Forum: Zeiterfahrung: S. Patzold: Covid-19 und
die Folgen
für die Mittelalterforschung
Von Steffen Patzold, Historisches Seminar,
Universität
Hamburg
Ich bin Historiker, kein Prophet. Die Schlagzahl
wissenschaftlichen
Publizierens ist in der Geschichtswissenschaft viel niedriger als
etwa in der
Virologie oder der Medizin. Wichtige mediävistische Zeitschriften
erscheinen
halbjährlich, manche gar nur einmal pro Jahr; und ein Fachbuch
braucht eine
noch längere Vorbereitung. Zurzeit lässt sich daher noch nicht
beobachten
(geschweige denn seriös messen), in welcher Weise die
Corona-Pandemie unseren
wissenschaftlichen Blick auf diejenige Epoche verändern wird, die
wir
traditionell als „Mittelalter“ bezeichnen. Zu dieser Frage kann
ich vorerst nur
munter spekulieren. In den kommenden Jahren werden wir es dann
rückschauend
besser wissen.
Dass die Pandemie auch für die Geschichtsbilder, die die
Mediävistik entwirft,
nicht folgenlos bleiben wird, ist immerhin einigermaßen
wahrscheinlich. Die
Geschichtswissenschaft ist – auch und gerade in ihren älteren
Epochen – eine
Gegenwartsdisziplin. Es ist deshalb keine Hexenkunst zu erraten,
dass in den
kommenden Monaten und Jahren eine kleine Flut von Artikeln und
Büchern
erscheinen wird, die sich mit Seuchen im Mittelalter befassen. Sie
werden
sicher von den beiden großen Epidemien erzählen, also von der
Justinianischen
Pest des 6. bis 8. Jahrhunderts und dem sogenannten Schwarzen Tod
seit den
1340er-Jahren. Wahrscheinlich werden aber auch kleinere Phänomene
neue
Aufmerksamkeit finden – wie etwa jene Tierseuche, die im Jahr 810
in Westeuropa
so viele Rinder sterben ließ, dass die militärische Schlagkraft
des
Karolingerreichs beeinträchtigt war und Menschen in der Erzdiözese
Lyon
anfingen, Verschwörungsmythen über Spione in Benevent zu glauben.
(Man
bezichtigte Leute, im Auftrag des Herzogs Grimoald das Vieh im
Frankenreich zu
vergiften; etliche der vermeintlichen Täter wurden gelyncht.)[1]
Außerdem wird man einigermaßen sicher prognostizieren dürfen, dass
der Begriff
der „Krise“ künftig in der Mittelalterforschung noch inflationärer
gebraucht
werden wird, als es heute schon der Fall ist. Wahrscheinlich
werden in dieser
Diskussion Situationen des Umbruchs, des kurzfristigen sozialen
und wirtschaftlichen
Wandels, der unter hohem Druck stattfindet, genauer in den Blick
der Forschung
geraten. Der Tübinger SFB 923 würde solche Situationen konzeptuell
als
„Bedrohte Ordnungen“ erfassen.[2]
Wissenschaftsgeschichtlich noch interessanter als derlei Seuchen-
und
Krisen-Studien könnten allerdings diejenigen Verschiebungen und
Neuakzentuierungen werden, die andere, eher klassische Felder
mediävistischer
Forschung betreffen. Mein Auftrag für dieses Forum lautet denn
auch, „etwas aus
der Perspektive des Mittelalters und der Frage von
‚Staatlichkeit‘“
beizutragen.[3] Dieses Forschungsfeld ist
nun in der Tat
alt, riesig und unübersichtlich. Entsprechend kompliziert und
unsicher wird in
diesem Bereich mein akademisches Ratespiel. Ich soll es dennoch
wagen: Wird die
Covid-19-Pandemie die mediävistische Forschung zur Geschichte des
Staates im
Mittelalter beeinflussen? Und wenn ja, wie?
