J. van Norden u.a. (Hrsg.):
Geschichtsdidaktische
Grundbegriffe
Geschichtsdidaktische Grundbegriffe. Ein Bilderbuch für Studium,
Lehre und
Beruf
Herausgeber van Norden, Jörg; Must, Thomas; Deile, Lars; Riedel,
Peter; Krause,
Susan; Schürenberg, Wanda
Erschienen Hannover 2020: Kallmeyer
Anzahl Seiten 157 S.
Preis € 24,95
ISBN 978-3-7727-1432-0
Rezensiert für H-Soz-Kult von Olaf Hartung, Historisches Institut,
Universität
Paderborn
Wat is‘nen Begriff? Da stelle ma uns mal janz dumm und sagen: En
Begriff iss
nen Bedeutungsinhalt einer Bezeichnung oder Vorstellung. Doch
woher kommt die
Bedeutung? Sicherlich liegt sie nicht im Ausdruck selbst
verborgen; eher ist
sie eine Folge des regelmäßigen Begriffsgebrauchs in spezifischen
Sprechsituationen. Begriffsbedeutungen sind keine Substanz,
sondern etwas Performatives.
Sie hängen vom Gebrauchskontext ab und wandeln sich. In den
Wissenschaften
erfüllen Begriffe fundamentale Funktionen: Sie sind Werkzeuge des
wissenschaftlichen Denkens und konstituieren wissenschaftliche
Aussagen. Dies
gilt besonders für die Grundbegriffe einer Disziplin, die höchsten
Ansprüchen
in Bezug auf Logik, Präzision und Klarheit genügen sollen.
Merkwürdigerweise
erfreuten Georg Wilhelm Friedrich Hegel jedoch gerade solche
Begriffe, „welche
eine spekulative Bedeutung an ihnen selbst haben“.[1] Ähnlich dachte auch
Wilhelm von Humboldt,
den vor allem die in der Idealität eines Begriffs liegende
„Unbestimmtheit des
Gegenstandes“ interessierte.[2] Das Ausgesprochene könne –
so Humboldt –
das Gemeinte niemals auf einen endgültigen Begriff bringen, dafür
aber das in
ihm noch Unausgesprochene formgebend vorbereiten. Das Denken in
Begriffen
steigert das Denkvermögen paradoxerweise nicht aufgrund der
semantischen
Exaktheit der Begriffe, sondern wegen der großen Bandbreite des
sprachlichen
Ausdrucksvermögens.
Dass disziplinäre Begriffsarbeit etwas Schöpferisches und Aktives
ist, wissen
die Herausgeber:innen der „Geschichtsdidaktische[n]
Grundbegriffe“. Nachhaltige
Wissensproduktion und konzeptuelles Fachlernen erfordern die
Vernetzung von
Fachbegriffen in verschiedenen Kontexten. Für das Verständnis
disziplinärer
„Gegenstände“ erfüllen Fachtermini nicht nur orientierende,
sondern auch
konstituierende bzw. determinierende Funktionen. Deshalb sind sie
nicht selten
auch strittig und umkämpft. Im „Vorweg“ (S. 6) des als „Bilderbuch
für Studium,
Lehre und Beruf“ untertitelten Kompendiums heißt es dazu dann
auch, dass
Expert:innen oft „über die genaue Bedeutung“ der Begriffe
streiten, was
Studierenden und Lehrkräften häufig fremd bliebe. Ziel des Wörter-
und
Bilderbuchs „in einem“ ist daher, die Leser:innen zum Nachdenken
anzuregen,
wobei die Bilder nicht bloß illustrieren, sondern einen
visuell-ästhetischen
Zugang zu den assoziierten Bedeutungen bieten sollen, indem Text
und Bild
miteinander und mit den Leser:innen in Dialog treten. Dabei
auftretende
„Unschärfen“ seien „kalkuliert und sollen zur Einmischung
ermutigen“ (ebd.).
