Spiel ohne Grenzen? Fußball als
„Brandbeschleuniger“ der
Globalisierung
Woller, Hans: Gerd Müller oder Wie das große Geld in den Fußball
kam. Eine
Biografie. München 2019. ISBN 978-3-406-74151-7
Jonas, Hannah: Fußball in England und Deutschland von 1961 bis
2000. Vom
Verlierer der Wohlstandsgesellschaft zum Vorreiter der
Globalisierung. Göttingen
2019. ISBN 978-3-525-37086-5
Rezensiert für H-Soz-Kult von Jutta Braun, Leibniz-Zentrum für
Zeithistorische
Forschung Potsdam
Erst auf dem Deutschen Historikertag im Jahr 2000 nahm sich die
Zunft in einer
Sektion der Geschichte des Fußballsports als Teil der
bundesdeutschen
Zeitgeschichte an.[1] Nach zunächst überwiegend
kulturhistorischen Betrachtungen gelang es 2013 dem Stuttgarter
Historiker Nils
Havemann, das erkenntnisreiche Tor zu einer längst überfälligen
wirtschaftshistorischen Betrachtung der Bundesliga aufzustoßen.[2] Havemann skizzierte
erstmals das Gespinst
aus Gemeinnützigkeitsanspruch, halblegalen Steuersparmodellen,
Schwarzgeldzahlungen und Vetternwirtschaft mit der Lokalpolitik,
das den
Fußball im Zuge seiner Professionalisierung von Beginn an
begleitete. Hans
Woller hat diese Verflechtungen, die den Sport als markanten
politischen und
gesellschaftlichen Machtfaktor insbesondere der Regionalpolitik
sichtbar
machen, nun in die Tiefe gehend am Beispiel des FC Bayern München
erforscht.
Protagonist seiner rasanten Geschichte, „wie das große Geld in den
Fußball
kam“, ist der aus Nördlingen stammende Gerd Müller, der als
„Bomber der Nation“
sämtliche Höhen und Tiefen erlebte, die ein Fußballheld seiner
Generation
erfahren konnte: Weltmeister von 1974, Werbestar, Jugendidol –
aber auch Opfer
der Medien, die gegen Ende seiner Karriere seine privaten Probleme
ebenso
scheinheilig wie gierig ausweideten. Wollers eingehende
Presseanalyse zeigt
hierbei, wie die „Gezeitenwende“[3] im Sportjournalismus der
1990er-Jahre,
die eine Aufbereitung des Fußballs als Unterhaltungsshow nach sich
zog, bereits
in den 1970er-Jahren durch eine Hinwendung zum Boulevard
vorbereitet wurde:
Homestories und „Spielerfrauen“ hatten schon damals einen festen
Platz im
Blätterwald.
Zugleich wird in Wollers Untersuchung deutlich, welche Belastung
der Profisport
in doppelter Hinsicht darstellte: Neben ständigen Anfeindungen und
Machtspielen
in der hart umkämpften Branche trat ein wie selbstverständlich
hingenommener
physischer Verschleiß bis hin zur Invalidität ein, den „echte
Männer“ eben zu
ertragen hatten. Der Autor wirft hier auch einen beeindruckenden
Blick in das
korrespondierende Milieu aus fahrlässigen Medizinern und
Doping-freundlichen
Praktiken, in dem die Spieler sich ebenso bedenkenlos wie
leichtfertig bewegten
(S. 162–173). Der brisanteste Part des Buches sind jedoch die
Einblicke in das
„Amigo-System“ der CSU-geführten Landesregierung, auf das sich der
Verein
während der 1960er- bis 1980er-Jahre, die in der Studie primär
betrachtet
werden, meist zuverlässig stützen konnte. So wäre es den
Verantwortlichen im
bayerischen Finanzministerium offenbar „nicht im Traum
eingefallen, das
fußballerische Aushängeschild und dessen wichtigste Repräsentanten
an den
Pranger zu stellen“ (S. 117). Wollers Aktenfunde sowie die
unveröffentlichten
Memoiren des Vereinspräsidenten Wilhelm Neudecker (Amtszeit
1962–1979) legen
vielmehr das Gegenteil nahe: Die CSU-Politiker „stifteten die
Bayern-Führung zu
illegalen Praktiken an“ und erteilten ihr „die Lizenz zum
doppelten
Steuerbetrug bei Einnahmen im Ausland – durch den Verein und den
begünstigten
Spieler, denn das Verfahren funktionierte nur, wenn beide Seiten
mitmachten und
wenn die Spitze des Finanzministeriums die Augen verschloss“ (S.
