Geschichte der Völkerwanderung. Europa, Asien
und Afrika vom
3. bis zum 8. Jahrhundert n.Chr.
Autor Mischa Meier
Reihe Historische Bibliothek der Gerda Henkel Stiftung
Erschienen München 2019: C.H.
Beck Verlag
Anzahl Seiten 1.531 S.
Preis € 58,00
ISBN 978-3-406-73959-0
Rezensiert für H-Soz-Kult von Rene
Pfeilschifter, Julius-Maximilians-Universität Würzburg
Als die Post kam, war ich überrascht, dass das Buch von Mischa
Meier nicht das
befürchtete Brikett ist, sondern trotz seiner eineinhalbtausend
Seiten kompakt
und angenehm in der Hand liegt. Der Verlag hat dünnes Papier
verwendet, das
aber stabil ist und leichtes Umblättern erlaubt. Das ist kein
kleiner Vorteil.
Denn wer über Spätantike und frühes Mittelalter arbeitet, wird das
Buch häufig
aus dem Regal nehmen. Es wird, das sei jetzt schon gesagt, für
Jahrzehnte das
Grundbuch für sein Thema sein.
Nach einer monumentalen Einleitung von über einhundert Seiten
gliedert Meier in
drei große Teile: von etwa 250 bis zum vierten Jahrhundert, ein
langes fünftes
Jahrhundert, vom sechsten Jahrhundert bis etwa 750. Diese
Zeitabschnitte sind
in sich nach Regionen gegliedert, etwa Donaugrenze, Britannien
oder Afrika. Das
sorgt hin und wieder für Merkwürdigkeiten, etwa dass der Tod
Theoderichs 526
vor der Ansiedlung der Westgoten in Aquitanien 418/19 geschildert
wird.
Insgesamt handelt es sich aber um eine sinnvolle Disposition, die
leichtes
Auffinden von Interessantem und das Verfolgen von Prozessen
erlaubt.
Vielleicht ist bemerkenswerter, wonach Meier nicht gliedert: nach
Völkern.
Goten, Hunnen, Vandalen und Awaren sind für ihn keine festgefügten
ethnischen
Verbände, sondern an den Rändern unscharfe und häufig raschem
Wandel
unterworfene Identitätsgruppen. Für ihren Zusammenhalt waren nicht
nur Herkunft
oder Sprache Kriterien, sondern auch Fremdzuschreibungen der
imperialen Eliten.
Sie wanderten nicht einfach von A nach B, sondern führten komplexe
Migrationen
aus komplexen Gründen durch. Völkerwanderung, so Meier, war ein
„permanenter
Aushandlungsprozess um Zugehörigkeit und Abgrenzung“ (S. 362).
So weit ist das die herrschende Meinung in der Forschung. Schon
ungewöhnlicher
ist, dass Meier neben den üblichen Verdächtigen auch Slawen,
Berber und Araber
einbezieht. Die Analyse geht also rund ums Mittelmeer oder, wenn
man so will,
rund um das Reich. Tatsächlich bildet das Imperium Romanum die
Klammer, den
Rahmen, den Fixpunkt der Darstellung. Ziel der meisten
Identitätsgruppen sei
zunächst die Integration in den Reichsverband gewesen, später in
kleinere
Einheiten, wie die Ostgotenherrschaft in Italien, die sich
freilich immer noch
als Teil des großen Ganzen verstanden. Selbst ein Attila
überdehnte gegen Ende
seines Lebens nicht bloß seine Machtansprüche, sondern bereitete
durch das
Bemühen um Integration in die römische soziopolitische Kultur, der
er letztlich
nicht genügen konnte, seinen Untergang vor.
Die Einbettung in die Reichsgeschichte ist für
Althistoriker/innen, anders als
für Mediävist/innen, nicht fernliegend. Aber das Ganze ist nicht
nur eine Frage
der Perspektive. Das Imperium ist für Meier und einige andere
neuere
Forscher/innen kein bloßes Opfer ungünstiger Umstände und
plündernder Scharen.
Die Römer brachten viele der historischen Prozesse, die wir mit
der
Völkerwanderung verbinden, erst in Gang. Sie beeinflussten sie,
wie sie selbst
von ihnen beeinflusst wurden, und schließlich waren die
Entwicklungen im
Reichsinneren zu einem guten Teil von Pfadabhängigkeiten geprägt,
die mit der
Völkerwanderung gar nichts zu tun hatten. Dazu gehörten eine
Entfremdung gerade
der ländlichen Bevölkerung und der Unterschichten, die zum
Beispiel in Afrika
die spätere Herauslösung aus dem Reich begünstigte, oder die
wachsende Distanz
zwischen dem lateinischen Westen und dem griechischen Osten, die
nicht nur eine
politische war.
Das wichtigste dieser Elemente ist für Meier – und das wird
Kenner/innen seines
Œuvres nicht überraschen – die Religion. Die grundlegende
Verchristlichung der
römischen Gesellschaft, welche die Forschung mit einem nicht
besonders
glücklichen Begriff Liturgisierung nennt, habe die Religion
spätestens im
sechsten Jahrhundert zum wesentlichen Anker für eine von
verschiedenen Krisen
(Seuchen, Naturkatastrophen, Himmelserscheinungen, Kriege,
natürlich auch die
negativen Folgen der Migrationen) erschütterte Bevölkerung werden
lassen. Aus
demselben Nährboden erwuchs aber auch das homöische
Sendungsbewusstsein der
Vandalen, das sie zumindest anfangs derart kompromisslos gegenüber
dem
nizänischen Bekenntnis der unterworfenen Africaner und den
Ausgleichsbemühungen
diverser Kaiser agieren ließ. Im siebten Jahrhundert war es dann
die
Liturgisierung des östlichen Mittelmeerraums, die erst den
„Ermöglichungsraum“
(S. 1060) für den Islam schuf. Diese These Meiers wird vielleicht
für die
intensivsten Diskussionen sorgen. Er parallelisiert den
Wiedereinzug Mohammeds
in Mekka und die Rückführung des Wahren Kreuzes nach Jerusalem
durch Kaiser
Herakleios, beides Ereignisse des Jahres 630 und eindrucksvolle
Höhepunkte
eines religiösen Aufladungsprozesses.
