Antike Mythen im schwäbischen Gewand. Gustav Schwabs Sagen des
klassischen
Altertums und ihre antiken Quellen
Autor Jonathan Groß,
Reihe Rezeption der Antike 6
Erschienen Göttingen 2020: Vandenhoeck
& Ruprecht
Anzahl Seiten 358 S.
Preis € 70,00
ISBN 978-3-946317-43-2
Rezensiert für H-Soz-Kult von Chen Mo, Institute for the History
of Ancient
Civilizations, Northeast Normal University, Changchun, China
Wer im deutschsprachigen Raum nicht einmal als Kind in Gustav
Schwabs „Sagen
des klassischen Altertums“ gelesen hat, hat eine Chance verpasst,
sich auf eine
natürliche und entspannende Weise eine Tür zur antiken Welt zu
öffnen, durch
die selbst in China bis heute ein breites Publikum Einlass in die
westliche
antike Mythologie erhält. Wirft man allerdings einen Blick in die
Rezeptionsgeschichtsforschung zum Pädagogen Gustav Schwab und
dessen Werk, der
sich selbst nie als Gelehrter oder Wissenschaftler sah (S. 289),
spürt man
sofort den Kontrast zwischen der Popularität wie dem großen Ruhm
seiner „Sagen“
und dem Außenseitertum des Verfassers, der in 200 Jahren nach
Erscheinen seiner
Sagensammlung nie als Stern der Literaturgeschichte angesehen
wurde. Obschon
des Öfteren in Forschungen zur Funktion von Mythen in der
Entwicklungspsychologie oder zur Mythenrezeption angesprochen,
wurden Schwab
wie sein Werk in der Regel eher stiefmütterlich behandelt,
meistens mit dem
Prädikat „zu populär“ beiseitegeschoben, jedenfalls der Wert des
Werktypus an
und für sich sowie die persona Schwab nicht gesondert gewürdigt.
Solchen
Unzulänglichkeiten der bisherigen Schwab-Forschung möchte Jonathan
Groß mit
seiner detaillierten Analyse von Schwabs Leben und Werk,
hervorgegangen aus
seiner an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf eingereichten
Dissertationsschrift, begegnen.
Schon ein erster Blick auf den Buchtitel lässt ein starkes
Abhängigkeitsverhältnis zwischen Schwab wie dessen „Sagen“ von den
antiken
Quellen erwarten. Aber was steht überhaupt hinter dem Gewand des
„Zauberers“
Schwab? Was war die eigentliche Absicht seiner „gestaltenden Hand“
(S. 292)?
Bei der Schilderung von Schwabs persönlichem Werdegang durch Groß
(S. 21–28)
stehen Popularisierung antiker Literatur und Vorbereitung der
literarischen
Bildung für die Jugendlichen als Anliegen des Pädagogen im
Mittelpunkt. Dieses
Schema erkennt man auch in der Analyse von Groß, denn blickt man
in das
Inhaltsverzeichnis, so spürt man an der Äquivalenz der Anordnung
und der
Reihenfolge der Protagonisten, dass er genau dem Rhythmus der
„Sagen“ folgt.
Das Bemerkenswerteste an dieser Untersuchung liegt ohne Zweifel in
ihrem
Arbeitsverfahren, da ihr das aus der poststrukturalistischen
Literaturwissenschaft bekannte Konzept der „Intertextualität“ zu
Grunde liegt.
Bei Groß sind besonders die Prätexte durchgehend im Fokus, die
verschiedene
antike Genres wie etwa Epos oder Tragödie, aber auch moderne
Lexika und
neuzeitliche Übertragungen umfassen. Der ausführliche Vergleich
dieser Prätexte
mit Schwabs Nacherzählung bildet den Schwerpunkt der
Quellenanalyse. Die
schematische Übersicht jeweils am Anfang der Erzähleinheiten
stellt mit
konkreten Werktiteln und Zeilennummern die genauen Entsprechungen
der
Schwabschen Nacherzählung mit ihren Prätexten vor, worauf dann an
umfangreichen
Beispielen die jeweilige Umgestaltung in Bezug auf Stil, Wortwahl,
Hinzudichtungen sowie absichtliche Auslassungen dargelegt wird.
