Vorbild, Inspiration oder Abgrenzung?. Die
Amerikarezeption
in der deutschen Frauenbewegung im 19. Jahrhundert
Autor Magdalena Gehring
Reihe Geschichte und Geschlechter 75
Erschienen Frankfurt am Main 2020: Campus
Verlag
Anzahl Seiten 456 S.
Preis € 49,00
ISBN 978-3-593-51104-7
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Rezensiert für H-Soz-Kult von Andreas Neumann,
Universitätsgeschichtliche Forschungsstelle im Universitätsarchiv,
Friedrich-Schiller-Universität Jena
Getrieben von wirtschaftlicher Not und politischer Unterdrückung
fanden in den
USA zwischen 1818 und 1914 etwa 5,5 Millionen deutsche
Migrantinnen und
Migranten eine neue Heimat. Das tradierte Amerikabild, mit dem
sich die
Hoffnung auf ein ökonomisch besseres und freieres Leben verband,
trieb
verstärkt deutsche Auswanderer/innen nach Übersee. Insbesondere
nach der
gescheiterten Revolution von 1848/49 waren unter ihnen, neben
Arbeitern und
Handwerkern, auch Menschen aus bildungsbürgerlichen Kreisen: Diese
„Forty-Eighters“ bestanden nicht nur aus demokratisch denkenden
Männern,
sondern aus ebenso gesinnten Frauen, die fortan als transnationale
Akteurinnen
den europäischen Kontinent mit Informationen aus der „Neuen Welt“
versorgten.
Mit der Rezeption dieser Informationen beschäftigte sich Magdalena
Gehring in
ihrer Dissertation aus Sicht der bürgerlich-gemäßigten
Frauenbewegung in
Deutschland.
Gehring bearbeitet ein Desiderat in den Forschungen zur
Auswanderungsgeschichte
und der damit verbundenen Amerikarezeption in Deutschland und
Europa. Innerhalb
dieser Forschungsrichtung spielten Frauen lange Zeit eine
untergeordnete Rolle,
der Fokus lag auf männlichen Emigranten sowie den Texten von
Autoren. Den
programmatischen Auftakt zur Frage nach sowie der Erforschung von
internationalen Beziehungen zwischen Aktivistinnen der
Frauenbewegung lieferte
Ute Gerhard in den 1990er-Jahren.[1] Kurze Zeit später widmeten
sich Margaret
H. McFadden, Bonnie S. Anderson und Karren M. Offen dem Thema
transnationaler
Akteurinnen.[2] Die engere Perspektive
deutscher Frauen
wurde dabei jedoch kaum berücksichtigt. Seither erschienen
zahlreiche Arbeiten
mit dem Fokus auf transnationale Netzwerke.[3] Eine Forschungslücke
besteht allerdings
bei den Verbindungen zwischen deutscher und US-amerikanischer
Frauenbewegung
insbesondere vor der Entstehung international agierender
Organisationen wie dem
„International Council of Women“ (ICW) im Jahr 1888. Die sich
daraus
ableitenden Fragestellungen lassen sich in vier Bereiche gliedern:
Erstens
zielt das Interesse auf Funktion und Wirkung der Rezeption für die
deutsche
Frauenbewegung. So macht Gehring nicht nur die Ziele dieser
Bezüge, sondern auch
die programmatischen Einflüsse beispielsweise durch eine Übernahme
von
Forderungen oder Methoden sichtbar. Neben den Fragen nach dem
Grund des
Interesses der deutschen Frauen an der US-amerikanischen
Frauenbewegung möchte
Gehring zweitens die Akteurinnen des Rezeptionsprozesses und somit
die
transnationalen Beziehungen sichtbar machen. An dritter Stelle
richtet sich ihr
Interesse auf die Darstellung und Bewertung der US-Amerikanerinnen
sowie deren
Rolle und Stellung in der US-amerikanischen Gesellschaft.
Schließlich fragt sie
nach Themen und Inhalten der Rezeption sowie nach den Quellen
dieser
Informationen.