Beim Versuch, meinen Auftrag zu erfüllen und diese Fragen zu
beantworten, werde
ich in zwei Schritten vorgehen: Zunächst muss ich, in aller Kürze,
einen
Überblick über die bisherige wissenschaftliche Debatte zum Thema
geben – von
den älteren Diskussionen im 19. Jahrhundert, über den
Paradigmenwechsel der
1930er-/1940er-Jahre bis hin zu den jüngsten Entwicklungen seit
etwa 1990. Erst
auf dieser Basis kann ich dann halbwegs begründet spekulieren, wie
die
gegenwärtige Pandemie dieses gesamte große Forschungsfeld
beeinflussen könnte.
Ich hoffe, es ist keine Zumutung, dass ich mich bei alledem auf
die Diskussion
zum Staat im frühen und hohen Mittelalter konzentriere, die ich
etwas besser
überblicke als die Debatten über die einschlägigen Entwicklungen
im
Spätmittelalter.
I. Immer schon eine Gegenwartsdebatte: Die ältere Diskussion über
den Staat im
Mittelalter
Die Diskussion über den Staat im Mittelalter reicht bis in die
Anfänge meiner
Teildisziplin zurück – jedenfalls in Deutschland. Als sich die
Geschichtswissenschaft im 19. Jahrhundert ausbildete und im Zuge
dessen auch
die Mittelalterforschung zur Wissenschaft wurde, war die Frage des
Staates
hierzulande politisch hochaktuell. Der wissenschaftliche Blick
zurück ins
Mittelalter war dabei von Beginn an mit der Politik der Gegenwart
verflochten:
Gerade in der frühen Zeit, am besten sogar bei den „Germanen“,
suchte man
Vorbilder für eine deutsche Verfassung, über die damals im
Zusammenhang mit den
Reichseinigungsdebatten politisch zäh und intensiv diskutiert
wurde. Georg
Waitz[4], Paul Roth[5], Heinrich von Sybel[6] und viele andere mehr
debattierten in
ihrer Erforschung des „deutschen“ Mittelalters und seiner
politischen Ordnung
im Grunde stets auch ihre eigene Gegenwart mit.
Eine Kernfrage dieser Debatte lautete zugespitzt: Übte der König
eine
spezifische, nämlich öffentliche Gewalt über einen Verband freier
Untertanen
aus? Oder war seine Herrschaft privatrechtlich ausgestaltet und
nicht
grundsätzlich von derjenigen anderer Herren unterschieden, weil
sie etwa im
Wesentlichen auf lehnrechtlichen Bindungen beruhte? Um 1900 herum
hatten sich
tonangebende Historiker wie Georg von Below[7] in dieser Diskussion klar
positioniert:
Der König hatte – zumindest in der Frühzeit – durchaus eine
besondere,
öffentliche Gewalt über die Freien ausgeübt; es gab also einen
deutschen Staat.
Allerdings war diese öffentliche Gewalt im Laufe der Zeit,
spätestens aber seit
dem 10. Jahrhundert, immer weiter von lehnrechtlichen (und damit
privatrechtlichen) Bindungen zersetzt worden, die ganz andere,
konkurrierende
Loyalitäten und Verpflichtungen begründeten. Von hier aus meinte
man dann auch
eine Entwicklungslinie hin zur Schwächung der Zentralgewalt durch
den Adel und
zur Ausbildung des Alten Reiches ziehen zu können (mit dem die
weitaus meisten
Mittelalterhistoriker damals haderten, weil es die Entstehung
eines deutschen
Nationalstaates verhindert habe).
Gegen diese Position trat in den 1930er- und 1940er-Jahren die
sogenannte Neue
deutsche Verfassungsgeschichte an: Otto Brunner, Walter
Schlesinger, auch
Theodor Mayer, Heinrich Dannenbauer und andere mehr warfen ihren
Vorgängern des
19. Jahrhunderts vor, allzu schlicht die Begriffe ihrer eigenen
Zeit dem
Mittelalter übergestülpt zu haben. Brunner hielt die fundamentale,
die gesamte
Diskussion strukturierende Unterscheidung zwischen
öffentlich-rechtlichen und
privat-rechtlichen Herrschaftsformen für anachronistisch: Die
Zeitgenossen des
Spätmittelalters hätten zwischen beidem gar nicht differenziert –
und mithin
auch nicht zwischen Gesellschaft und Staat oder zwischen Macht und
Recht. Damit
hatte Brunner im Grunde die gesamte fein verästelte Debatte des
19.