117). Es ist
das große Verdienst Wollers, diese verdeckte Maschinerie
nachvollziehbar
rekonstruiert zu haben, etwa anhand des Nachlasses des ehemaligen
Finanzministers
Ludwig Huber (Amtszeit 1972–1977). Hingegen wurde ein Antrag auf
Schutzfristverkürzung für wesentliche staatliche Akten vom
Bayerischen
Staatsministerium der Finanzen und für Heimat wegen des
Steuergeheimnisses
abschlägig beschieden (S. 15). Überraschend ist, wie haarscharf
der Verein
immer wieder am Bankrott vorbeischlitterte – paradoxerweise,
gerade weil er so
erfolgreich war: Denn insbesondere die hohen Spielergehälter (und
die
informellen Handgelder) sowie die Prämien für erfolgreich
bestrittene Turniere
bedeuteten bereits in jenen Jahren eine immense Belastung für die
offiziell
noch „gemeinnützigen“ Vereine, die ihren langen Weg der
Transformation in ein
Wirtschaftsunternehmen, im Fall des FC Bayern München sogar in
eine
Aktiengesellschaft (seit 2001), noch vor sich hatten.
Mit genau dieser turbokapitalistischen Fortschreibung befasst sich
Hannah Jonas
in ihrer fundierten Geschichte des Fußballs in England und
Deutschland, die bis
in das Jahr 2000 reicht und sich neben Verbandsakten auf eine
breite Analyse
der Presseberichterstattung und der sporthistorischen wie
sportökonomischen
Forschung stützt. Bereits zu Gerd Müllers Zeiten stellten
internationale
Transfers die finanziell wie personell heikelste Angelegenheit des
Fußballgeschäfts dar. So beschwerte sich der Stürmer 1973 über
einen vom
Deutschen Fußball-Bund (DFB) untersagten Wechsel nach Barcelona
mit dem
durchaus sachgerechten Einwand, dass dieses Verbot nicht im
Einklang mit dem
Recht auf freie Berufswahl stehe (S. 133f.). Mit einer ähnlichen
Argumentation
brachte der belgische Erstliga-Spieler Jean-Marc Bosman im Jahr
1995 die
Architektur des gesamten europäischen Transfermarktes zum
Einsturz.[4] Das sogenannte
Bosman-Urteil des
Europäischen Gerichtshofes besagte, dass die bisherigen Praktiken
dem Prinzip
der Freizügigkeit der europäischen Arbeitnehmer widersprächen.
Hiermit fiel vor
allem die bisherige Obergrenze für die Anzahl ausländischer
Spieler in einer
Klubmannschaft.[5]
Wie sich in der Folge dieses Gerichtsurteils die Profiligen in
Windeseile
internationalisierten und „revolutionierten“, untersucht Jonas
eindrucksvoll in
vergleichender deutsch-englischer Perspektive. So charakterisiert
sie die
Geschichte des professionellen Vereinsfußballs in England und
Deutschland seit
den 1990er-Jahren als „Geschichte der zweiten Globalisierung in
nuce“. Der
Fußball entwickelte hier eine eigene Dynamik und wurde „selbst zur
Triebkraft“
der Globalisierung, da sein liberalisierter Arbeitsmarkt für
Profispieler im
Gegensatz zu anderen Wirtschaftsbranchen kaum noch
Migrationsbarrieren kannte
(S. 209). Als weiterer effektiver „Brandbeschleuniger“ der
Kommerzialisierung
wirkten die aufkommenden Privatsender, die für
TV-Übertragungsrechte im
wechselseitigen Bieterkampf nun Summen an Vereine entrichteten,
die ins
Astronomische stiegen (S. 220). Dadurch konnte sich auch der
Durchschnittsverdienst der Profispieler in beiden Ländern allein
zwischen 1995
und 2000 mindestens verdreifachen, mit Ausreißern nach oben wie
100.000 Pfund
pro Woche für David Beckham (S. 236).
Neben den Parallelen in der Entwicklung beider Fußballnationen
sind jedoch vor
allem die von Jonas herausgearbeiteten strukturellen Unterschiede
aufschlussreich: Während in England die Fußballklubs schon Ende
des 19.