In ihrer Methodik nimmt Gehring eine akteurs- und
organisationszentrierte
Perspektive ein. Hierzu passt auch die von Susan Zimmermann
übernommene Unterscheidung
zwischen internationalen und transnationalen Beziehungen.[4] Während auf
internationaler Ebene die
formalen Beziehungen zwischen institutionalisierten Organisationen
sichtbar
werden, kommen auf transnationaler Ebene die informellen
Beziehungen zwischen
den Akteurinnen in den Blick. Zur Analyse der
Öffentlichkeitsebenen sowie des
gegenseitigen Einflusses zwischen den Bewegungen rezipiert sie die
Modelle von
Ulla Wischermann und Susanne Kinnebrock.[5] Aus dieser Perspektive
leitet sie drei
Thesen ab: Die Amerikarezeption der deutschen Frauenbewegung sei
seit ihren
Anfängen in den 1840er-Jahren durch personelle Kontinuität geprägt
gewesen, was
einen wichtigen Beitrag zum Gelingen der in den 1890er-Jahren
begonnenen
internationalen Zusammenarbeit leistete. Zudem hätte ein 1890
einsetzender
Generationswechsel als ein „positives Moment“ für die
Partizipation deutscher
Akteurinnen in diesen Bewegungen gewirkt. Schließlich ergäbe sich
aufgrund der
Rezeptionslücken kein „objektives und vollständiges Bild der
US-amerikanischen
Verhältnisse“ (S. 30). Implizit finden sich weitere Thesen: So
habe eine
gemeinsame bildungsbürgerliche Herkunft ermöglicht, dass die
deutschen Frauen
ihre Situation mit den US-Amerikanerinnen vergleichen konnten.
Zudem habe es
sich um eine gezielte Rezeption gehandelt, die beabsichtigte,
gesellschaftliche
und politische Veränderungen denkbar zu machen. Das Wissen über
die in den USA
geschehenen Veränderungen habe motivierend gewirkt und zur
Reflexion der
eigenen Situation beigetragen. Weitere Motive seien es gewesen,
über das Thema
der Auswanderung stellvertretende Kritik an den Verhältnissen zu
üben und
problematische Sachverhalte subtil zu thematisieren. Um diese
Thesen zu
untersuchen, nutzt Gehring zwei Hauptquellen: zum einen die
zwischen 1849 und
1852 erschienene und von Louise Otto-Peters redigierte
„Frauen-Zeitung“ und die
zwischen 1866 und 1919 veröffentlichten „Neuen Bahnen“, die damit
das
traditionsreichste Periodikum der deutschen Frauenbewegung
darstellt.
Im Aufbau ihrer Arbeit folgt Gehring der gewählten methodischen
Perspektive: Im
ersten Teil thematisiert sie Internationalisierungsprozesse.
Hierbei steht die
Entwicklung von Organisationsstrukturen wie Zeitschriften,
Akteursnetzwerke,
Versammlungen und Vereinsgründungen im Fokus. Die Amerikarezeption
besaß
bereits eine Tradition in der deutschen Presse. Gehring arbeitet
das qualitativ
Neue an der Rezeption durch die deutsche Frauenbewegung heraus.
Sie kann somit
glaubhaft ihre Thesen einer gezielten und kontinuierlichen
Veröffentlichung
untermauern. So ermöglichte eine zielgerichtete Berichterstattung
die Thematisierung
von Tabuthemen. Die dauerhaften Verbindungen zu mobilen
Akteurinnen legten den
Grundstein für eine zunehmend international agierende Bewegung.
Für ihre These
eines Zusammenhangs zwischen Generationswechsel und
Internationalisierung
findet Gehring allerdings keine Hinweise und erklärt diese für
widerlegt.
Vielmehr sei es eine Frage der persönlichen Einstellung gewesen,
ob sich
Akteurinnen in internationale Netzwerke begaben, und nicht eine
Sache des
Alters.
Der zweite Teil widmet sich den inhaltlichen Rezeptionsprozessen
mit einem
Fokus auf drei Kernthemen: der Frauenbildungsfrage,
Frauenerwerbsfrage sowie
der Frage nach politischen Rechten (Familienrecht und Wahlrecht).
Dabei stützt
Gehring das Bild der USA als einem „Pionierland“ mit klarer
Vorbildfunktion in
Sachen Erfahrungs- und Wissenstransfer. Konflikte, wie die
Spaltung der
US-amerikanischen Stimmrechtsbewegung, seien aus taktischen
Gründen in der
Berichterstattung verschwiegen worden, um dieses Bild
aufrechtzuerhalten. Abweichungen
ergaben sich dennoch: Die restriktiven Vereinsgesetze in Preußen,
Sachsen und
anderen deutschen Bundesstaaten erforderten eine „Methode der
kleinen Schritte“
(S. 357), die sich zum Teil deutlich von den US-amerikanischen
Bestrebungen
unterschied. Blinde Flecken identifiziert Gehring im Ausblenden
von
Frauenschicksalen, die nicht der weißen Mittelschicht angehörten
und in den
industrialisierten Gebieten im Nordosten und mittleren Westen
lebten. So
blieben beispielsweise die sich im „Black Women‘s Club“
assoziierten
Afroamerikanerinnen unsichtbar.