Jahrhunderts für obsolet erklärt. Stattdessen wollte er im
Spätmittelalter nur
eine einzige, ihrem „Wesen“ nach gleichförmige Art von Herrschaft
erkennen –
die erwachsen sei aus der Herrschaft des Hausherrn über sein Haus
und
wesentlich darauf beruhte, dass der „Herr“ Schutz zu gewähren
vermochte, dafür
aber von seinen „Holden“ Treue einforderte. Die Herrschaft des
Grundherrn über
seine Hörigen, auch die Herrschaft des Landesherrn über sein Land
hätten sich
in ihrem „Wesen“ nicht von dieser Herrschaft über das Haus
unterschieden.[8]
Walter Schlesinger schrieb in seiner 1941 publizierten
Habilitationsschrift zur
Entstehung der Landesherrschaft in Sachsen dieses Modell zurück
bis in das
Frühmittelalter. Er ergänzte es im Zuge dessen allerdings auch um
einen zweiten
Ursprung mittelalterlicher Herrschaft: Neben der Hausherrschaft
sah er auch in
der Herrschaft frühmittelalterlicher Könige über ihre kriegerische
Gefolgschaft
eine „Wurzel“ mittelalterlicher Herrschaft. Das Lehnswesen
betrachtete
Schlesinger für die Zeit seit dem 10. Jahrhundert zwar ebenfalls
als einen
wichtigen historischen Faktor; seine historische Bedeutung und
Wirkung
beurteilte er nun allerdings ganz anders als die Forschung des 19.
Jahrhunderts: Es habe nämlich in einer Welt, in der viele einzelne
Herrschaftskreise des Adels und des Königs zunächst gar nicht
institutionell
zusammengeschlossen gewesen seien, überhaupt erst eine feste,
rechtlich
fundierte Bindungsform institutionalisiert. Statt einen Staat
aufzulösen, trug
es aus Schlesingers Sicht kräftig zur Integration vieler einzelner
Herrschaftskreise zu einem Gesamtverband bei.[9]
Heinrich Dannenbauer wiederum wollte dementsprechend auch schon in
der Frühzeit
keine freien Germanen als Untertanenverband unter gewählten
politischen Führern
mehr sehen: Stattdessen zeichnete er eine spätantike und
frühmittelalterliche
„germanische“ Welt, die strukturiert war von Adel, Burg und
Herrschaft.[10] Theodor Mayer schließlich
prägte den
Begriff des „Personenverbandsstaats“, dem in der Nachkriegszeit
ein
erstaunlicher Erfolg beschieden war: Er verwies eigentlich nur
darauf, dass die
Herrschaft eines Königs (aber auch eines Herzogs oder Grafen) bis
ins
Hochmittelalter hinein eben nicht alle diejenigen Freien erfasst
habe, die auf
einer bestimmten Fläche lebten, sondern im Wesentlichen auf den
persönlichen
Bindungen zwischen dem König und den einzelnen Adligen beruht
habe.[11]
Selbstverständlich ist all dies nur ein Holzschnitt: Die
Diskussionen, die
Mediävisten führten, waren im 19. Jahrhundert wie auch in den
1930er- und
1940er-Jahren feiner ausdifferenziert, die Modelle komplexer.