So ist dieses Buch weit mehr als eine Darstellung der
Völkerwanderung geworden.
Es handelt sich um eine Geschichte der Mittelmeerwelt und der
angrenzenden
Regionen, mit einem gewissen Gewicht auf den Migrationen und
„Barbaren“. Ein
befreundeter Kollege erzählte mir vor dem Beginn des
Coronasemesters, seine
Universitätsbibliothek erlaube für jede Lehrveranstaltung die
Anschaffung genau
eines E-Books. Für seinen Kurs zur Spätantike sei dies zum Glück
kein Problem.
Angesichts des neuen Buchs von Mischa Meier brauche man im Grunde
kein anderes
mehr.
In der Tat: Meier hat in einer atemberaubenden Anstrengung die
Summe der
bisherigen Forschung gezogen. Das engbedruckte
Literaturverzeichnis umfasst
einhundert Seiten. Nur selten sind mir Partien aufgefallen, die
nicht auf dem
allerletzten Forschungsstand sind, kein einziges Mal eine, die
nicht auf einem
vertretbaren ist. Es handelt sich um kein revisionistisches Buch.
Sein Autor
ist zufrieden damit, der Forschung zu folgen, wenn sie ihm
vernünftig
erscheint. Wo das nicht der Fall ist, bezieht er aber deutlich
Stellung. Häufig
geschieht dies gegen Thesen aus dem englischsprachigen Raum, und
das macht sein
Werk auch zu einem sehr deutschen oder vielleicht besser:
kontinentalen Buch.
In der bekannten Debatte, ob das Völkerwanderungsgeschehen eher
als
Transformation oder als Abfolge kriegerischer Invasionen
einzuordnen sei,
spricht sich Meier fast zwangsläufig für die erste Option aus.
Denn je weiter
der erzählerische Rahmen und der betrachtete Raum gespannt sind,
desto leichter
lassen sich die Katastrophen insbesondere des fünften Jahrhunderts
als Teil
unvermeidlichen historischen Wandels begreifen. Dabei wischt Meier
die selbst
für die Antike exzessiven Gewaltanwendungen keineswegs beiseite.
Er erklärt
seinen Standpunkt im Epilog mit einleuchtender Einfachheit: Das
Römische Reich
decke sich ja nicht mit der Spätantike, und während das eine fast
untergegangen
sei, habe die andere den Boden für eine neue Mittelmeerwelt und
ein neues
Europa geschaffen.
Bei allen Vorzügen des Werkes, zu denen nicht zuletzt die
wunderbaren, von
Peter Palm gezeichneten Karten zählen, gibt es doch ein Manko: Nur
wenige
werden das Buch im Ganzen lesen. Trotz des literarischen Talents
des Autors,
des gelegentlichen Humors, der analytischen Höhepunkte haben es
Leser/innen,
die nicht bereits gut über die Spätantike Bescheid wissen, schon
wegen der
nicht strikt chronologischen Gliederung schwer. Und spätestens
wenn sie im Text
auf eine unübersetzte griechische Wendung treffen, wissen sie,
dass das Buch
nicht primär für sie geschrieben ist.
Doch auch Spezialist/innen werden eher Passagen, Abschnitte oder
Kapitel lesen.
Selbst ihnen wird es schwerfallen, dabeizubleiben, wenn sie sich
nach achthundert
Seiten wieder einmal durch Ursprungslegenden und Ethnogenese
arbeiten müssen,
diesmal die der Langobarden. An der Fülle der Details droht selbst
der größte
Enthusiasmus zu brechen. Wirklich schlimm ist das freilich nicht.
Einige der
größten Bücher der Alten Geschichte hat kaum jemand von vorn bis
hinten
durchgelesen. Mommsens Staatsrecht oder Jones‘ Later Roman Empire
fallen mir
ein.
Der tiefere Grund für das „Problem“ ist das Fehlen der einen,
treibenden These
und der neuen Meistererzählung. Meier begründet dies, noch
ziemlich am Anfang,
mit der lückenhaften Quellenlage und dem weitgehenden Fehlen der
Perspektiven
der Migranten. Die Völkerwanderung erzähle sich nicht von selbst.
Doch
eigentlich stehen die Leitmotive, aus denen sich das große
Narrativ formen
ließe, durchaus bereit: die Religion, das Reich im Mittelpunkt,
die
Verflechtung von allem mit jedem. Eine Straffung, Akzentsetzung
und
Dramatisierung der Darstellung wäre durchaus möglich gewesen, und
es wäre eine
legitime Entscheidung gewesen. Dass Meier diese Entscheidung sah
und bewusst
nicht traf, wird erst im Epilog deutlich: „Wer sich auf die
Komplexität des
Gegenstandes einlassen möchte, erkauft dies mit dem Verlust der
großen
Erzählung“ (S. 1090). Ausführlichkeit und Detail sind damit
gerechtfertigt. Den
Leser/innen wird ein eigenes Urteil ermöglicht, anstatt dass der
Verfasser es
für sie fällt. Die Uneindeutigkeit historischer Prozesse wird
akzeptiert und
nicht in der Interpretation aufgehoben. Diese Haltung kostet Meier
Leser/innen
und Rezeptionstiefe. Sein wissenschaftliches Ethos aber ist
bewundernswert.
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