Gestern fiel mir auf, daß heute der 29. Januar
ist. Da fing
ich wieder an zu rechnen - wie ich das an dem Tag immer tue -,
wieviele Jahre
seit dem gleichen Tag im Jahre 1944 vergangen sind. Damals war es
ein Samstag,
als die 8th AirForce der Amerikaner von England aus ihren ersten
Massenangriff
nach Deutschland flog. Über 800 viermotorige Flugzeuge waren
beteiligt. Das
Angriffsziel Frankfurt am Main flogen aber nur ein Teil der
Maschinen an, weil
wegen extrem schlechter Sicht (100 Prozent Wolkendecke) der
Navigator in der
Führungsmaschine vom Kurs abkam und die riesige Formation nach
Ludwigshafen
führte. Weiter hinten bemerkte man den Fehler, und so flog ein
Teil der
Streitmacht nach Frankfurt, warf seine Bomben ab und machte sich
auf den
Heimweg. Das tat die erste Formation auch, aber als sie an die
Stelle kam, wo
der Jägerbegleitschutz auf sie warten sollte, war niemand da, weil
die
Formation an der falschen Stelle war. Statt dessen wurden sie von
deutschen
Jagdflugzeugen angegriffen. Im folgenden Luftgefecht, das sich in
Laufe der
nächsten Stunden über die Pfalz, das heutige Saargebiet und den
Hunsrück in
Richtung Nordsee verlagerte, fielen mehr als 20 Bomber den
deutschen Angriffen
zum Opfer. Von den über 200 Männern, die sich an Bord befanden,
verloren mehr
als die Hälfte ihr Leben, als sie mit ihren Flugzeugen abstürzten.
In den
1990ern habe ich mit Klaus Zimmer diesen Angriff und die Kämpfe in
der Luft und
am Boden untersucht, und jedes Jahr am 29. Januar kommt die
Erinnerung wieder
hoch an Ereignisse, die geschahen, als wir beide noch lange nicht
am Leben
waren. Deshalb war ich fasziniert, als ich gerade heute auf die
nachstehende
Besprechnung stieß.
Roland Geiger
Die Lehren des Luftkriegs.
Sozialwissenschaftliche
Expertise in den USA vom Zweiten Weltkrieg bis Vietnam
Autor Sophia Dafinger
Reihe Transatlantische Historische Studien 59
Erschienen Stuttgart 2020: Franz
Steiner Verlag
Anzahl Seiten 362 S.
Preis € 66,00
ISBN 978-3-515-12657-1
Rezensiert für H-Soz-Kult von Cécile Stehrenberger,
Interdisziplinäres Zentrum
für Wissenschafts- und Technikforschung, Bergische Universität
Wuppertal
An welchem Punkt ist eine „Bevölkerung“ durch todbringende und
disruptive
Ereignisse derart „demoralisiert“, dass sich ihre Angehörigen
„irrational“ oder
„deviant“ verhalten oder sich gegen ihre Regierung auflehnen? Mit
solchen
Fragen beschäftigen sich wissenschaftliche „Experten“ nicht erst
seit der
COVID-19-Pandemie. Ihnen gingen schon von der US-Armee finanzierte
Sozialwissenschaftleren nach, die sich während des Zweiten
Weltkrieges, des
Koreakrieges und des Vietnamkrieges mit den sozialen und
psychischen
Auswirkungen von Brand- und Sprengbomben, Napalm und
Entlaubungsmitteln auf
Zivilisten befassten. Mit dem von diesen „Experten des Luftkriegs“
generierten
Wissen, seinen Ursachen und Produktionsmodi sowie mit seiner
Wirkungsgeschichte
setzt sich die auf ihrer Dissertation basierende Monographie von
Sophia
Dafinger auseinander. Die Studie leistet einen wichtigen Beitrag
zur Kultur-,
Wissens- und Erfahrungsgeschichte von Krieg im 20. Jahrhundert
sowie
spezifischer zu den neueren Cold War Studies und zur Geschichte
der
Sozialwissenschaften nach 1945.