Worauf es mir mit
dieser Skizze ankommt, ist aber erst einmal nur dies: Die
mediävistischen
Debatten über den Staat spiegelten im 19. Jahrhundert wie auch im
Zuge der
„Neuen Verfassungsgeschichte“ (die in der deutschen
Mittelalterforschung noch
bis in die 1980er-Jahre hinein das vorherrschende Modell bleiben
sollte)
erstaunlich ungebrochen die jeweilige Gegenwart und deren
Befindlichkeiten
wider: Längst haben Mediävisten selbst, aber auch unsere
Kolleg/innen aus der
Neuen Geschichte die Zeitgebundenheit der mediävistischen
Staatsdebatten im 19.
und 20. Jahrhundert nachgewiesen.[12] Interessanterweise
kleidete sich diese
Zeitgebundenheit in beiden Fällen allerdings argumentativ in das
Gewand der
Alterität: Im 19. Jahrhundert diente das Mittelalter (und vor
allem dessen
Frühzeit) lange Jahrzehnte hindurch als Vorbild für eine
zukünftige politische
Ordnung Deutschlands, die man sich ganz anders wünschte als die
real
existierende der Gegenwart. Und in den 1930er-Jahren haben dann
die Vertreter
der „Neuen Verfassungsgeschichte“ die fundamentale Andersartigkeit
der Zeit vor
der Moderne sogar explizit als wissenschaftlichen Ausgangspunkt
gewählt: Sie
verwarfen ja die „modernen“ Unterscheidungen öffentlich/privat,
Staat/Gesellschaft, Macht/Recht gerade deshalb, weil sie
unangemessen seien, um
das ferne, andersartige Mittelalter zu erforschen.
II. Immer noch eine Gegenwartsdebatte: Die jüngeren
mediävistischen
Diskussionen über den Staat
Im Prinzip wissen wir selbstverständlich alle, dass auch unsere
eigenen
Perspektiven auf das Mittelalter von den Befindlichkeiten der
Gegenwart
mitgeprägt sind: Das ist Proseminar-Stoff. Und doch fällt es uns
genauso
selbstverständlich schwer, diese Zusammenhänge im Einzelnen in den
eigenen
Arbeiten zu sehen. Wie also wird man in 50 oder 100 Jahren über
die
mediävistischen Perspektiven auf den Staat aus dem späten 20. und
frühen 21.
Jahrhundert denken, über die Forschung aus der Zeit noch vor der
Covid-19-Pandemie?
Man kann in der deutschen mediävistischen Forschung zum „Staat“
mittlerweile
recht deutlich mehrere Trends erkennen, die um 1990 herum ihren
Anfang genommen
haben und ähnlich beispielsweise auch in der britischen,
US-amerikanischen und
französischen Forschung nachzuweisen sind. Die Könige und Kaiser
des
Karolingerreiches und ihre Nachfolger in Europa sind seither
tendenziell schwächer
geworden: Was dem 19. und früheren 20. Jahrhundert noch als
Periode
kaiserlicher Herrlichkeit und Machtvollkommenheit gegolten hatte,
als Glanzzeit
vor dem Niedergang des Spätmittelalters mit seinem ungeliebten
Monstrum von
Altem Reich, das nimmt sich heute weit weniger strahlend aus. Die
Hierarchien
zwischen Herrscher und Adel gelten mittlerweile als ziemlich
flach. Die
Karolinger, Ottonen, Salier, Staufer kommen in jüngeren
Darstellungen auch
nicht mehr als visionäre Politiker daher, die danach trachteten,
mit starker
Hand langfristige Strukturvorhaben zur Kräftigung der
Zentralgewalt um- und
geopolitische Interessen durchzusetzen (ein Vorhaben, an dem
spätestens die
Staufer dann aber um 1200 grandios gescheitert wären). Ihre
Fähigkeit,
politische Entscheidungen zu treffen und umzusetzen, kannte
Grenzen – vor allem
im Konsens der Großen. Politik unter den Bedingungen „konsensualer
Herrschaft“
gilt als angeleitet und eingehegt von ungeschriebenen Spielregeln;
königliches
