Völkermord zur Primetime. Der Holocaust im
Fernsehen
Herausgeber Judith Keilbach; Béla Rásky; Jana
Starek
Reihe Beiträge des VWI zur Holocaustforschung 8
Erschienen Wien 2019: new
academic press
Anzahl Seiten 406 S.
Preis € 31,00
ISBN 978-3-7003-2133-0
Inhalt meinclio.clio-online.de/uploads/media/book/toc_book-58382.pdf
Rezensiert für H-Soz-Kult von Magdalena
Saryusz-Wolska,
Deutsches Historisches Institut Warschau
Während der Umgang mit der NS-Geschichte im Fernsehen inzwischen
umfangreich
diskutiert wurde[1], dominieren in der
Forschung zu
televisuellen Darstellungen des Holocausts Analysen einzelner
Sendungen und
TV-Filme. Das Standardwerk „While America Watches. Televising the
Holocaust“
von Jeffrey Shandler ist inzwischen über 20 Jahre alt.[2] Der von Judith Keilbach,
Béla Rásky und
Jana Starek herausgegebene Sammelband, in dem Fernsehspiele,
Dokumentationen
und Serien aus sieben Jahrzehnten und dreizehn Ländern präsentiert
werden[3], stößt daher in eine
Forschungslücke, die
zu füllen längst überfällig war. Das Buch, in dem 21 deutsch- und
englischsprachige Aufsätze veröffentlicht sind, ist Resultat einer
Konferenz,
die 2014 am Wiener Wiesenthal Institut für Holocaust-Studien (VWI)
stattfand.
Im ersten Kapitel wird der Umgang mit der Holocaustthematik im
Fernsehen
unterschiedlicher Länder diskutiert, das zweite widmet sich
Analysen von
ausgewählten Fernsehspielen. Im dritten Abschnitt werden vier
Dokumentationen
vorgestellt, im Mittelpunkt des vierten stehen serielle Formate.
Im fünften und
letzten Kapitel werden Fragen nach den Wandlungen der
Holocaustthematik „nach
dem Fernsehen“, also hauptsächlich auf YouTube, gestellt. Die
Übergänge
zwischen den Kategorien sind allerdings fließend, denn einzelne
Fernsehspiele
repräsentieren unterschiedliche nationale Fernsehkulturen und
einige TV-Dokumentationen
könnten auch unter dem Stichwort „serielle Strukturen“ besprochen
werden.
Weil die Konferenz am Wiesenthal Institut anlässlich des 35.
Jubiläums der
Ausstrahlung der amerikanischen Mini-Serie „Holocaust – Die
Geschichte der
Familie Weiß“ (1978) stattfand, bildet sie den zentralen
Referenzpunkt vieler
Analysen. Eva Weibel, Lisa Schoß, Jan Taubitz, Julia Schumacher,
Rita Horváth
und Robby Van Eetvelde argumentieren in ihren Aufsätzen, dass die
europäischen
und US-amerikanischen Fernsehsender bereits vor der Ausstrahlung
der
mittlerweile kanonischen Mini-Serie Spielfilme zeigten, in denen
die
Vernichtung der europäischen Jüdinnen und Juden thematisiert
wurde.
Gleichzeitig bestätigt der Sammelband mehrfach, dass „Holocaust“
fast überall
eine erinnerungskulturelle Zäsur bildete – nicht nur in den USA
und in der
Bundesrepublik, sondern auch in Italien, Österreich, Jugoslawien
und sogar in
der DDR, wo die Mini-Serie gar nicht ausgestrahlt wurde, aber
dennoch
Reaktionen des Staatsapparates auslöste.
Die Autorinnen und Autoren machen zudem deutlich, dass der
televisuelle Umgang
mit dem Holocaust jeweils den Prämissen der nationalen
Erinnerungskulturen
folgte. Während in Bezug auf die Darstellungen des Holocausts im
Kino längst
eine „Europäisierung“ des Diskurses festgestellt worden ist[4], scheinen die Bilder der
Shoah im
Fernsehen mehr von nationalen Narrativen geprägt zu sein. Vor
allem öffentliche
Sender in Europa folgen der staatlichen Geschichtspolitik, wie
unter anderem
Raluca Moldovan am Beispiel des rumänischen und Klaus-Jürgen
Hermanik im
Hinblick auf das serbische Fernsehen zeigen. In der frühen
Bundesrepublik
hingegen war das Fernsehen dem politisch gesteuerten Umgang mit
Geschichte
einige Schritte voraus, wie Schumacher und Keilbach zeigen. Die
Sendungen von
Egon Monk oder die Übertragung des Eichmann-Prozesses haben die
westdeutsche
und österreichsische Geschichtspolitik geprägt, worüber Eva
Waibel, Renée Winter
und Drehli Robnik schreiben.