Jahrhunderts als Wirtschaftsbetriebe arbeiteten, vollzog der
DFB-Bundestag erst
„100 Jahre später“, im Oktober 1998, diesen Schritt mit der
Erlaubnis, die
Lizenzabteilungen der Bundesligisten in Kapitalgesellschaften
umzuwandeln. Doch
suchte sich der bundesdeutsche Fußball trotz dieser nachholenden
Entwicklung
auch vor Auswüchsen des englischen Modells zu schützen: Verhindert
werden
sollte einerseits eine „Murdochization“, also der Aufkauf
einzelner Vereine
durch Massenmedien, andererseits eine Invasion „superreicher“
Eigentümer aus
dem Ausland, wie im Fall der Übernahme des FC Chelsea durch den
russischen
Oligarchen Abramowitsch (2003). Bis 2015 gehörten bereits mehr als
die Hälfte
der Klubs in der Premier League ausländischen Investoren. Als
Sperre gegen
derartige Entwicklungen hatte der DFB 1998 die sogenannte
50+1-Regel
festgelegt, nach der für die Bundesliga zugelassene Vereine
mindestens 50
Prozent zuzüglich eines weiteren Stimmanteils in der Versammlung
der
Anteilseigner ausgegliederter Kapitalgesellschaften halten müssen.
Dennoch ist
auch in Deutschland der Weg vom „Idealverein“ zum
Wirtschaftsunternehmen
unübersehbar (S. 241–243).
Ein zweites Leitmotiv neben dem „großen Geld“, das die Studien von
Hans Woller
und Hannah Jonas durchzieht, ist die Frage nach dem immateriellen
Wert des
Fußballs. Hier steht sogleich die Frage der „Authentizität“ im
Raum – ein
Begriff, der nicht nur bei Historikern eine hohe Konjunktur hat.[6] So wird im öffentlichen
Diskurs, vor
allem unter den Fußballanhängern, immer häufiger eine „Dichotomie
zwischen
‚authentischen‘ und ‚nicht-authentischen Formen‘ der
Fußballverbundenheit“
(Jonas, S. 267) behauptet; der „Kommerz“ wird gegen die
aufrichtige „Sympathie
für den Verein“ und die „Seele des Fußballs“ ausgespielt. Dieses
Deutungsmuster
wird auch in den beiden vorliegenden Studien aufgegriffen und
diskutiert, aber
mit unterschiedlichen Akzenten: So findet bei Woller die
berufliche Laufbahn
Gerd Müllers, der an seiner kommerziellen Verwertung nahezu
zerbrach, doch noch
ein versöhnliches Ende, als sich der Verein seines verlorenen
Sohnes
schließlich annimmt und ihn vor dem finalen Absturz bewahrt. Mehr
als zehn
Jahre arbeitete der Rekordtorschütze nach einer durch Uli Hoeneß
geebneten
Rückkehr zum FC Bayern als Jugend-Trainer an der Säbener Straße,
abseits des
Scheinwerferlichts. Es sind ebensolche Sinnhorizonte – wie
derjenige des
Vereins als Orientierung stiftende Gemeinschaft mit „Familiensinn“
(Woller, S.
289) –, an die allerorts eine „Memorialkultur im Fußballsport“[7] anknüpft und die der FC
Bayern im Fall
Müller offenbar beispielhaft einzulösen imstande war.
Jonas wiederum weist mit Recht darauf hin, dass eine scharfe
Trennlinie
zwischen Vermarktung und „wahrem Wert“ des Fußballs nicht so
leicht zu ziehen,
ja nicht einmal sinnvoll sei: Denn die Traditionalisten tragen
ihrer Ansicht
nach dazu bei, den Markenkern des Fußballs zu festigen, der an
vermarktbarem
Wert gerade dadurch gewinnt, dass man ihm eine den schnöden
Kommerz
transzendierende Dimension zuschreibt (S. 270). In gewisser
Hinsicht brachte
der gewiefte Manager Uli Hoeneß, dessen Bedeutung als neuer Typus
eines
strategisch denkenden Spielers und Managers beide Studien
hervorheben,
ebendieses Spannungs- und Abhängigkeitsverhältnis sehr offen in
seiner
prominenten „Wutrede“ aus dem Jahr 2007 auf den Punkt. Hier machte
er sich
nicht nur über die „schöne, alte Welt“ des Fußballs als
vermeintlich
unzeitgemäße Sehnsucht der Basis lustig, sondern konstatierte
auch, dass der
Verein den Leuten in der VIP-Loge „das Geld aus der Tasche ziehen“
müsse, damit
die Fans für sieben Euro das Spiel in der Südkurve genießen
könnten.[8]
Die Erfolgsgeschichte des FC Bayern als Prototyp der jüngeren
Entwicklung lässt
sich in beiden Studien chronologisch verfolgen: Während Woller die
feste
Verankerung des Vereins in der bayerischen Politik und seine
Regionalidentität
beschreibt, kann Jonas den folgenden Prozess der „Glokalisierung“[9] aufzeigen: Im Zuge einer
europäischen[10] und internationalen
Vermarktung des
Fußballs wächst der Wert des Traditionalen als „Branding“, das
sich wiederum
global vorzüglich verkaufen lässt. Dementsprechend besitzt der FC
Bayern als
mitgliederstärkster Fußballverein der Welt heute Anhänger rund um
den Globus.
