Nonn,
Christoph: 12 Tage und ein halbes Jahrhundert. Eine Geschichte
des
deutschen Kaiserreiches 1871–1918. München 2020. ISBN 978-3-406-75569-9
Arand, Tobias: 1870/71. Die Geschichte des
Deutsch-Französischen Krieges
erzählt in Einzelschicksalen. Hamburg 2018. ISBN 978-3-95510-167-1
Jahr, Christoph: Blut und Eisen. Wie Preußen Deutschland
erzwang, 1864–1871.
München 2020. ISBN 978-3-406-75542-2
Jäger, Jens: Das vernetzte Kaiserreich. Die Anfänge von
Modernisierung und
Globalisierung in Deutschland. Stuttgart 2020. ISBN 978-3-15-011304-2
Rezensiert für H-Soz-Kult von Thomas Stamm-Kuhlmann,
Historisches Institut,
Universität Greifswald
Bisherige Handbücher über die Geschichte des Kaiserreichs, sagt
Christoph Nonn,
„erinnern an ein Sandwich: Sie bestehen aus zwei Hälften Politik
mit
sozialhistorischer Füllung in der Mitte und einem Klecks
Geschlechtergeschichte
als Zugabe obendrauf“ (S. 10). Deswegen geht er anders vor.
Anhand von zwölf
bedeutungsvollen Daten sollen die verschiedensten Aspekte des
Kaiserreichs
beleuchtet werden – innenpolitische, großmachtpolitische, eine
Krise der
monarchischen Regierungsform, schließlich Weltkrieg und
Revolution.
Einige Beispiele: Unweigerlich beginnt Nonn mit der
Reichsgründung. Die
erinnerungspolitische Wirkung, die durch Anton von Werners
Gemälde der
Kaiserproklamation bezweckt wurde, wird durch Werners eigene
Worte unterlaufen.
Nonn vertritt die Ansicht, dass das Kaiserreich als ein
„Fürstenbund“
entstanden sei, dessen Reichstag aber in den 1870er-Jahren
zusehends an Macht
gewonnen habe. Im selben Jahrzehnt verloren die Liberalen ihre
absolute
Mehrheit im Reichstag für immer und ihr Unverständnis gegenüber
der Belebung
der Volksreligiosität ließ sie in „abgehobenem Dünkel“ (S. 95)
gegenüber der
einfachen katholischen Bevölkerung in Westdeutschland erstarren.
So habe
„Fanatismus“ nicht nur die Anhänger der in den 1870er-Jahren
auftretenden
Marienerscheinungen, sondern auch deren liberale Gegner
ausgezeichnet. Für Nonn
ist nicht Säkularisierung, sondern Individualisierung der
Religion ein
„unbestrittenes Element der Moderne“ (S. 108).
Die sozialdemokratischen Politiker tauschten ihr Selbstbild als
Vertretung der
„Produzenten“ nach dem Ende des Sozialistengesetzes dagegen ein,
dass sie die
Arbeiterschaft auch wesentlich als „Konsumenten“ betrachteten.
Hiermit drangen
die Gesichtspunkte der Arbeiterfrauen durch, die das
Haushaltsgeld verwalteten.
Dass Männerpolitik wesentlich Bierkneipenpolitik war, ließ viele
Arbeiterfrauen
das politische Engagement ihrer Männer als Risiko für den
Familienunterhalt
ansehen. Dennoch strömten sie nach der Jahrhundertwende
massenhaft selbst in
die Partei. Nonn, der hier auf eigene Forschungen zurückgreift,
betont, dass
die Verbraucherpolitik die Sozialdemokratische Partei
Deutschlands (SPD) kurz
vor dem Weltkrieg zu einer Volkspartei machte, die nur unter den
Landwirten,
als Erzeugern, keine Punkte sammeln konnte. Im europäischen
Vergleich sei,
entgegen der lange Zeit dominierenden Sicht, der bürokratische
Ursprung und
Charakter der deutschen Sozialversicherung kein Einzelfall. Man
müsse aber auch
mehr als bisher die zivilgesellschaftlichen und
genossenschaftlichen Elemente
dieses Systems beachten.