Dabei
konstatiert Groß, dass sich bei Schwab keineswegs eine rein
„griechische
Zuneigung“ feststellen lasse. Auch wenn unter den antiken Quellen
offenbar mehr
griechische Lyriker, Epiker und Tragiker auffallen, zeigt Groß
vielmehr, dass
Schwab genauso viel Gewicht auf die lateinische Literatur gelegt
hat (etwa auf
Ovid oder Vergil). So werden etwa in der Analyse zum Komplex „Aus
der
mythischen Frühzeit der Menschheit“ (S. 44–96) detailliert die
Anlehnungen und
Parallelen zu den „Metamorphosen“ Ovids aufgezeigt.
So wie Schwab die Mythen für sein anvisiertes junges Lesepublikum
entschärft
und moralisch „gerecht“ zu formen versuchte, ist der Stil seines
Interpreten
ebenso zielorientiert: eine genaue Gliederung, deutsche
Übersetzungen bei jeder
Anführung griechischer oder lateinischer Quellen sowie die
sorgfältige
terminologische Abgrenzung machen diese Arbeit zu einem
hilfreichen
Referenzwerk für jede/n Rezeptionsforscher/in. Ein weiterer
Pluspunkt ist, dass
Groß sich nicht allein auf Schwab konzentriert, sondern auch
andere Facetten
der Rezeption antiker Mythologie im deutschsprachigen Raum
besonders zu Schwabs
Zeiten in seine Analyse mit eingebettet hat. Dass neben den
antiken Prätexten
insbesondere auch die Lexika, Übersetzungen und Paraphrasen
antiker Dichter im
Detail betrachtet werden, erweist sich durchaus als neuer Aspekt
der
Rezeptionsforschung, die eben über die antiken Quellen hinausgehen
muss, um den
Entstehungskontext eines solchen Werkes angemessen erfassen zu
können. Bei
Schwab werden so nicht nur weitbekannte Übertragungen (wie die
Apollodor-Übersetzung von Christian Gottlob Moser und die
Ilias-Übersetzung von
Johann Heinrich Voß), sondern auch manche von der
Wissenschaftsgeschichte oft
vernachlässigte Versionen (wie die Übersetzung des Aischylos von
Eucharius
Ferdinand Christian Oertel oder des Diodor von Julius Friedrich
Wurm) als
Ausgangspunkt für Schwabs konstruierte Mythenversion deutlich, vor
allem da
Schwab wegen seiner Tätigkeit als Mitherausgeber der Stuttgarter
Klassikausgaben im Metzler-Verlag an der entsprechenden „Quelle“
saß (S. 289).
Insgesamt gelingt es Groß damit, den Leser/innen im Laufe der
Quellenanalyse
einen umfassenden Blick in die Rezeptionslandschaft des 19.
Jahrhunderts zu
eröffnen.
Das „schwäbische Gewand“ wird also bei Groß von außen nach innen
mit höchster
Genauigkeit durchleuchtet, und dessen Farbschattierungen werden
jeweils
deutlich markiert. Ob die häufig wiederholte These, dass Schwab
seine
Nacherzählung „vom Glanze künstlerischer Darstellung“ entkleiden
wollte (zum
Beisiel S. 83), den ausführlichen Vergleichen mit den doch ganz
unterschiedlichen Prätexten gerecht wird, ist allerdings ebenso zu
fragen wie,
was nun das spezifisch „Schwäbische“ des Buchtitels – wenn es über
eine reine
Anspielung auf Schwabs Namen und Herkunft hinausgehen soll – als
distinktives
Rezeptionsmerkmal ausmacht. In jedem Falle füllt diese Publikation
eine Lücke in
der Rezeptionsforschung, die zukünftig auf das Werk von Groß
zurückgreifen
muss, um die Impulse auch auf andere Rezeptionsfelder zu
übertragen.
Zitation
Mo Chen: Rezension zu: Groß, Jonathan: Antike Mythen im
schwäbischen Gewand.
Gustav Schwabs Sagen des klassischen Altertums und ihre antiken
Quellen. Göttingen
2020. ISBN 978-3-946317-43-2, In: H-Soz-Kult,
02.11.2020, <www.hsozkult.de/publicationreview/id/reb-49716>.
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