Das Buch ist in sieben Kapitel unterteilt. Nach der Einleitung
behandeln
Kapitel 2 und 3 den United States Strategic Bombing Survey
(USSBS), ein
wissenschaftliches Großprojekt, das am 9. September 1944 ins Leben
gerufen
wurde. Ziel des USSBS war es, kurz vor Kriegsende in Europa Wissen
zu gewinnen,
das für die Gefechte im Pazifik einsetzbar sein sollte. Konkret
galt es, die
Bombardierungen deutscher Städte zu evaluieren, um zu eruieren, ob
für den
Krieg gegen Japan eine Strategieänderung angezeigt wäre. Von
besonderem
Interesse waren dabei die Folgen der Bomben auf den
Durchhaltewillen der
Bevölkerung. 1945 wurde das Projekt um eine Untersuchung der
Effekte der über
Japan abgeworfenen Bomben erweitert. Wie Dafinger demonstriert,
ging es dabei
letztlich um die Frage, ob sich der Luftkrieg „gelohnt“ hatte. Zur
Datenerhebung führten „field teams“ in den besetzten Gebieten
Interviews mit
gewöhnlichen Zivilisten, aber auch mit politischen
Entscheidungsträgern wie
Albert Speer durch. In der Datenerhebung und Auswertung bedienten
sich die
Mitarbeiteren der wichtigsten Methoden der modernen
Sozialforschung und trugen
zu deren Weiterentwicklung bei. In ihren Ergebnissen konstatierten
sie unter
anderem, dass die bekriegten Wirtschaftssysteme und Gesellschaften
erstaunlich
robust waren. Laut Dafinger konnten die Wissenschaftleren keine
eindeutige
Kausalverbindung zwischen einer etwaigen Schwächung der
„Kriegsmoral“ und den
Bombardierungen nachweisen. Dennoch behaupteten sie, der Luftkrieg
sei für den
alliierten Sieg zentral gewesen und die Air Forces müssten mit
Blick auf
zukünftige Bedrohungen ausgebaut werden. Wie Dafinger feststellt,
hatte der
USSBS einen nachhaltigen Einfluss auf die Debatten um den
Luftkrieg. Diverse
Abteilungsleiter des Projekts gelangten später in führende
politische
Positionen und als stellvertretender Verteidigungsminister
plädierte etwa Paul
Nitze im Vietnamkrieg dafür, dort wie im Zweiten Weltkrieg
Schlüsselindustrien
zu bombardieren. Der USSBS diente dabei als eine Art „Blaupause
für den
Luftkrieg“ (S. 128). Gleichzeitig stellte er den Auftakt für eine
langfristige
Kooperation zwischen Wissenschaft, Politik und Militär in der
Luftkriegsforschung dar. Weiter vorangetrieben wurde diese unter
anderem im
Human Resources Research Institute der US Air Force (HRRI) und der
„Research
and Development Corporation“ (RAND Corporation).
Mit den empirischen Untersuchungen, die an diesen
Forschungseinrichtungen zu
den Folgen der US-amerikanischen Bombardements im Koreakrieg und
im Vietnamkrieg
vorgenommen wurden, beschäftigt sich Dafinger in Kapitel 4 und 5
ihres Buches.
Sie zeigt darin, wie sich in der dynamischen Forschungslandschaft
des Kalten
Krieges die These, der Luftkrieg sei ein angemessenes Mittel der
(auch
„psychologischen“) Kriegsführung, lange halten konnte. Der Erfolg
von
Bombenangriffen ließ sich steigern, so die etablierte Meinung,
indem besonders
verletzliche Punkte im gesellschaftlichen Gefüge und den
Verhaltensmustern des
Feindes identifiziert wurden, um mit diesem Wissen seinen
Zusammenbruch präzise
herbeizuführen. Die hierfür generierten Erkenntnisse der
Wissenschaftleren von
HRRI und RAND reproduzierten oft ein (rassistisches) othering und
eine
Entmenschlichung des Feindes, die für die Rationalisierung und
Legitimierung
des Krieges selbst elementar war. Zwar gab es schon früh und auch
intern Kritik
an einer solchen Forschungsausrichtung. Erst nach 1964 kam es
innerhalb der
RAND Corporation jedoch zu regelrecht polarisierend divergierenden
Beurteilungen des Vietnamkrieges und zur Rolle von
Wissenschaftleren in ihm.
Diese führten allerdings zu keinem Ende der Luftkriegsexpertise,
sondern gingen
mit einem „Generationenwechsel“ (S. 315) und Umorientierungen
einher.
Das sechste und vor dem Resümee letzte Kapitel greift vorherige
Beobachtungen
zur grundsätzlichen „Logik“ von Expertise im Luftkrieg auf und
macht sie zum
Gegenstand weiterer abstrahierender Überlegungen. Behandelt wird
auch der
Umgang mit Protest (etwa aus der Friedensbewegung) und
Gegenwissen. Dafinger
zeigt hier erneut auf, wie zentral Außendarstellungen und das
(auch moralische)
Selbstverständnis der Wissenschaftleren für die Wissensproduktion
waren. Aber
auch die Denkfigur der „lessons learned“ sowie die Funktionsweise
des
„Vergessens“ (S. 304) von Wissensbeständen, die die
Luftkriegsführung in Frage
stellten, werden hier nochmals beleuchtet.
