Guten Abend,
das Buch, das nachstehend besprochen wird, wird sich kaum von jemand
von Ihnen kaufen - und nach der Rezension schon zweimal nicht.
Aber ich finde allein den ersten Abschnitt der Rezension
interessant. Weshalb ich den ersten Satz als Betreff dieser Email
wählte.
Roland geiger
A. Astapova u.a. (Hrsg.): Conspiracy Theories
in Eastern
Europe
Conspiracy Theories in Eastern Europe. Tropes and Trends
Herausgeber Astapova, Anastasiya; Colăcel, Onoriu; Pintilescu,
Corneliu;
Scheibner, Tamás
Erschienen London 2021: Routledge
Anzahl Seiten XVI, 394 S.
Preis £ 120.00
ISBN 9780367344771
Inhalt meinclio.clio-online.de/uploads/media/book/toc_book-59640.pdf
Rezensiert für H-Soz-Kult von Fabian Thunemann, Institut für
Geschichtswissenschaften,
Humboldt-Universität zu Berlin
Erzählungen über Verschwörungen bleiben solange Theorien, bis sie
mit Empirie
angereichert und zur Geschichte erklärt werden können. Über eben
diese Schwelle
tobt seit jeher der Meinungskampf. Und gerade weil sich an ihr
auch die
Konturen wissenschaftlicher Erkenntnis eintrüben, sind Deutungen
von
Verschwörungen nicht einfach nur gewöhnliche Geschichten, sondern
(im besten
Fall) stets auch epistemologische Reflexionen. Einschlägig
berichtet etwa Niccolò
Machiavelli in seinen Discorsi von dieser Doppelbödigkeit. Als
wirkmächtiger
allerdings haben sich die Ausführungen von Karl Popper erwiesen,
mit denen er
den verbreiteten Kurzschluss, in den von Ereignissen Begünstigten
auch ihre
Verursacher zu sehen, als „Verschwörungstheorie der Gesellschaft“
klassifizierte.[1] So plausibel Poppers
Feststellung auf den
ersten Blick erscheinen mag, so allgemein bleibt sie bei näherer
Betrachtung.
Denn sie setzt eine klare Grenze von Wahrheit und Lüge voraus, die
sich im
Falle von Verschwörungen und den sie begleitenden Theorien gerade
nicht so
leicht ausmachen lässt. Obgleich Ränkespiele, Palastrevolutionen,
Attentate, im
weitesten Sinne also Verschwörungen, wesentlicher Schmierstoff der
Geschichte
sind, tut sich die Geschichtswissenschaft mit diesem Thema
verständlicherweise
schwer, rüttelt es doch an den Grundfesten ihrer methodischen
Kompetenz.
Der hier zu besprechende Sammelband gibt gleich in der Einleitung
vor, all
diese Fallstricke gut zu kennen, nur um dann doch mit vielen
Beiträgen in die
Falle zu tappen. In dem Band werden geradezu klassische Fälle, wie
etwa die
Reaktorkatastrophe von Tschernobyl oder das anhaltende Gerede über
eine
angebliche Soros-Verschwörung, aufs Neue beleuchtet und durch
Beiträge zu
weniger bekannten Geschichten ergänzt, etwa über den
vermeintlichen Einfluss
der Freimaurer im post-sowjetischen Bulgarien oder zur Auswirkung
stalinistischer Verschwörungsszenarien auf die kommunistischen
Parteien in
Frankreich und Italien. Zusammengehalten werden die thematisch
sehr weit
gestreuten Ansätze, so verspricht es die Einleitung, vom Anspruch,
die
Forschung über Verschwörungen und Verschwörungsdenken durch den
Blick in den
europäischen Osten endlich zu ergänzen.
Wie diese Ergänzung zu verstehen ist, belegt etwa der Beitrag von
Anastasiya
Astapova über Verschwörungstheorien, die anlässlich der
Katastrophe von
Tschernobyl 1986 grassierten. Ihr Beitrag macht deutlich, dass –
wohl gerade
aufgrund der spärlichen Kenntnis einiger grober Fakten – die
Explosion des
vierten Reaktor-Blocks unverzüglich Spekulationen in Gang setzte
und alsbald
unterschiedlichste, ja konträre Theorien kursierten. Während sich
die einen von
CIA-Sabotage überzeugt zeigten, glaubten andere an eine
Geheimoperation des
KGB, der den Effekt von Atomstrahlung am lebenden Objekt zu
überprüfen
gedachte. Andere Theorien spielten mit nationalistischen
Untertönen und
knüpften an die wechselvolle Geschichte Weißrusslands oder der
Ukraine an.