und adliges Handeln in der Öffentlichkeit erscheint als Abfolge
von Gesten und
Ritualen, die den Grundkonsens, das Ranggefüge der Großen und den
Status quo zu
erhalten helfen sollten. Könige und Kaiser wirken wie Moderatoren,
die in
langen Verhandlungen auf kleinen und großen Versammlungen immer
wieder neu die
Mächtigen des Reiches von sich überzeugen und die Rangordnung im
Adel in einem
Gleichgewicht halten müssen, das im Grunde doch immer fragil
bleibt. Und sie
wirken wie Regisseure, die nicht zuletzt mit fein ausgewogenen und
bis ins Detail
ausgearbeiteten Inszenierungen in der Öffentlichkeit Konflikte
begrenzen,
Konsens herstellen und damit das erzeugen, was die Zeitgenossen
formelhaft als
„Frieden und Recht“ bezeichneten. Auch dieses neuere Bild aber ist
interessanterweise gerahmt von einer Alteritätsbehauptung: Die
früh- und
hochmittelalterliche Welt der konsensualen Herrschaft, der
Spielregeln,
Rituale, Gesten, Inszenierungen, ohne Gesetze, ohne politische
Langfristvorhaben, ohne bürokratischen Apparat – sie sei ganz
anders gewesen als
unsere eigene.[13]
Um nicht falsch verstanden zu werden: Ich persönlich bin ziemlich
fest davon
überzeugt, dass das hier nur sehr grob skizzierte Modell uns im
Moment weit besser
hilft, mittelalterliche Texte interpretierend zu erschließen und
das Handeln
von Königen und Adligen zu erklären, als die Modelle des 19.
Jahrhunderts oder
gar der „Neuen Verfassungsgeschichte“ der 1930er- und
1940er-Jahre. Aber
selbstverständlich kann man sich fragen, wie sehr auch das
gegenwärtige Modell
unsere eigenen Erfahrungen mit politischer Entscheidungsfindung
widerspiegelt.
Vielleicht wird man in 50 oder 100 Jahren darüber staunen, wie
sehr sich
postmoderne Überzeugungen von der Dezentrierung des Subjekts auch
in den
Mittelalterbildern der Jahrtausendwende niedergeschlagen haben?[14] Vielleicht wird man
darüber staunen, wie
sehr die fundamentalen Rahmenbedingungen politischen Handelns im
Reich der
Ottonen und Salier denen der Entscheidungsfindung in deutschen
Universitäten
der Jahrzehnte um das Jahr 2000 ähnlich wurden? Vielleicht wird
ein künftiges
Forschungsprojekt einmal vergleichend Entscheidungsprozesse in
Geschichtsentwürfen
zur Staatlichkeit des Früh- und Hochmittelalters einerseits und in
Gremien und
Ausschüssen in den Universitäten des endenden 20. Jahrhunderts
andererseits
untersuchen? Es ließen sich wohl erstaunliche Parallelen
konstatieren: hier wie
da informelle Vorgespräche und Vorklärungen, hier wie da aufwendig
inszenierte
konsensuale Beschlussfassungen, hier wie da flache Hierarchien,
hier wie da
eine hohe Bedeutung der persönlichen Nähe und des Zugangs zur
Zentralgewalt,
hier wie da ein Akzent auf dem Streben nach Rang (statt nach Macht
oder
ökonomischem Gewinn), hier wie da Konflikte nicht als Ereignisse,
sondern als
Struktur, ausgetragen und beigelegt in ritualisierter Form,
geleitet von
ungeschriebenen Spielregeln, mit der Notwendigkeit, das Gesicht
aller
Beteiligten zu wahren.
Man könnte so noch ein Weilchen fortfahren, die wenigen Punkte
mögen hier
genügen. Ich bin – ich wiederhole es – kein Prophet. Aber es
scheint mir
immerhin gut denkbar, dass im Rückblick die Debatten der deutschen
Mediävistik
über die politische Ordnung und Praxis im Karolingerreich und
seinen
Nachfolgern merkwürdig stark durch den Erfahrungsraum westlicher
Universitäten
um die Jahrtausendwende geprägt erscheinen könnten.