Das multimodale Text-Bild-Format ist für die geschichtsdidaktische
Begriffsarbeit innovativ. Es fußt auf der begründeten Einsicht,
dass Bedeutung
etwas Relationales ist, das Kontext benötigt. Zu fragen bleibt
jedoch, ob
Bilder im Allgemeinen und die ausgewählten Bilder im Speziellen
den zur Klärung
der Grundbegriffe angemessenen Kontext bieten. Die
Herausgeber:innen selbst
trauen ihren Bildern offenbar keine ausreichenden Fähigkeiten zur
Kontextualisierung zu. Andernfalls hätten sie diese nicht mit
Kurztexten
(„Ansichtssachen“) ergänzt, um „die Aufmerksamkeit für die Details
der Bilder
zu schärfen“ (ebd.). Auffällig ist jedenfalls, dass die
erläuternden Kurztexte
zu den textbegleitenden Bildern häufig in Frageform und unter
Verwendung
graduierender Modalpartikel im Modus des Konjunktivischen gehalten
sind. So
heißt es etwa bei der Analyse einer Fotoquelle, die eine zerstörte
Industrieanlage zeigt: „Warum? War es Krieg, ein Anschlag? Oder
lediglich eine
Armee von Abrissbaggern? […] Ergibt das alles einen Sinn? Wer soll
hier
aufräumen? Wie soll man das sortieren?“ (S. 10) Quellen- und
Begriffsarbeit
wird hier als diskursiv-hermeneutischer Aushandlungsprozess
greifbar. Im Band
finden sich aber auch „Ansichtssachen“, die genau bestimmen
wollen, was ein
Bild verdeutlichen soll (zum Beispiel woher Fremdheitserfahrungen
herrühren, S.
8) oder welche Deutungen ein Bild nicht zulässt (Beispielsweise
zeigt ein
Stalinplakat nicht, dass das sowjetische Staatsoberhaupt „für ein
repressives,
grausames Regime stand“, S. 104). Die erhoffte epistemische
Funktion der Bilder
stößt anscheinend an Grenzen. Nicht nur stehen sie in einem
vieldeutigen
Bedeutungsverhältnis zum Begriff, darüber hinaus enthalten sie
auch noch
vielfache und überaus komplexe Referenzen, deren angemessene
Deutung wiederum
erhebliches Kontextwissen voraussetzt.
Wichtigstes Element des Kompendiums sind jedoch nicht die Bilder
und
„Ansichtssachen“, sondern die jeweils eine Seite umfassenden
Erklärtexte zu den
„Grundbegriffen“. Deren Funktion ist die problemorientierte
Erörterung der
jeweiligen Begriffsbedeutungen. Als disziplinäre Kondensation
sprachlicher
Konventionalisierungen hat eine solche Zusammenstellung aber auch
eine
kanonisierende Wirkung, wenngleich die Herausgeber:innen betonen,
keinen „neuen
Kanon von Grundbegriffen festlegen“ zu wollen (S. 6). Das mit
Hardcover,
Hochglanzbildern und alphabetischem Karteiregister ausgestattete
Buch
vermittelt dennoch den Eindruck, dass die ausgewählten Begriffe
für den
geschichtsdidaktischen Diskurs besonders wichtig seien. Vergleicht
man die
getroffene Auswahl mit dem 2006 erschienenen „Wörterbuch
Geschichtsdidaktik“[3], fällt auf, dass der
Umfang mit 65
gegenüber 157 Einträgen deutlich geringer ausfällt. Dies ist nicht
zuletzt der
Ausstattung des Buches mit Farbbildern geschuldet, die immerhin 65
Seiten
Buchumfang ausmachen. Gleichwohl enthalten die „Grundbegriffe“
auch Einträge,
die das „Wörterbuch“ nicht als eigene Lemmata erläutert. Hierzu
zählen unter
anderem die Begriffe „Alterität“, „Class“, „Emanzipation“,
„Holocaust-Education“, „Inklusion“, „Kontrafaktische Geschichte“,
„Leib/Leiblichkeit“ und „Race“. Begriffe, auf deren Erläuterung
die
„Grundbegriffe“ gegenüber dem Wörterbuch verzichten, sind
demgegenüber unter
anderem „Bildquelle“, „Curriculum“, „Dekonstruktion“, „Ereignis“,
„Heuristik“,
„Kontinuität“, „Living History“, „Oral History“ und
„Projektarbeit“. Der
gesamtgesellschaftliche Trend der sogenannten
identitätspolitischen Diskurse
scheint auch an der Geschichtsdidaktik nicht spurlos
vorüberzugehen.
Der diskursive Ansatz der „Grundbegriffe“ erscheint
vielversprechend. Kann doch
die Beschäftigung mit Kontroversen die Leser:innen zu eigenen
Reflexionen ermuntern.
Leider – und das ist hier der Hauptkritikpunkt – vermeiden manche
Einträge,
diesen selbstgesetzten Anspruch zu erfüllen. Den Rezensenten
wundert
jedenfalls, dass einige Begriffserläuterungen die sie betreffenden
Streitfragen
außeracht lassen. So bleibt den Leser:innen des Lemmas
„Geschichtskultur“ (S.