Was auch immer der wahre, authentische Wert des Spiels sein mag:
Hans Woller
und Hannah Jonas haben in ihren wichtigen Arbeiten – aus der Warte
einer
Biografie ebenso wie in der Form eines sporthistorischen
Ländervergleichs – vor
allem eindrucksvoll nachgewiesen, warum die Kommerzialisierung aus
dem Fußball
nicht mehr wegzudenken ist. Dass der Fußballsport „das große Geld“
magisch
anzuziehen scheint, ist darüber hinaus eine Erkenntnis, die auch
für den sich
ganz und gar antikapitalistisch gebenden Fußball des ehemaligen
Ostblocks
zutrifft. Üppige Privilegien, offizielle und informelle Prämien
und Handgelder
prägten auch das Leben der offiziell als Amateure auflaufenden
Kicker in der
DDR, die in Jonas' Studie trotz ihres Blicks auf „Deutschland“
ausgespart
bleiben.[11] Auch König Fußball im
Staatssozialismus
hatte seine „Amigos“ – selbst wenn diese sich mit „Genosse“
ansprachen.
Anmerkungen:
[1] Im Jahr des 100-jährigen
DFB-Jubiläums fand
auf dem 43. Deutschen Historikertag in Aachen die vom Stuttgarter
Historiker
Wolfram Pyta geleitete Sektion „Kinder der Bundesliga“ statt.
[2] Nils Havemann, Samstags um
halb 4. Die
Geschichte der Fußballbundesliga, München 2013.
[3] W. Ludwig Tegelbeckers,
Spiegel der
„Erlebnisgesellschaft“? Der Fußball im Wandel vom Spielprozess zum
Marktprodukt, in: ders. / Dietrich Milles (Hrsg.), Quo vadis,
Fußball? Vom
Spielprozess zum Marktprodukt, Göttingen 2000, S. 9–15, hier S.
14.
[4] Bosman hatte Klage gegen den
belgischen
Fußballverband erhoben, da dieser ihm nicht den ablösefreien
Wechsel zu einem
französischen Klub gestattet hatte.
[5] Zuvor waren höchstens drei
ausländische
Spieler pro Klub zulässig (plus zwei „assimilierte“
Staatsangehörige anderer
Länder, die seit mehr als fünf Jahren für einen Verein antraten).
[6] Achim Saupe, Authentizität,
Version: 3.0,
in: Docupedia-Zeitgeschichte, 25.08.2015, https://docupedia.de/zg/Saupe_authentizitaet_v3_de_2015
(30.10.2020).
[7] Markwart Herzog (Hrsg.),
Memorialkultur im
Fußballsport. Medien, Rituale und Praktiken des Erinnerns,
Gedenkens und
Vergessens, Stuttgart 2013.
[8] Zur Hoeneß-Rede auf der
Jahreshauptversammlung des FC Bayern 2007 vgl. Havemann, Samstags,
S. 495.
[9] Richard Giulianotti / Roland
Robertson, Die
Globalisierung des Fußballs: ‚Glokalisierung‘, transnationale
Konzerne und
demokratische Regulierung, in: Peter Lösche (Hrsg.),
Fußballwelten. Zum
Verhältnis von Sport, Politik, Ökonomie und Gesellschaft, Opladen
2002, S.
219–251.
[10] Zur Bedeutung europäischer
Wettbewerbe wie
der Champions League vgl. Wolfram Pyta / Nils Havemann (Hrsg.),
European
Football and Collective Memory, Houndmills 2015.
[11] Die Westfälische
Wilhelms-Universität
Münster führte gemeinsam mit dem Leibniz-Zentrum für
Zeithistorische Forschung
Potsdam und dem Zentrum deutsche Sportgeschichte
Berlin-Brandenburg ein
dreijähriges Projekt zum Fußball in der DDR durch, das vom DFB
gefördert wurde.
Zitation
Jutta Braun: Rezension zu: Woller, Hans: Gerd Müller oder Wie das
große Geld in
den Fußball kam. Eine Biografie. München 2019. ISBN 978-3-406-74151-7 / Jonas, Hannah:
Fußball in England
und Deutschland von 1961 bis 2000. Vom Verlierer der
Wohlstandsgesellschaft zum
Vorreiter der Globalisierung. Göttingen 2019. ISBN 978-3-525-37086-5, In: H-Soz-Kult,
30.11.2020, <www.hsozkult.de/publicationreview/id/reb-28546>.
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