
den dort
Wartenden. Die packte die kalte Wut hinsichtlich ihrer Nachbarn:
„Seit ein paar
hundert Jahren erzählen wir denen aus Herisweiler schon, die
sollen mal ihre
Häuser anstreichen und die Dächer flicken. Was geschieht? Nichts.
Jetzt
reicht’s. Es gibt Leute, mit denen kann man nicht reden. Jetzt
nehmen wir die
Sache selbst in die Hand.“ Sie banden sich ihre Schwerter um,
packten diverses
Handwerkszeug und marschierten nach Herisweiler. Auf halben Weg
schlossen sich
die aus Urweiler an. Sie erreichten die Siedlung und begannen ohne
weitere
Warnung, die Häuser abzureißen. Die aus Herisweiler schauten
verdutzt, dann
stürzten sie sich auf die Eindringlinge. Da bemerkten die St.
Wendeler, daß
hier nichts mehr zu machen war, zogen blank und schnitten denen
aus Herisweiler
kurzerhand die Kehle durch.
Ganz in der Nähe des (mittlerweile ehemaligen) Ortes floß in
großen Winderungen
der Bach vorbei, der damals noch „die Kelse“ hieß, und in einer
solchen Windung
jenseits des Baches lag ein großes Sumpfgebiet, das heute noch der
„Totenpfuhl“
heißt. Dort warf man die Toten in den Bach und sah ihnen zu, wie
sie langsam
Richtung St. Wendel trieben.
Dort hörten die zu Hause gebliebenen den Lärm in der Ferne,
rannten zum Bach
und stellten sich auf die Brücke in der Kelsweilerstraße - das
heißt, die
Brücke gab es damals noch nicht - also stellten sie sich neben die
Brücke,
nein, das geht ja auch nicht - also standen sie am Ufer und
schauten ins Wasser
und riefen: „Oh mein Gott, der Bach ist voller Toter!“ Und seitdem
trägt der Bach
den Namen „Todbach“.
Womit meine Geschichte fast zu Ende ist.
Ich bin in St. Wendel einer der Stadtführer und erzähle diese
Geschichte gern
auf der Nachtwächtertour, wenn wir in einer stillen und dunklen
Ecke mit Blick
auf den Todbach stehen. Wenn sie dann zu Ende ist, schaut mich der
eine oder
andere der Besucher an und fragt: „Stimmt das alles wirklich?“
Worauf ich mit
dem rechten Auge zwinkere und die Besucher anfangen, breit zu
grinsen. „Moment,
Moment“, sage ich dann, „ganz gelogen ist sie nicht. Es stimmt
alles -
Herisweiler, Wallfahrt, Galgen - okay, alles bis auf das Massaker,
das hat
nicht stattgefunden.
Aber mal ehrlich: wenn ich will, daß die Leute so lange zuhören,
muß ich etwas
bieten, damit sie sich gut unterhalten fühlen? Haben Sie sich
gelangweilt in
den letzten 10 Minuten?“
Da grinsen sie noch viel mehr.
St. Wendel am Tag vor Pfingsten des Jahres 2021, an dem die letzte
Stadtführung
in St. Wendel schon sieben Monate her ist.
Roland Geiger
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