Nonns Buch bietet auch eine den ganzen Zeitraum umspannende
Geschichte der
deutschen Kolonialherrschaft in Südwestafrika. Die vom
Militärbefehlshaber von
Trotha dort ab 1904 verfolgten Maßnahmen nennt er Völkermord,
lehnt jedoch eine
kausale Verbindung zum nationalsozialistischen Vernichtungskrieg
in Osteuropa
ab. Die Geschichte des Tirpitz-Plans wird zur Gelegenheit, die
Kanzlerwechsel
von Hohenlohe zu Bülow zu thematisieren. Da die Flottenrüstung
auch
Wahlkampfthema bei Reichstagswahlen war, lassen sich hier die
wechselnden
Mehrheiten charakterisieren, mit denen die Reichskanzler ihre
Gesetzesvorlagen
durchbrachten. Die erfolgreichste Flottenpropaganda aber sei
nicht von Tirpitz
ausgegangen, sondern spontan aus der Gesellschaft gekommen. Als
Symbol
technischer Modernität war nämlich die Schlachtflotte der Stolz
des deutschen
Bürgertums.
Zur selben Zeit aber blühte in Gestalt antisemitischer
Ritualmordbeschuldigungen der finsterste Ungeist, wie Nonn an
einem
Kriminalfall aus Konitz in Westpreußen zeigt. Zur
Jahrhundertwende musste hier
der Belagerungszustand verhängt werden, um die Synagoge vor dem
Mob zu
schützen. Nonn weist darauf hin, dass dieser von vielen
Zeitgenossen als Relikt
einer dunklen Vergangenheit eingeschätzte Antisemitismus in
einer Region
wucherte, die längst von einer durchgreifenden Modernisierung
erreicht worden
war. Eine Fehleinschätzung anderer Art unterlief den Kritikern
des „preußischen
Militarismus“ anlässlich des Streiches des Hauptmanns von
Köpenick. Der
angebliche Untertanengeist und Kadavergehorsam, der den Opfern
dieser
Hochstapelei unterstellt wurde, könne nicht die in der
preußischen Gesellschaft
vorherrschende Haltung gewesen sein, meint Nonn. Andernfalls sei
die Welle von
Spott, die sich 1906 gerade in Berlin über die Betrogenen
ergoss, nicht zu
erklären. Der Militarismus sei daher immer der „Militarismus der
anderen“ (S.
445).
Das Ende des Kaiserreiches lässt Nonn seine Leser nicht in
Berlin, sondern in
München erleben. In der Person Felix Fechenbachs, der die
Revolution in der
bayerischen Hauptstadt organisierte und 1922 wegen Landesverrats
vor Gericht
gestellt wurde, kann er Kaiserreich und Weimarer Republik
miteinander
verschränken. Denn Fechenbach hatte 1919 ein Telegramm des
bayerischen
Gesandten beim Vatikan aus der Julikrise 1914 bekannt werden
lassen, das den
Anteil des Deutschen Reiches an der Kriegsschuld nachweisen
sollte, und sich
damit bei Nationalisten und Reaktionären verhasst gemacht. Die
Hypothek des
Kaiserreichs für die Weimarer Republik sieht Nonn jedoch nicht
als sehr
belastend an, für ihr unrühmliches Ende gibt er besonders der
Weltwirtschaftskrise die Schuld. Das Kaiserreich hingegen habe
zwar das moderne
Deutschland hervorgebracht, daraus aber „konnte im weiteren
Verlauf der
Geschichte sowohl eine ‚helle‘ wie eine ‚dunkle‘ Moderne werden“
(S. 614). Das
Buch endet mit der Erschießung von Felix Fechenbach durch
„Sturmabteilung“ (SA)
und „Schutzstaffel“ (SS) am 7. August 1933.
Alles in allem bildet das Buch, obwohl es von einzelnen
biografisch motivierten
Kalendertagen ausgeht, die Epoche doch recht vollständig ab. Was
man am ehesten
vermissen dürfte, sind Wissenschaft und Kultur.
Auch Tobias Arand eröffnet sein Buch mit Anton von Werner und
kontrastiert
dessen Erinnerungen mit dem prunkvollen Bild, das sich durch
unzählige
Reproduktionen im kulturellen Gedächtnis verankert hat. Arands
Werk „wendet
sich weniger an den professionellen Geschichtswissenschaftler,
sondern an jeden
historisch Interessierten“ (S. 20). Auf 55 Seiten wird zunächst
die politische
Geschichte Deutschlands seit der Französischen Revolution sowie
des Second
Empire erzählt, bis mit der spanischen Thronkandidatur des
Hohenzollernprinzen die Vorgeschichte des Krieges anfängt. Die
angekündigten
Einzelschicksale werden naturgemäß erst nach Kriegsbeginn
eingeflochten –
insgesamt sind es 40 Personen, von Bismarck und Marschall
Bazaine bis zu
Kriegsfreiwilligen, einem Pfarrer, einem Arzt und der
schwäbischen Diakonissin
Julie von Wöllwarth, bei der „alle menschlichen Gefühle […] von
Begriffen wie
‚Pflicht‘ oder ‚christliche Ergebung‘ überlagert“ sind (S. 498).
