Ein Gelehrter am Münchener Hof. Die Tagebücher
des Andreas
Felix von Oefele (1706–1780)
Autor Markus Christopher Müller
Erschienen Kallmünz 2020: Verlag
Michael Laßleben
Anzahl Seiten X, 634 S.
Preis € 49,00
ISBN 978-3-7847-3127-8
Rezensiert für H-Soz-Kult von Andreas Oberdorf,
Institut für
Erziehungswissenschaft, Westfälische Wilhelms-Universität Münster
Der Literaturwissenschaftler und Shakespeare-Experte Stephen
Greenblatt, der
als Begründer des New Historicism gilt, prägte in den frühen
1980er-Jahren den
Begriff des „Self-Fashioning“, der die Konstruktion von Identität
in einem
Wechselspiel aus Selbstwahrnehmung und Selbstrepräsentation zu
beschreiben
suchte. Wie Greenblatt für die Kultur der englischen Renaissance
aufzeigte,
wird das Selbstverständnis eines Individuums von den kulturell
vermittelten,
symbolischen Ordnungen und spezifischen Rollenerwartungen
bestimmt, die auf die
alltägliche Lebensführung einwirken und zur Annahme entsprechender
Formen und
Praktiken der Selbstrepräsentation und Selbstvergewisserung
führen.[1] Das Konzept des
„Self-Fashioning“ wird
bis heute interdisziplinär rezipiert. In der Erforschung des 18.
Jahrhunderts
hat es schon vor einiger Zeit zu einer Hinwendung zur
Alltagsgeschichte der
Gelehrsamkeit beigetragen, in der das Selbstverständnis des
Gelehrten, sein
Wissen und seine alltäglichen gelehrten Praktiken in den
Mittelpunkt des
Interesses gerückt wurden.[2] Bislang fehlt es
allerdings an
umfassenden biographischen Studien, die sich diesen Zusammenhängen
an einem
konkreten Fall widmen.
Der Münchener Historiker Markus Christopher Müller hat jetzt eine
Arbeit
vorgelegt, die sich mit dem kurbayerischen Gelehrten,
Hofbibliothekar und
Prinzenerzieher Andreas Felix von Oefele (1706–1780)
auseinandersetzt und in
diesem Kontext ebenfalls das Konzept des „Self-Fashioning“
aufgreift. Eine
breite Quellenbasis bilden hierfür die 74 überlieferten
Tagebücher, die
Schreibkalender, die Korrespondenz sowie wissenschaftliche
Schriften Oefeles.
Die Tagebücher, die Oefele anhand seiner Schreibkalender
anfertigte, werden zu
Beginn der Untersuchung kritisch durchleuchtet, vor allem aus der
Perspektive
der Selbstzeugnisforschung im Schnittfeld neuerer literatur- und
geschichtswissenschaftlicher Forschungsansätze. Anhand dieser
Quellen
untersucht Müller, wie sich Oefele als Gelehrter verstand und zu
inszenieren
wusste, wobei das Schreiben der Tagebücher selbst zum Zeugnis
seines gelehrten
Arbeitens wurde. Müller zeigt aus einer praxeologischen
Forschungsperspektive,
wie sich gelehrtes Leben und Arbeiten in Oefeles Selbstzeugnissen
widerspiegelt
und inwiefern dies als „Self-Fashioning“ des Gelehrten gedeutet
werden kann.
Die Studie führt dabei vor Augen, dass Oefele im Laufe seines
Lebens
vielfältige Aufgaben übernehmen musste, die sich aus
privilegierten Positionen
am kurbayerischen Hof ergaben, etwa als Prinzenerzieher,
Kabinettssekretär,
Hofrat, Bibliothekar, Archivar und Historiograf. Oefele gelang es
dabei, wie
Müller an mehreren Stellen aufzeigt, die unterschiedlichen
Aufgaben,
Tätigkeiten und Rollenerwartungen des Hofes mit seinem eigenen
Selbstverständnis
als Gelehrter in Einklang zu bringen. Dies verwundert zwar nicht,
jedoch
beweist Oefele hierbei eine erstaunliche Flexibilität und
Geschick, sich in
vielerlei Bereichen gelehrtes Wissen anzueignen und seine
Expertisen für
höfische Belange einzusetzen.
Die Studie besteht aus sieben Kapiteln. Nach der Einführung in den
maßgeblichen
Quellenbestand und in die skizzierte Forschungsaufgabe (Kapitel
A), schildert
Müller die familiäre Herkunft Oefeles, dessen Schulbesuch in
München und das
Studium in Ingolstadt und Löwen (Kapitel B). Das
„‚Self-Fashioning‘ als
humanistischer Gelehrter“, so deutet Müller hier, sei schon in
jener Zeit durch
die Verbindung „jesuitischer Latinität und humanistischer
Gelehrsamkeit“ (S.
132) geprägt worden, sodass Oefele „als Meisterschüler des
Späthumanismus“ (S.