Im Amerikabild der deutschen Frauenbewegung scheint es kaum
negative Stereotype
gegeben zu haben, was im Vergleich zu bildungsbürgerlichen
Diskursen dieser
Zeit überraschend ist. Dort steht die USA häufig in Verbindung mit
einer aus
dem Ruder gelaufenen Moderne und die Stereotype unterscheiden
US-amerikanische
von deutscher Mentalität: Die Amerikaner erscheinen beispielsweise
als nervös,
oberflächlich, leidenschaftlich und zentriert an bloßer
Nützlichkeit. Spannungsverhältnisse
zeigten sich in der von Gehring untersuchten Rezeption lediglich
am Thema des
Nationalismus, der die damalige Idee einer „Universal Sisterhood“
zwischen den
nationalen Frauenbewegungen als eine Utopie erscheinen lässt.
Gehrings Arbeit liefert einen breiten Überblick zu
Organisationsstrukturen und
Themenfeldern. Tiefe erreicht ihre Studie durch die nahezu
lückenlose Analyse
der beiden Hauptquellen. Neben diesen Stärken finden sich
insbesondere in
methodisch-analytischer Hinsicht kleinere Schwächen: So erweckt
die Redundanz
einer vermuteten Taktik, Strategie oder gezielten Aktivität
stellenweise den
Eindruck einer durchorchestrierten Frauenbewegung – wobei diese
Interpretation
allerdings der gewählten akteurszentrierten Perspektive geschuldet
ist. Zudem
fehlt durch ihre Zentrierung auf den ADF die Perspektive des
„radikalen
Flügels“ der Frauenbewegung, der seine Aktivitäten in den
1890er-Jahren
entfaltete. Auf diese Leerstelle macht Gehring allerdings in ihrem
Ausblick
selbst aufmerksam und verweist auf eine noch ausstehende Analyse
der
Zeitschrift „Die Frauenbewegung“. Schwerer wiegt die Frage nach
bewussten und
unbewussten Lücken in der Rezeption, welche die Idee der
Möglichkeit einer
lückenlos-objektiven Rezeption impliziert. Auch die Vorstellung,
mithilfe der
Sekundärliteratur heute diese Lücken schließen zu können,
erscheint fragwürdig.
Von diesem methodologischen Problem abgesehen, empfiehlt sich die
Lektüre der
Studie vor allem vor dem Hintergrund gegenwärtiger Entwicklungen:
In ihrer Ambivalenz
erscheinen die USA heute wie damals sowohl als ein Land
progressiver Ideen als
auch als eine Gesellschaft, in der sich alle Probleme der modernen
Welt wie in
einem Brennglas zu offenbaren scheinen.
Anmerkungen:
[1] Ute Gerhard, National oder
International.
Die internationalen Beziehungen der deutschen bürgerlichen
Frauenbewegung, in:
feministische studien 12 (1994), S. 34–52.
[2] Margaret H. MacFadden, Golden
cables of
sympathy. The transatlantic sources of nineteenth-century
feminism, Lexington,
Ky. 1999; Bonnie S. Anderson, Joyous greetings. The first
international women’s
movement, 1830–1860, New York 2000.
[3] Siehe etwa Cordelia Scharpf,
Die
deutsch-amerikanische Zeitschrift „Die Neue Zeit“ (New York,
1869–1872). Mit
Beiträgen von und über Luise und Ludwig Büchner, in:
Louise-Otto-Peters-Jahrbuch (2014), S. 73–107.
[4] Susan Zimmermann,
FrauenBewegung und
Trans-Nationalität. Feministisches Denken und Streben im globalen
und
zentraleuropäischen Kontext des 19. und frühen 20. Jahrhunderts,
in: Hartmut
Kaelble / Hartmut Kirsch (Hrsg.), Transnationale Öffentlichkeiten
und
Identitäten im 20. Jahrhundert, Frankfurt am Main u.a. 2002, S.
263–302.
[5] Ulla Wischermann,
Frauenbewegungen und
Öffentlichkeiten um 1900. Netzwerke – Gegenöffentlichkeiten –
Protestinszenierungen, Königstein im Taunus 2003; Susanne
Kinnebrock, Wahrhaft
international? Soziale Bewegungen zwischen nationalen
Öffentlichkeiten und
internationalen Bewegungsverbund, in: Eva Schöck-Quinteros / Anja
Schüler /
Annika Wilmers / u. a. (Hrsg.), Politische Netzwerkerinnen.
Internationale
Zusammenarbeit von Frauen, 1830–1960, Berlin 2007, S. 27–55.
Zitation
Andreas Neumann: Rezension zu: Gehring,
Magdalena: Vorbild,
Inspiration oder Abgrenzung?. Die Amerikarezeption in der
deutschen
Frauenbewegung im 19. Jahrhundert. Frankfurt am Main 2020. ISBN 978-3-593-51104-7, In: H-Soz-Kult,
23.10.2020, <www.hsozkult.de/publicationreview/id/reb-28820>.