Die Quellen
waren sämtlich bereits einmal gedruckt.
Die Feldzugspläne lässt Arand durch die Artikel von Friedrich
Engels für die Pall
Mall Gazette kommentieren. Außerdem greift er auf den
bewährten Theodor
Fontane zurück. In den Augenzeugenberichten fällt die schlechte
logistische
Kriegsvorbereitung der Franzosen auf. Ein Überwiegen der
deutschen Perspektive
ist nicht zu leugnen, freilich sieht sich Arand hier auch vor
der Aufgabe, die
Vielfalt der deutschen Verhältnisse mit den verschiedenen
Hauptstädten
einzufangen. Die Schlachten werden aus der Mikroperspektive
einzelner
Teilnehmer rekonstruiert. Arand steht auf der Seite der kleinen
Leute in ihrem
Leiden und lässt erkennen, dass er den Sinn dieses Krieges
bezweifelt. Die
„Neigung der deutschen Truppen, ohne Rücksicht auf Verluste
vorzugehen“ (S.
305), hebt er hervor und zitiert Bismarck: „Es ist die
Verschwendung der besten
Soldaten Europas“ (S. 310). Die Volkskriegsphase nach der
Schlacht von Sedan
kommentiert Arand so: „Die deutsch-französischen
Gewalterfahrungen der Jahre
1870 und 1871 sowie der folgenden Jahre der Okkupation sind ein
in der
Geschichtswissenschaft bis heute für das Verständnis der
Katastrophen der
beiden Weltkriege häufig übersehenes Phänomen“ (S. 370). In der
Tat ist es
heilsam, vor Augen geführt zu bekommen, welche Grausamkeit mit
diesem
„europäischen Normalkrieg“ verbunden gewesen ist. Als Resultat
der in drei
Kriegen durchgesetzten nationalen Einigung sieht Arand im
Kaiserreich den
Militarismus blühen. Seiner Ansicht nach sei der Hauptmann von
Köpenick „nur in
einem uniformfixierten Gemeinwesen wie dem Deutschen Reich mit
seinen Millionen
von ‚Diederich Heßlings‘ möglich“ gewesen (S. 653). Doch weist
Arand darauf
hin, dass von diesem Aufschwung des Militarismus das Frankreich
der Dritten
Republik ebenfalls heimgesucht worden sei.
Seinen wenig originellen Titel „Blut und Eisen“ kontrastiert
Christoph Jahr mit
dem Bonmot von John Maynard Keynes, dass Preußen eher auf Kohle
und Eisen denn
auf Blut und Eisen aufgebaut sei. Nachdem er den Verlauf der
Auseinandersetzungen um Schleswig-Holstein von 1848 bis 1865
skizziert hat,
schildert er denn auch die Dynamik der ökonomischen und
finanziellen
Entwicklung, die seit der Gründung des Zollvereins zugunsten
Preußens wirkte,
bevor er sich den Einzelheiten des Showdowns 1866 zwischen
Preußen und
Österreich zuwendet. Die Kriegsbriefe Hans von Kretschmanns, die
dessen
Tochter, die Sozialdemokratin Lily Braun, veröffentlicht hat,
dienen Jahr
ebenso als Quelle wie Arand, der den Namen Kretschman konsequent
mit einem n
buchstabiert, wie in der Briefausgabe geschehen. Dass die
Schlacht von
Königgrätz mit 435.000 beteiligten Soldaten die bis dahin größte
Schlacht der
Geschichte gewesen sei, wie Jahr meint, darf man angesichts der
für Leipzig
1813 geschätzten halben Million Teilnehmer bezweifeln.
Dass Preußen den überwiegenden Teil der Liberalen auf seiner
Seite hatte oder
sie spätestens mit seinem militärischen Sieg auf seine Seite
ziehen konnte,
macht Jahr anhand ausgewählter Zitate deutlich und zieht das
Fazit: „Der
protestantisch geprägte, freihändlerisch gesonnene und auf die
Säkularisierung
der Gesellschaft drängende Liberalismus orientierte sich derart
stark an
Preußen, dass er mit diesem gleichgesetzt werden konnte“ (S.