131–133) bezeichnet werden könne. Obwohl Müller den Zusammenhang
von Humanismus
und (katholischer) Aufklärung anmerkt, ist wenig einleuchtend,
warum er diesen
am Beispiel von Oefele nicht stärker entfaltet. Stattdessen
gelangt Müller
verfrüht zu der Einschätzung, dass Oefeles gelehrte Praxis
zweifelsfrei in der
Tradition älterer „Praktiken, besonders solche[r] des Barock und
des diesem
zugrundeliegenden (Spät-)Humanismus“, stünde und dass diese
Referenzfolie daher
"vorrangig, wenn nicht sogar ausschließlich" (S. 47) für eine
Analyse
von Oefeles gelehrten Praktiken heranzuziehen sei.
Anschließend wird ausführlich auf unterschiedliche Aspekte der
Religiosität und
Emotionalität Oefeles eingegangen, die Müller als „‚innere‘
Perspektive der
Tagebücher“ (Kapitel C) kennzeichnet. Hier wird die religiöse
Glaubenspraxis
Oefeles rekonstruiert. Dabei wird an diesem Beispiel einmal mehr
deutlich, dass
die frühneuzeitliche Frömmigkeitspraxis nicht in einen Gegensatz
zu
humanistischen Bildungsideen trat, obgleich sie stark auf die
heidnische Antike
rekurrierten. Zudem macht Müller deutlich, dass Oefele zwar
gläubiger Katholik
war und sich als katholischer Gelehrter verstand, jedoch nicht als
Theologe und
Apologet: „Die ‚dankbare‘ Rolle des auch in religiösen Fragen
beobachtenden
Historikers lag Oefele wesentlich mehr als die des streitenden
Theologen.“ (S.
173) Dies entspräche nicht nur Oefeles verinnerlichter
Religiosität, sondern
spiegele auch sein lebenslanges Streben nach Distanziertheit und
Selbstbeherrschung wider, das seinen Gelehrtenhabitus
strukturierte und mit dem
er kontingente Lebenserfahrungen zu bewältigen suchte.
In den weiteren Kapiteln wendet sich Müller dem Wirken Oefeles am
kurbayerischen Hof zu. Zunächst steht im engeren Sinne dessen
Tätigkeiten als
Gelehrter und Berater im Mittelpunkt des Interesses (Kapitel D),
durch die
Oefele am Hof an Einfluss und Ansehen deutlich gewann. Als
Prinzenerzieher und
Vertrauter des Herzogs Clemens (1722–1770), eines Neffen des
bayerischen Königs
und deutschen Kaisers, stieg Oefele bald in die obersten Kreise
des Kaiserhofes
auf. Er wurde Kabinettssekretär und Hofrat. Seine Position am Hof
müsse, so
Müller, „trotzdem als solitär verstanden werden“ (S. 351), da es
ihm – anders
als den Medizinern und Juristen am Hof – gelang, sich als
Gelehrter zu
präsentieren, dessen Stellung nicht durch eine spezifische
berufliche Tätigkeit
bestimmt wurde. Dass Oefele seine Stellung als „gelehrter Solitär“
(S. 506–508)
zu halten suchte, spiegelt sich auch in seiner Ablehnung neuer
Formen der
Vergesellschaftung des gelehrten Arbeitens wider, etwa im Zuge der
Akademiebewegung (S. 435–447). Müller betont, dass für Oefeles
Statusgewinn am
Hof die Einhaltung und Pflege erwünschter höfischer Praktiken
ebenso ausschlaggebend
waren wie das gelehrte Wissen, das dieser für die Belange des
Hofes richtig
einzusetzen wusste und wodurch er sich für höhere Hofämter
qualifizierte.
Dieser Aspekt wird von Müller im folgenden Kapitel aufgegriffen,
das Oefeles
Tätigkeiten am Hof als Historiograf, Bibliothekar, Archivar,
Sammlungsleiter,
Numismatiker und Bücherzensor darstellt (Kapitel E). Müller kommt
dabei zu der
Beobachtung, dass Oefele ein aufgeklärtes, modernes
Wissenschaftsverständnis
nicht teilte, sondern in seinem Denken und Handeln verhaftet blieb
in einer
„enge[n] Verschmelzung von bayerischem Patriotismus,
humanistischer
Gelehrtenpraxis und ein ausgesprochen historiografischen
Interessensschwerpunkt“ (S. 508). Zwei weitere, vergleichsweise
kurze Kapitel
bilden den Abschluss der vorliegenden Studie. Zunächst richtet
Müller den Fokus
auf Aspekte von Körper, Krankheit, Tod und die gelehrte Memoria
(Kapitel F),
wodurch zugleich das Lebensende Oefeles gerahmt wird, bevor Oefele
von Müller
abschließend „als Bayerns letzter Humanist“ (Kapitel G)
gekennzeichnet wird.
Dies geschieht anhand von drei Aspekten, die an vorherige
Ergebnisse
anschließen, und zwar anhand der in seinen Selbstzeugnissen
aufscheinenden
Materialität des gelehrten „Self-Fashioning“, der Prozessualität
humanistischer
Gelehrtenpraxis und der Historizität des bayerischen Patriotismus
zwischen
Späthumanismus und Aufklärung.