III. Was ändert Covid-19?
Was wird die Covid-19-Pandemie seit März dieses Jahres an alledem
ändern? Meine
Antwort kann nur vorsichtig tastend ausfallen. Ich persönlich habe
mit Staunen
(und auch einiger Besorgnis) in den vergangenen Monaten zweierlei
zur Kenntnis
genommen: Zum einen habe ich gelernt, wie schnell, wie tief und
wie
wirkungsvoll der Staat in der Bundesrepublik Deutschland des 21.
Jahrhunderts
in mein Leben einzugreifen vermag – jedenfalls in einer Situation
bedrohter
Ordnung, als Reaktion auf eine Katastrophe. „Kontaktverbote“,
„Ausgangssperren“,
„Ladenschließungen“, „Einschränkungen der Reisefreizügigkeit“,
„Quarantänevorschriften“, „Maskenpflicht“, „Schulschließungen“ –
die Liste der
Schlagwörter, die Veränderungen des Lebens im Jahr 2020
bezeichnen, ist lang.
Ich habe in den vergangenen Monaten sehr konkret erfahren: Der
Staat kann
erschreckend viel! Er kann mich 14 Tage lang in Quarantäne
stecken; er kann mir
verbieten, mich außerhalb meiner vier Wände oder meines Wohnblocks
aufzuhalten;
er kann Kinos, Konzerthallen, Museen ebenso schließen wie Schulen,
Universitäten und nationale Grenzen.
Zum anderen habe ich aber auch gelernt, wie schnell der Wohlstand
ganzer
Gruppen verloren gehen kann, die nicht das Privileg der
Beamtenbezüge oder
eines Gehalts des öffentlichen Dienstes genießen. Die Ökonomie und
ihre hohe
Bedeutung für staatliches Handeln werden in der Covid-19-Pandemie
für mich
jedenfalls in neuer Weise anschaulich. Reichtum und ökonomische
Strukturen beeinflussen
maßgeblich den Weg durch die Pandemie (und generieren erhebliche
Unterschiede
für die verschiedenen betroffenen Gruppen).
Da die mediävistische Debatte über den Staat bisher immer auch ein
Dialog mit
der Gegenwart war, spricht viel dafür, dass sich auch jetzt die
Diskussion über
den Staat im Mittelalter neu akzentuieren wird. Die ungewohnte
Erfahrung der
Handlungsmacht und Effizienz des Staates und die gegenwärtig so
augenfällige
Bedeutung der Ökonomie für staatliches Handeln könnten die
mediävistischen
Perspektiven auf die politische Praxis im Europa des frühen und
hohen Mittelalters
verändern. Möglicherweise führt die Erfahrung effizienten und
weitreichenden
staatlichen Handelns heute dazu, dass sich auch unsere
Vorstellungen von den
Handlungsspielräumen von Aristokraten und Königen im früheren
Mittelalter
verschieben: Aus unserer Gegenwart heraus geraten Quellenaussagen
wieder
stärker in den Blick der Mediävistik, die Könige und ihre Großen
als Menschen
mit großer Macht und weitreichenden Durchgriffsmöglichkeiten
gegenüber anderen
zeigen. Kein Zweifel: Konsens war ein wichtiges Schlagwort des
politischen
Diskurses im europäischen Mittelalter. Aber Kaiser, Könige und
andere hohe
Herren vermochten ihre Gegner im Einzelfall auch hart anzugehen,
ins Exil zu
treiben, zu inhaftieren oder töten zu lassen. Möglicherweise
führen die gegenwärtigen
Erfahrungen dazu, diese dunkle Seite der Macht (die an deutschen
Universitäten
eher selten zu erfahren ist) wieder stärker zu betonen.
Wichtig scheint mir: Einschlägige Quellenuntersuchungen hierzu
werden die
aktuellen wissenschaftlichen Modelle politischer Ordnung im frühen
und hohen
Mittelalter nicht ganz und gar falsifizieren können. Zentrales
wird bleiben:
Die Erfahrungen der Gegenwart beziehen sich ja gerade auf eine
spezifische
Situation, eine bedrohte Ordnung, auf die der Staat reagiert.