169). Den Namen
des bei Jahr „namentlich nicht bekannten Geschäftsmann[s] aus
Thüringen“ (S.
201), der auf dem Schlachtfeld bei Wörth vergeblich nach seinen
Söhnen gesucht
hat und sich schließlich unter einen Walnussbaum setzte, um zu
weinen, jedoch
die Söhne nach dem Krieg wiederfand, kann man bei Arand lesen.
Es handelte sich
um Johann Zeitz aus Meiningen, dessen Erinnerungen von Theodor
Gümbel 1908 in
München publiziert worden sind. Bei Jahr wird auch der gegen die
nordafrikanischen Soldaten in französischen Diensten gerichtete
Rassismus eines
deutschen Feldgeistlichen erwähnt, der die „verkehrte Humanität“
der deutschen
Frauen beklagt (S. 239). Die in Versailles abgeschlossenen
Beitrittsverträge
der süddeutschen Staaten regelten die Reservatrechte der vier
Länder, sie
werden von Jahr kurz zusammengefasst. Weder diese Verträge noch
die in die
Verfassung des Deutschen Reiches überführte Verfassung des
Norddeutschen Bundes
nahmen den Gliedstaaten das Recht, Gesandtschaften im Ausland zu
unterhalten –
nur infolge dieses Rechts konnte jenes Dokument entstehen,
dessen Publikation
Felix Fechenbach ins Zuchthaus bringen sollte.
Wer die politischen Abläufe zwischen 1864 und 1871 verlässlich
nachlesen will,
muss zu Jahr greifen, wer sich mehr in die Stimmungen der
Kriegszeit einfühlen
möchte, sollte Arand lesen. Insbesondere die Belagerung von
Paris, Gambettas
Volkskrieg und die Tage der Commune kommen bei Jahr, der sich
der
Einigungsgeschichte widmet, zu kurz. Doch hebt er zu Recht
hervor, dass mit dem
Sturz des Second Empire und der dauerhaften Etablierung
der Republik
damals auch das moderne Frankreich geschaffen wurde. In einem
ausführlichen
Kapitel reflektiert Jahr über „Trauer und Gedenken“, was
insbesondere den
Denkmalen gilt, deren Standorte, wie Düppel, mehrfach den
Besitzer gewechselt
haben. Jahr schließt mit der Parallele der beiden
„technokratischen
Beitrittsakte“ von 1870 und 1990. In beiden Fällen habe man sich
nicht genug
Zeit gelassen, um sich über das zukünftige Deutschland zu
verständigen.
„Stattdessen wurde es wieder einfach in den Sattel gesetzt, in
der vagen
Hoffnung, es werde schon reiten können“ (S. 300).
Eine Studie ganz anderer Art ist Jens Jägers Das vernetzte
Kaiserreich. Die
Anfänge von Modernisierung und Globalisierung in Deutschland.
Jäger
zeichnet Vernetzungen verschiedener Art nach: physische und
vorgestellte. Dabei
wird die Dynamik sichtbar gemacht. Alles wurde angetrieben von
einem starken
Wachstum des Sozialprodukts und dem demographischen Übergang,
der in
Deutschland noch lange für einen Geburtenüberschuss sorgte. Auf
einen Abriss
der Verkehrswege und Kommunikationsmittel folgt eine Darstellung
der Medien –
das Kaiserreich sei „zweifellos“ (S. 129) eine
Mediengesellschaft gewesen.
Anschließend werden die Homogenisierungseffekte beschrieben, die
durch die
genannten Mittel befördert worden seien: Vertiefung des
Nationalgefühls,
Vereinheitlichung der Sprache. „Medien – so könnte man
überspitzt sagen –
erzeugen erst den Eindruck und das Gefühl, einem Staat, einer
überregionalen
Gemeinschaft, zugehörig zu sein“ (S. 158). Damit wuchs die Macht
der
öffentlichen Meinung, gegen die man auch im Kaiserreich nicht
habe dauerhaft
anregieren können. Die Menschen, die nun in großer Zahl vom Land
in die Stadt
oder von einem Gliedstaat des Reiches in einen anderen umzogen,
wurden dabei
aber auch der Unterschiede gewahr – so entstand die
Heimatbewegung, die Jäger
als „die andere Seite der Nationsbildung“ (S. 164) bezeichnet –
der
Homogenisierung in der Gesamtnation wurden zum Teil neu
geschaffene lokale
Identitäten entgegengesetzt.