Astapova stellt all diese Interpretationen vor und vermag ihre
scheinbar
plausible Binnenlogik herauszustreichen. Gleichwohl bleibt am Ende
offen, was
daraus für die historische Verortung solchen Verschwörungsdenkens
folgt und an
welchem Punkt die Rekonstruktion von Verschwörungstheorien zu
Wissenschaft
wird.
Ähnlich interessant, am Ende aber ebenfalls unentschieden, bleibt
der Beitrag
von Nebojša Blanuša über die Interpretationen, die sich rund um
die Erzählungen
über eine vermeintliche und tatsächliche Auflösung Jugoslawiens
verbreitet
haben und die nach wie vor im Umlauf sind. Blanuša zeichnet
entscheidende
Wegmarken der neueren jugoslawischen Geschichte nach – vom Zweiten
Weltkrieg
über den Tod Josip Broz Titos bis hin zum Zerfall Jugoslawiens
seit den
1990er-Jahren –, um dann zu der etwas schlichten Einsicht zu
kommen, dass „die
Verschwörungstheorien hinsichtlich des Zerfalls Jugoslawiens von
historischen
Erfahrungen und der kollektiven Wahrnehmung innerer und äußerer
Bedrohungen
geprägt“ worden seien (S. 164). Auch hier bleibt also unklar,
welcher Beitrag
damit für übergeordnete Fragen erbracht ist. Entsprechendes lässt
sich über den
Beitrag von Olga Baysha zu den Berichten über die Tragödie von
Odessa im Zuge
der Ukraine-Krise des Jahres 2014 sagen, als sich Befürworter und
Gegner des
Euromaidan Straßenschlachten lieferten, die schließlich 48
Menschen das Leben
kosteten.
Auch die weiteren Aufsätze sind für sich genommen nicht
uninteressant, etwa der
Beitrag von Corneliu Pintilescu und Attila Kustán Magyari über die
vielfältigen
Verschwörungsszenarien, die in Ungarn und Rumänien rund um die
Person Soros
gesponnen werden. Allerdings fällt auf, dass die Autoren vielfach
auf die mit
dem Thema geradezu notwendigerweise verknüpfte schiefe Bahn
geraten und in
letzter Konsequenz dichotomisch argumentieren – hier die
historische Tatsache,
dort die Verschwörungstheorie – und mögliche Verbindungslinien
oder auch
gemeinsame situative Rahmenbedingungen außer Acht lassen.
Dass aber schon die Frage nach den historischen Tatsachen eine
veritable
geschichtstheoretische Herausforderung darstellt, bleibt dabei
unberücksichtigt. Dieses zunächst einmal ziemlich banale Problem
entfaltet
allerdings seine volle Schlagkraft, sobald es um
Verschwörungstheorien und den
Versuch geht, sich ihnen wissenschaftlich anzunähern. Denn genau
auf dieser
durch die epistemologische Unschärfe wissenschaftlicher Erkenntnis
und
Interpretation bedingten Unsicherheit können Verschwörungstheorien
erst
gedeihen. Deshalb ist es für diejenigen, die sich mit ihnen
wissenschaftlich
auseinandersetzen, gar nicht so leicht, sie einfach per se ins
Reich der
Phantasterei zu verweisen. Schließlich lässt sich die Prüfung der
Fakten in
Fällen, an denen sich Verschwörungstheorien zumeist entzünden,
naturgemäß nicht
einfach im Spaziergang bewerkstelligen.
Dass dieser Umstand in dem vorliegenden Band leider nicht
ausreichend
reflektiert wird, ist umso bedauerlicher, als er mit einem Beitrag
von M.R.X.
Dentith endet, einem Philosophen, der seit vielen Jahren zu dem
Thema
Verschwörungstheorien arbeitet und all diese Stolpersteine
analytisch sauber
herauspräpariert. Insgesamt ist der Band also nur für diejenigen
von Interesse,
die einen ersten Eindruck der Vielfalt von Verschwörungstheorien
im östlichen
Europa gewinnen möchten.
Anmerkung:
[1] Karl R. Popper, Die offene
Gesellschaft und
ihre Feinde. Band 2: Falsche Propheten: Hegel, Marx und ihre
Folgen, München 1980,
S. 181.
Zitation
Fabian Thunemann: Rezension zu: Astapova, Anastasiya; Colăcel,
Onoriu;
Pintilescu, Corneliu; Scheibner, Tamás (Hrsg.): Conspiracy
Theories in Eastern
Europe. Tropes and Trends. London 2021. ISBN 9780367344771, In: H-Soz-Kult,
18.05.2021, <www.hsozkult.de/publicationreview/id/reb-94188>.
|