Diese Erfahrungen
werden deshalb vermutlich nichts daran ändern, dass wir das
Handeln von
Mächtigen im Mittelalter eher nicht von langfristigen Planungen
getragen sehen,
sondern von dem Zwang, immer wieder neu und kurzfristig auf
konkrete Herausforderungen
zu reagieren. Die Erfahrungen mit der Covid-19-Pandemie könnten
unser Bild nur
insofern neu akzentuieren, als die Hierarchien steiler und die
Handlungsspielräume der Mächtigen größer werden. Schon das
allerdings brächte
interessante neue Akzente in die alte Debatte!
Und vielleicht wird die gegenwärtige Erfahrung ja auch das
Interesse der
Mediävistik an den harten ökonomischen Grundlagen herrschaftlichen
Handelns
stärken? Mit der Wirtschaftsgeschichte des Früh- und
Hochmittelalters
beschäftigt sich heute, nach dem cultural turn, weltweit nur noch
eine ziemlich
überschaubare Zahl an Mediävist/innen. Im aktuellen Modell früh-
und
hochmittelalterlicher Staatlichkeit kommt die Ökonomie so gut wie
gar nicht
mehr vor. Sie wieder stärker in das Forschungsfeld zu integrieren
wäre nicht
nur aus den Erfahrungen mit Covid-19 heraus ein wichtiges
Unterfangen – und ein
lohnenswertes noch dazu!
Anmerkungen:
[1] Vgl. dazu Agobard von Lyon,
De grandine et
tonitruis, ed. L. van Acker (Corpus Christianorum. Continuatio
Mediaeualis 52),
Turnhout 1981, S. 3–15. hier c. XVI, S. 14 f.
[2] Vgl. Ewald Frie/Boris
Nieswand, »Bedrohte
Ordnungen« als Thema der Kulturwissenschaften. Zwölf Thesen zur
Begründung
eines Forschungsbereichs, in: Journal of Modern European History
15 (2017), S.
5–15.
[3] So in der Einladung zur
Mitarbeit von Daniel
Menning (E-Mail vom 4. Juni 2020).
[4] Georg Waitz, Deutsche
Verfassungsgeschichte.
8 Bde., Kiel/Berlin 1844–1878; vgl. dazu Jürgen Weitzel, Georg
Waitz
(1813–1886). Deutsche Verfassungsgeschichte, in: Hauptwerke der
Geschichtsschreibung, hg. v. Volker Reinhardt, Stuttgart 1997, S.
707–710.
[5] Paul von Roth, Geschichte des
Beneficialwesens von den ältesten Zeiten bis ins zehnte
Jahrhundert, Erlangen
1850.
[6] Heinrich von Sybel,
Entstehung des deutschen
Königthums, Frankfurt/Main 1844.
[7] Georg von Below, Der deutsche
Staat des
Mittelalters. Bd. 1: Die allgemeinen Fragen, Leipzig 1914, S.
38–190.
[8] Otto Brunner, Land und
Herrschaft.
Grundfragen der territorialen Verfassungsgeschichte Österreichs im
Mittelalter,
Darmstadt 1973 (= Neudruck der 5. Auflage, Wien 1965, zuerst 1939;
die Ausgaben
der Nachkriegszeit sind deutlich gegenüber den Ausgaben von 1939
und 1941
verändert).
[9] Walter Schlesinger, Die
Entstehung der
Landesherrschaft. Untersuchung vorwiegend nach mitteldeutschen
Quellen
(Sächsische Forschungen zur Geschichte 1), Dresden 1941 [ND.
Darmstadt 1964].
[10] Heinrich Dannenbauer, Adel,
Burg und
Herrschaft bei den Germanen, in: Historisches Jahrbuch 61 (1941),
S. 1–50.
[11] Theodor Mayer, Die
Entstehung des
»modernen« Staates im Mittelalter und die freien Bauern, in:
Zeitschrift der
Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte, Germanistische Abteilung 57
(1937), S.
210–288, hier bes. S. 210–214; ders., Adel und Bauern im Staat des
deutschen
Mittelalters, in: Adel und Bauern im deutschen Staat des
Mittelalters, hg. v.
dems., Leipzig 1943, S. 1–21, hier S. 7.