Ungeachtet seiner durch Jäger hervorgehobenen geringen
wirtschaftlichen
Bedeutung kann der deutsche Kolonialismus in einer Geschichte
Deutschlands
während der Globalisierung nicht fehlen. Jäger konstatiert, dass
es in den
afrikanischen Kolonien zwar ein gut ausgebautes Post- und
Telegrafen-, selbst
Telefonnetz gab, aber die Eisenbahnen „nur bescheidene Ausmaße“
(S. 189)
erreichten. Das dürfte wieder mit der geringen wirtschaftlichen
Bedeutung zu
tun haben: Aus den Kolonien wurden nur wenige Güter an die Küste
geschafft, an
der Expansion eines Binnenmarktes in den Kolonien waren die
Kolonialherren
nicht interessiert.
Wie zum Beispiel Johannes Paulmann in seiner europäischen
Geschichte des späten
19. Jahrhunderts, so hebt auch Jäger hervor, dass das Zeitalter
des
Nationalismus gleichzeitig das Zeitalter der transnationalen
Verflechtungen
war. Gerade Reformer argumentierten gern mit Hinweisen auf
andere Länder, in
denen die geforderten Veränderungen schon umgesetzt waren und
die erwünschten
Resultate gebracht hatten. Dazu musste man die Experten der
Referenzländer
natürlich treffen können. Als Beispiel fungieren hier die
Bestrebungen zur
Professionalisierung der Polizeiarbeit, die auch mit dem
Aufkommen eines
„internationalen Verbrechertums“ (S. 210), so der
zeitgenössische Ausdruck,
gerechtfertigt wurden. Auch die Feministinnen organisierten sich
transnational,
denn sie hatten die Beobachtung gemacht, „dass sich lokale
Bedingungen eher
verbessern ließen, wenn sich die Anliegen und Reformwünsche als
allgemeingültige darstellen ließen“ (S. 222). Dennoch kam die
Vernetzung nicht
nur egalitären, sondern auch antimodernen Bestrebungen zugute,
wenn diese sich
der modernen Kommunikationsmittel zu bedienen verstanden.
Der gemeinsame Nenner aller von Jäger vorgestellten Netze ist
die
Kommunikation. Dadurch kommen die Versorgungsnetze für Gas,
Wasser und
Elektrizität zu kurz, obwohl es auch spannend wäre, zu
verfolgen, wie die
anfänglichen Stromnetzinseln und „Überlandzentralen“ in
Verbundnetze
zusammenwuchsen. Dieser Prozess war freilich 1914 noch nicht
abgeschlossen.
Von den vorgestellten Büchern ist dasjenige von Jäger sicherlich
das
innovativste. Die Geschichtsschreibung des Deutsch-Französischen
Krieges und
der Reichsgründung wird hingegen durch die hier besprochenen
Titel keine neue
Richtung erhalten, was aber auch nicht ihr Anspruch ist.
Vielmehr bietet Nonn
eine nach den verschiedenen Gesichtspunkten der Sozial- und
Kulturgeschichte
vertiefte, zwar an einzelnen Kalenderdaten aufgehängte, im
ganzen jedoch
durchaus abgerundete Geschichte der Jahrzehnte des Kaiserreichs,
Arand lässt
uns vor allem an der Mühsal und dem Leid der Kriegsteilnehmer
von 1870/71
teilhaben, Jahr fasst die Politikgeschichte der Bismarck‘schen
Einigungspolitik
seit 1864 sachkundig zusammen, während Jäger uns an einen Zugang
zur
Strukturgeschichte gewöhnt, den wir künftig auf ganz
verschiedene Epochen
werden anwenden müssen.
Zitation
Thomas Stamm-Kuhlmann: Rezension zu: Nonn, Christoph: 12
Tage und ein halbes
Jahrhundert. Eine Geschichte des deutschen Kaiserreiches
1871–1918. München
2020. ISBN 978-3-406-75569-9 / Arand,
Tobias: 1870/71. Die
Geschichte des Deutsch-Französischen Krieges erzählt in
Einzelschicksalen. Hamburg
2018. ISBN 978-3-95510-167-1 / Jahr,
Christoph: Blut und
Eisen. Wie Preußen Deutschland erzwang, 1864–1871. München
2020.
ISBN 978-3-406-75542-2 / Jäger, Jens:
Das vernetzte
Kaiserreich. Die Anfänge von Modernisierung und Globalisierung
in Deutschland. Stuttgart
2020. ISBN 978-3-15-011304-2, In: H-Soz-Kult,
23.04.2021, <www.hsozkult.de/publicationreview/id/reb-29086>.
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