50) verborgen, dass Geschichtsdidaktiker:innen darüber streiten,
ob der Leitbegriff
nur aktuelle Phänomene umfasst oder geschichtskulturelle Praktiken
und
Manifestationen auch historisiert werden sollten. Die Ausführungen
zum Begriff
„Narration“ (S. 100) erklären zwar, dass in Erzählungen
zeitdifferente
Ereignisse miteinander verbunden werden, lassen jedoch den Einwand
beiseite,
dass es nicht die Ereignisse selbst sind, die beim Erzählen
miteinander verbunden
werden, sondern Aussagen, die auf Ereignisse verweisen. Ein
sprachbewusstes
Geschichtsverständnis sollte diesen Einwand zumindest zur
Diskussion stellen.
Diskussionswürdig dürfte auch die Frage sein, inwieweit sich das
Verb
„erzählen“ als Aufgabenoperator eignet, um Schüler:innen zum
historischen
Erzählen zu ermuntern. Die strittige Frage findet jedoch weder im
Eintrag zur
„Narration“ noch in den Erläuterungen zu den „Operatoren“ (S. 102)
Erwähnung.
Erhöhtes Konfliktpotenzial bergen auch die Begriffe „Identität“
(S. 72) und
„Race“ (S. 112). Hier ist den Autoren zugute zu halten, dass sie
die
Diskurskontexte in aller gebotenen Kürze kenntnisreich besprechen
und sensibel
problematisieren. Wünschenswert wären aber auch hier Hinweise auf
strittige
Fragen, wie etwa nach dem diskriminierenden Konstruktcharakter der
Begriffe.
Der Hinweis, dass „Critical Whiteness“ nicht nur Schwarzes
„Empowerment“
fordere, sondern „zur (Selbst-)Reflexion privilegierter weißer
Positionen im
sozialen Gefüge“ anrege (ebd.), ist sicherlich berechtigt. Dennoch
ließe sich
diskutieren, inwieweit People of Colour einen weißen Zuspruch
überhaupt
benötigen, um sich emanzipieren zu können. Diskussionen
hervorrufen könnte auch
das dem Begriff „Race“ beigefügte „Nachdenk“-Bild, dass zwei mit
bunten Hemden
und roter Gesichtsfarbe verkleidete Kinder zeigt. Die Absicht,
damit auf die
Gefahr geschichtskultureller Stereotypisierungen aufmerksam zu
machen, ist
begrüßenswert. Allerdings wäre hier auch ein Hinweis auf die vor
allem in den
Vereinigten Staaten geführten Diskurse angebracht, die das
sogenannte
Blackfacing als gängige rassistische Handlung kritisieren.
Zusammenfassend sind neben der hochwertigen Ausstattung des Buches
vor allem
die allenthalben spürbare diskursive Grundhaltung sowie der
leserfreundliche
Duktus der Erklärtexte zu loben. Angenehm ist auch, dass die
Autor:innen darauf
verzichten, ihnen nicht ins Konzept passende Begriffe pauschal
abzuqualifizieren. Schade ist hingegen, dass mancher interessante
Streitpunkt
der Geschichtsdidaktik nicht expliziert wird. Vielleicht hätten
die sechs
Herausgeber:innen und Verfasser:innen noch weitere Autor:innen zur
Mitarbeit
einladen können, die aufgrund ihrer einschlägigen Forschungen über
besondere
Kenntnisse zu einzelnen Begriffsdiskursen verfügen. Die
konzeptionelle
Grundidee, die Lemmata mit „Nachdenk“-Bildern anzureichern, bleibt
in
funktionaler Hinsicht diskussionswürdig. Es bleibt zu hoffen, dass
sich der
Wunsch der Herausgeber:innen erfüllt und ihre
Text-Bild-Kombinationen viele
Leser:innen zum kritischen Nachdenken anregen.
Anmerkungen:
[1] Georg Wilhelm Friedrich
Hegel, Werke in 20
Bänden. Band 5: Wissenschaft der Logik. Erster Band: Die objektive
Logik
(1812/13), Frankfurt am Main 1986, S. 113.
[2] Wilhelm von Humboldt, Latium
und Hellas, in:
Andreas Flitner / Klaus Giel (Hrsg.), Werke in fünf Bänden. Band
2: Schriften
zur Altertumskunde und Ästhetik – Die Vasken, 3. Aufl., Darmstadt
1979, S. 62f.
[3] Ulrich Mayer u. a. (Hrsg.),
Wörterbuch
Geschichtsdidaktik, Schwalbach/Taunus 2006.
Zitation
Olaf Hartung: Rezension zu: van Norden, Jörg; Must, Thomas; Deile,
Lars;
Riedel, Peter; Krause, Susan; Schürenberg, Wanda (Hrsg.):
Geschichtsdidaktische
Grundbegriffe. Ein Bilderbuch für Studium, Lehre und Beruf.
Hannover 2020.
ISBN 978-3-7727-1432-0, In: H-Soz-Kult,
23.04.2021, <www.hsozkult.de/publicationreview/id/reb-94711>.
|