[12] Vgl. (aus der überreichen
Literatur) z.B.
Ernst Wolfgang Böckenförde, Die deutsche verfassungsgeschichtliche
Forschung im
19. Jahrhundert. Zeitgebundene Fragestellungen und Leitbilder
(Schriften zur
Verfassungsgeschichte 1), Berlin 1961; Gadi Algazi, Otto Brunner –
„konkrete
Ordnung“ und Sprache der Zeit. In: Geschichtsschreibung als
Legitimationswissenschaft 1918–1945, hg. v. Peter Schöttler
(Suhrkamp-Taschenbuch Wissenschaft 1333), Frankfurt am Main 1997,
S. 166–203;
weiteres bei Steffen Patzold, Der König als Alleinherrscher? Ein
Versuch über
die Möglichkeit der Monarchie im Frühmittelalter, in: Monarchische
Herrschaft
im Altertum, hg. v. Stefan Rebenich unter Mitarbeit von Johannes
Wienand
(Schriften des Historischen Kollegs 94), Berlin/Boston 2016, S.
605–633.
[13] Ich nenne hier –
stellvertretend für viele
weitere einschlägige Beiträge – nur exemplarisch: Hagen Keller,
Reichsorganisation, Herrschaftsformen und Gesellschaftsstrukturen
im Regnum
Teutonicum, in: Il secolo di ferro: mito e realtà del secolo X,
19–25 aprile
(Settimane di studio del Centro italiano di studi sul’alto
medioevo 38), Spoleto
1991, S. 159–203; Gerd Althoff, Spielregeln der Politik im
Mittelalter.
Kommunikation in Frieden und Fehde, Darmstadt 1997; ders.,
Inszenierte
Herrschaft. Geschichtsschreibung und politisches Handeln im
Mittelalter,
Darmstadt 2003; Bernd Schneidmüller: Konsensuale Herrschaft. Ein
Essay über
Formen und Konzepte politischer Ordnung im Mittelalter, in: Reich,
Regionen und
Europa in Mittelalter und Neuzeit. Festschrift für Peter Moraw,
hg. v.
Paul-Joachim Heinig u.a. Historische Forschungen 67). Berlin 2000,
S. 53–87;
Knut Görich, Die Ehre Friedrich Barbarossas. Kommunikation,
Konflikt und
politisches Handeln im 12. Jahrhundert, Darmstadt 2001; Timothy
Reuter,
Assembly politics in western Europe from the eighth century to the
twelfth, in:
ders., Medieval polities and modern mentalities, Cambridge 2006,
S. 193–216;
sowie die drei Bände: Die Macht des Königs. Herrschaft in Europa
vom
Frühmittelalter bis in die Neuzeit, hg. v. Bernhard Jussen,
München 2005, S.
83–89; Staat im frühen Mittelalter, hg. v. Stuart Airlie/Walter
Pohl/Helmut
Reimitz (Denkschriften. Akademie der Wissenschaften in Wien,
Philosophisch-Historische Klasse 334. Forschungen zur Geschichte
des
Mittelalters 11), Wien 2006; Der frühmittelalterliche Staat –
europäische
Perspektiven, hg. v. Walter Pohl/Veronika Wieser (Österreichische
Akademie der
Wissenschaften, Phil.-Hist. Klasse, Denkschriften 386. Forschungen
zur
Geschichte des Mittelalters 16), Wien 2009.
[14] Vgl. Michael Borgolte,
Biographie ohne
Subjekt, oder wie man durch quellenfixierte Arbeit Opfer des
Zeitgeistes werden
kann, in: Göttingische Gelehrte Anzeigen 249 (1997), S. 128–141.
Zitation
Forum: Zeiterfahrung: S. Patzold: Covid-19 und die Folgen für die
Mittelalterforschung, in: H-Soz-Kult, 03.12.2020, <www.hsozkult.de/debate/id/diskussionen-5079>.
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