Wenn auch die kulturgeschichtlich-praxeologische Ausrichtung
dieser Studie
insgesamt überzeugt, so überrascht ein wenig, dass den
spezifischen Voraussetzungen
des kurfürstlichen bzw. kaiserlichen Hofs für Oefeles gelehrte
Praktiken
offenbar kaum eine Bedeutung zugemessen wird. Immerhin war Oefele,
der in
seinem Leben zahlreiche Ämter bekleidete, sich zu profilieren
wusste, in der
Hierarchie des Hofes aufstieg und als Gelehrter „Karriere“ machte,
ebenfalls
eingebunden in das komplexe Gefüge höfischer Patronage wie auch
ritueller und
symbolisch-zeremonieller Handlungen, die den Alltag am Hof
strukturierten.[3] Besonders interessant ist
zum einen die
Frage, wann es zu welchen Interessenskonflikten zwischen dem Hof
und Oefele kam
und ob dieser seine Abweichungen von dem erwünschten Verhalten und
von den
Erwartungen des Hofes an sein gelehrtes Arbeiten in seinen
Selbstzeugnissen zur
Sprache brachte. Zum anderen stellt sich hieran anschließend die
Frage, ob das
Handeln eines Akteurs innerhalb einer weitgehend geschlossenen
Hofökonomie
überhaupt als „solitär“ bezeichnet werden kann.
Die vorliegende Studie ist Ergebnis eines umfassenden und
akribischen
Quellenstudiums, das zunächst die Sichtung und Erschließung der
hauptsächlich
in lateinischer, deutscher und französischer Sprache verfassten
Selbstzeugnisse
von Andreas Felix von Oefele voraussetzte. Dies gestattet eine
äußerst
detailreiche Analyse seiner Lebensgeschichte, die Müller insgesamt
sehr
gelungen ist. Müller kann daher nicht vorgeworfen werden, aus
seinen
reichhaltigen Quellen lediglich eine Blütenlese zu betreiben, denn
auf den rund
540 Seiten werden die weiteren kleineren und größeren Rollen, die
Oefele in
seinem Leben zu spielen hatte, ebenso hinreichend thematisiert und
in einen
argumentativen Zusammenhang gebracht. Selbst wenn man sich des
Eindrucks nicht
erwehren kann, eine biografische Arbeit vor sich zu haben, so
zeigt Müller in
einer knappen „biografische[n] Skizze“ (S. 51f.), dass die
Gliederung der
Studie keinesfalls der Biografie Oefele folgt, sondern klare
systematische
Zuordnungen aufweist. Hieraus erschließen sich Themen- und
Bezugsfelder, die in
anderen aktuellen Gelehrtenstudien so nicht zum Gegenstand gemacht
werden, etwa
die Bedeutung der Familie, der Frauen und der eigenen Kinder, oder
auch die
Bedeutung von Religiosität und Emotionalität, die Müller ebenfalls
quellennah
zu rekonstruieren und in seine Studie einzubinden versteht.
Das Ergebnis ist eine umfang- und detailreiche Forschungsarbeit,
die den Blick
auf das Potential von Tagebüchern als historische Quellen schärft,
jedoch auch
ihre Risiken vor Augen führt, sich im Detail der Texte und im
Geflecht der
gegenseitigen Bezugnahmen manchmal verlieren zu können. Zukünftige
Arbeiten zur
Alltagsgeschichte der Gelehrsamkeit und zum gelehrten
„Self-Fashioning“ werden
um diese Studie nicht herumkommen. Auch für die Erforschung von
Humanismus und
Aufklärung im 18. Jahrhundert wird diese Arbeit ihren Beitrag
leisten, indem
sie auf Traditionen und Kontinuitäten gelehrter Praktiken
aufmerksam macht und
zugleich davor gefeit ist, „überall Neues und damit Aufklärung zu
sehen“ (S.
542). Dank der sorgfältigen Recherche, der intensiven
Auseinandersetzung mit
den Quellen und der insgesamt schlüssigen Argumentation bietet die
Studie daher
eine anregende und lesenswerte Lektüre.
Anmerkungen:
[1] Stephen Greenblatt,
Renaissance
Self-Fashioning. From More to Shakespeare, Chicago 1980.
[2] Martin Mulsow, Die
unanständige
Gelehrtenrepublik: Wissen, Libertinage und Kommunikation in der
Frühen Neuzeit,
Stuttgart 2007, S. 67–86; vgl. Richard Kirwan (Hrsg.), Scholarly
Self-Fashioning and Community in the Early Modern University,
Farnham 2013.
[3] Barbara Stollberg-Rilinger,
Zeremoniell,
Ritual, Symbol. Neue Forschungen zur symbolischen Kommunikation in
Spätmittelalter und Frühen Neuzeit, in: Zeitschrift für
Historische Forschung
27 (2000), S. 389–405.
Zitation
Andreas Oberdorf: Rezension zu: Müller, Markus
Christopher: Ein
Gelehrter am Münchener Hof. Die Tagebücher des Andreas Felix von
Oefele
(1706–1780). Kallmünz 2020. ISBN 978-3-7847-3127-8, In: H-Soz-Kult,
17.11.2020, <www.hsozkult.de/publicationreview/id/reb-50370>.