Der großen Bandbreite der präsentierten Fallbeispiele zum Trotz
sind die
Beiträge methodisch etwas monoton – die meisten Autorinnen und
Autoren
konzentrieren sich auf die Inhalte der jeweiligen TV-Produktionen.
Auf die mediale
Spezifik des Fernsehens wird nur vereinzelt eingegangen. Wulf
Kansteiner legt
dagegen in seinem umfangreichen Einführungstext eine Parallele
nahe zwischen
den „Bystanders“, die während des Zweiten Weltkrieges die
Vernichtung der
Jüdinnen und Juden passiv beobachteten, und den Zuschauer/innen,
die ebenso
passiv den Holocaust im Fernsehen anschauen. Der Akt des Sehens in
den privaten
Räumen unterscheide sich maßgeblich – so Kansteiner – von dem des
Sehens in der
Öffentlichkeit. Lediglich Keilbach geht auf die technischen
Aspekte der
Produktion von Dokumentationen des Eichmann-Prozess genauer ein;
Yael Munk
erwähnt ferner die Rolle des Finanzierungssystems des israelischen
Fernsehens
für die Produktion von Dokumentationen über den Holocaust.
Jenseits dessen
werden die Konsequenzen des kleinen Bildschirms, der Rezeption in
Privaträumen
oder der Wechselwirkungen mit anderen Sendungen in dem Buch aber
kaum
analysiert.
Nichtdestotrotz bietet der Sammelband viele interessante und
teilweise neue
Informationen zu den zahlreichen TV-Sendungen, die in Europa, den
USA und in
Israel den Holocaust thematisierten. Zwei wichtige Länder fehlen
allerdings in
der Zusammenstellung: Frankreich und Polen. Die wohl bekannteste
und
kritischste Antwort auf „Holocaust“ war die französische
Dokumentation „Shoah“
(1985) von Claude Lanzmann, die in mehreren europäischen Ländern
ausgestrahlt
wurde. Die polnische Propaganda hingegen nutzte das Fernsehen
schon in seiner
frühen Phase, um die Geschichte des Holocausts im Einklang mit der
polnischen
Geschichtspolitik darzustellen.[5] Zusammenfassend lässt sich
daher sagen,
dass das Buch alle Vor- und Nachteile eine Konferenzbandes zeigt:
Es
präsentiert ein breites, aber natürlich nicht vollständiges
Spektrum an Themen,
die in Aufsätzen von unterschiedlicher Gründlichkeit und
Scharfsinnigkeit
besprochen werden.
Anmerkungen:
[1] Vgl. u.a. Christoph Classen,
Bilder der
Vergangenheit. Die Zeit des Nationalsozialismus im Fernsehen der
Bundesrepublik
1955–1965, Köln 1999; Wulf Kansteiner, In Pursuit of German
Memory. History,
Television and Politics after Auschwitz, Athen 2006.
[2] Jeffrey Shandler, While
America Watches.
Televising the Holocaust, New York 1999.
[3] Im Klappentext ist von zehn,
nicht dreizehn,
Ländern die Rede, aber angesichts der Tatsache, dass manche von
ihnen nicht
mehr existieren – wie die DDR, Jugoslawien oder Tschechoslowakei
–, sind
unterschiedliche Zahlen möglich.
[4] Małgorzata Pakier, The
Construction of
European Holocaust Memory. German and Polish Cinema after 1989,
Frankfurt am
Main 2013.
[5] Michael Zok, Die Darstellung
der
Judenvernichtung in Film, Fernsehen und politischer Publizistik
der
Volksrepublik Polen 1968–1989, Marburg 2015.
Zitation
Magdalena Saryusz-Wolska: Rezension zu:
Keilbach, Judith;
Rásky, Béla; Starek, Jana (Hrsg.): Völkermord zur Primetime. Der
Holocaust im
Fernsehen. Wien 2019. ISBN 978-3-7003-2133-0, In: H-Soz-Kult,
17.11.2020, <www.hsozkult.de/publicationreview/id/reb-29520>.