Die Lehren des Luftkriegs bestätigt viele der wichtigsten
Erkenntnisse, welche
die Forschungsliteratur zur Geschichte der Sozialwissenschaften
nach 1945 in den
letzten zehn Jahren vorgelegt hat.[1] Dazu gehört, dass der
Systemkonflikt die
Forschung zwar zutiefst geprägt, aber nicht völlig determiniert
hat und dass
Politik und Wissenschaft einander als „Ressourcen“ dienten. Auch
Dafinger
identifiziert für die Expertise zum Luftkrieg ein wechselseitig
produktives
Verhältnis zwischen beiden. Aus diesem ging nicht nur nützliches
Wissen für die
Luftkriegsführung hervor, sondern es führte auch zu einem
Erstarken gewisser
Forschungsansätze, etwa der Behavioral Sciences. Wie Dafinger
darlegt,
verstanden die Wissenschaftleren, die sich der Bombengewalt
widmeten, ihre
Gestaltungsansprüche trotzdem – oder gerade deshalb – als
unpolitisch und ihre
Tätigkeit als objektiv und wertneutral.
Ganz im Sinn der jüngeren Forschung zu den Cold War Sciences zeigt
Dafinger,
dass diese auch hinsichtlich des Luftkriegs von Zielkonflikten,
Ambivalenzen
und Ambiguitäten gekennzeichnet waren. Die Autorin arbeitet hier
ausgezeichnet
heraus, wie über Forschungsmethoden gestritten wurde, Experten oft
keine
eindeutigen Aussagen machten und dass just darum ihre
Forschungsresultate so
vielfältig nutzbar waren. Aber auch der rekonstruierte Umgang
dieser Experten
mit radikaler Kritik, die zwar Erschütterungen produzierte, aber
selten
Revolutionen, ist hochinteressant.
Das Buch macht deutlich, dass die starken methodischen und
inhaltlichen
Kontinuitäten der Forschung zum Luftkrieg viel mit personellen
Kontinuitäten zu
tun hatten. In ihren komplizierten Netzwerken gelang es einigen
Forscheren,
lange Zeit überaus einflussreich zu bleiben, ohne dabei von ihren
Grundannahmen
über Krieg, Gesellschaft und Wissenschaft substanziell abzurücken.
Dazu gehörte
auch, dass sie gewisse Innovationen zuließen oder gar beförderten.
Dass
Dafinger die Entwicklung der Luftkriegsforschung immer wieder
aufrollt, indem
sie den Geschichten solcher und anderer Akteure folgt, ist eine
große Stärke
ihres Buches. Sie situiert die Praktiken, Selbstverständnisse und
Habitus der
porträtierten Forscheren in ihren jeweiligen kulturellen
beziehungsweise
historischen Kontexten, wozu unter anderem die Erfahrung des
Zweiten
Weltkrieges gehört. Damit liefert sie für zukünftige Arbeiten sehr
anschlussfähige
Einblicke darin, wie Persönliches und Politisches miteinander
verschränkt im
Wissenschaftlichen wirkmächtig werden.
Dafingers sorgfältige und wohl formulierte Analyse des
reichhaltigen
Quellenmaterials überzeugt und macht ihr Buch zu einer
Bereicherung der oben
erwähnten Forschungsfelder. Bei vielen Aspekten der Geschichte der
Luftkriegsexpertise, die angesprochen werden, bestehen
Anknüpfungsmöglichkeiten
für weiterführende Forschungsvorhaben – etwa zu ihrer
geschlechtergeschichtlichen Dimension. Besonders spannend ist die
Lektüre des
Buches, wenn sie mit derjenigen von Studien kombiniert wird, die
sich diversen
„Forschungstechniken“ von RAND-Experten stärker
wissenschaftsanalytisch nähern
oder den Krieg/Wissenschafts-Nexus breiter bearbeiten.[2]
Insgesamt kann Die Lehren des Luftkriegs allen an der Geschichte
und Gegenwart
des Verhältnisses von Wissen, Politik und Massengewalt
interessierten Leseren
empfohlen werden. Dies allein schon wegen der Wirkung, welche die
rekonstruierten Fragestellungen und Wissensbestände bis heute auch
jenseits des
Militärischen entfalten. Zu denken ist hier nicht zuletzt an den
eingangs
angesprochenen (aktuellen) Umgang mit verschiedenen zivilen
Katastrophen und
Krisen.
Anmerkungen:
[1] Vgl. Fabian Link,
Sozialwissenschaften im
Kalten Krieg. Mathematisierung, Demokratisierung und
Politikberatung, in:
H-Soz-Kult, 15.05.2018, https://www.hsozkult.de/literaturereview/id/forschungsberichte-3095
(14.01.2021).
[2] Christian Dayé, Experts,
Social Scientists,
and Techniques of Prognosis in Cold War America, Cham 2020; M.
Susan Lindee,
Rational Fog. Science and Technology in Modern War, Cambridge,
Mass. 2020.
Zitation
Cécile Stehrenberger: Rezension zu: Dafinger, Sophia: Die Lehren
des
Luftkriegs. Sozialwissenschaftliche Expertise in den USA vom
Zweiten Weltkrieg
bis Vietnam. Stuttgart 2020. ISBN 978-3-515-12657-1, In: H-Soz-Kult,
29.01.2021, <www.hsozkult.de/publicationreview/id/reb-93344>.