Alles nur gekauft?. Korruption in der
Bundesrepublik seit
1949
Autor Engels,
Jens
Ivo
Erschienen Darmstadt 2019: Wissenschaftliche
Buchgesellschaft
Anzahl Seiten 399 S.
Preis € 35,00
ISBN 978-3-8062-4023-8
Rezensiert für H-Soz-Kult von Thorsten Holzhauser,
Historisches Seminar,
Johannes Gutenberg-Universität Mainz
Die Bundesrepublik galt lange Zeit als korruptionsfrei. Der
deutsche Beamte war
unbestechlich, politische Sauberkeit galt als teutonische
Kerntugend und
Bestechung war ein Phänomen vormoderner Gesellschaften. Seit den
1980er-Jahren
erlebte aber auch die Bundesrepublik Affären und Debatten um
Bestechung und
Vorteilsnahme, Parteien und Politiker galten vielfach als
„korrupt“ und 2012
musste schließlich ein Bundespräsident über die Frage
zurücktreten, wer seine
Hotelrechnung bezahlt hatte. Wie es zu diesem offensichtlichen
Wandel kam,
fragt der Darmstädter Historiker Jens Ivo Engels in seinem Buch
zur Korruption
in der Bundesrepublik seit 1949 – und gibt ebenso interessante wie
streitbare
Antworten.
Wer Engels‘ wissenschaftlichen Ansatz nicht kennt, wird schnell
irritiert sein:
Untertitel und einige Kapitelüberschriften versprechen eine
Geschichte der
Korruption in der Bundesrepublik und werden beim
nicht-wissenschaftlichen
Publikum, für das das Buch sichtlich (auch) geschrieben ist, die
Erwartung an
einen historischen Kriminalroman schüren, der endgültig Licht ins
Dunkel der
Korruption in Deutschland bringt. Engels aber geht einen anderen
Weg und
versucht, die selbst erzeugten Erwartungen schon in der Einleitung
zu
zerstreuen. Nicht eine Geschichte „der Korruption“ solle es sein,
sondern eine
Geschichte der „Debatten und Skandale“ rund um das Phänomen (S.
12). Der Autor
folgt damit wie schon in seinem Vorgängerbuch zur Geschichte der
Korruption
seit der Frühen Neuzeit einer Tendenz in der jüngeren Forschung
zur
Korruptionsgeschichte: Der Schwerpunkt liegt nicht auf Praktiken,
sondern auf
Deutungen.[1]
Das hat mehrere Gründe: „Die“ Korruption gibt es nicht und was
darunter
verstanden wird, definiert (bis zu einem gewissen Grad) der
Diskurs, der auch
die Grenze zwischen Öffentlichkeit und Privatem, zwischen
legitimem und
illegitimem Handeln bestimmt. Engels geht sogar so weit, dem Thema
Korruption
generell die Tauglichkeit als wissenschaftliche Kategorie
abzusprechen, weil es
sich um ein moralisches Urteil handele, das zwar beschreibbar,
aber nicht
messbar sei. Die Konzentration des Buchs auf öffentliche Debatten
ergibt sich
aber auch aus dem Umstand, dass es sich mit einem Phänomen
beschäftigt, das
nicht leicht aufzuarbeiten ist, weil es in der Regel im
Verborgenen geschieht,
mit dem Ziel, im Verborgenen zu bleiben.
Engels‘ Befund, dass Korruption in der frühen Bundesrepublik eine
vergleichsweise geringe Rolle gespielt habe, bedeutet daher auch
nicht, dass es
sie nicht gegeben hätte. Stattdessen arbeitet das Buch sehr gut
heraus, wie die
politischen und medialen Eliten der Ära Adenauer darin
übereinstimmten, dass
eine allzu starke Thematisierung oder gar Skandalisierung von
Korruptionsfällen
die junge Demokratie gefährden und antidemokratische Ressentiments
reaktivieren
würde. Stattdessen gelang der jungen Bundesrepublik ein
diskursiver Coup:
Korruption wurde als wesentliches Kennzeichen totalitärer Regime
interpretiert
und die parlamentarische Demokratie nicht mehr, wie noch zu
Weimarer Zeiten,
als Hort der Korruption be-, sondern als Gegenmittel zu ihr
verschrieben. Die
zurückhaltende, von Engels etwas beschönigend als „sachlich“
bezeichnete Art,
in der Korruptionsfälle in der frühen Bundesrepublik medial
verhandelt (oder
nicht verhandelt) wurden, hatte daher viel mit dem Ringen der
Westdeutschen zu
tun, sich vom NS-Regime zu distanzieren und zugleich eine neue
Demokratie
aufzubauen. Um diese zu stützen, kreierten Medien und Politik eine
Vorstellung
von einer vermeintlich korruptionsfreien Bundesrepublik. Diese
wurde auch durch
die Großaffären um die gekaufte Hauptstadt-Entscheidung, die
Einflussnahme von
Auto- und Rüstungsindustrie oder das gescheiterte Misstrauensvotum
gegen Willy
Brandt nicht erschüttert. Die Verbindungen eines Abgeordneten der
Christlich
Demokratischen Union zu einem Wirtschaftsunternehmen, die im Jahr
2020 den
„Eindruck der politischen Käuflichkeit“[2] erwecken, hätten in der
frühen
Bundesrepublik wohl kaum zu medialer Aufregung geführt. Erst die
Flick-Affäre
der 1980er-Jahre, so Engels, habe ein größeres Umdenken zur Folge
gehabt und
den Mythos von der unkorrumpierbaren Bundesrepublik nachhaltig
erschüttert.
Dies wiederum ereignete sich vor dem Hintergrund eines Wandels des
Politischen,
in dem neoliberale Staatskritik, populistische Parteienkritik und
globale
Antikorruptionspolitik zusammenkamen.
Um solche größeren Zusammenhänge geht es Engels in erster Linie,
weniger um
einzelne Korruptionsfälle, von denen er zwar die
öffentlichkeitswirksamsten
nachzeichnet, deren Darstellung aber streckenweise etwas
summarisch anmutet.
Dafür wartet der Autor immer wieder mit erhellenden Einsichten
auf, die sich
vor allem aus dem Gesamtbild von mehr als sechs Jahrzehnten
ergeben. Weniger
die Korruption steht dabei im Interesse als die mit ihr
verbundenen sozialen
Vorstellungen von Politik, Wirtschaft und Moral, privatem,
ökonomischem und
öffentlichem Nutzen. Wurden Korruptionsfälle in der frühen
Bundesrepublik noch
vor dem Hintergrund der klaren Trennung zwischen (vermeintlich
unbestechlichem)
Staat und (korrumpierbarer) Öffentlichkeit verhandelt, so verschob
sich im
Laufe der Zeit die Bewertung: Der Staat selbst wurde mehr und mehr
als
korruptionsanfällig beschrieben.
Zu den aufschlussreichsten und brisantesten Passagen des Buchs
gehört der
längere Exkurs zur Herausbildung einer neoliberal inspirierten
Antikorruptionspolitik in den 1990er-Jahren, einem „Jahrzehnt der
Korruptionsobsession“ (S. 170). Wissenschaften, Unternehmen,
Regierungen und
internationale Organisationen wie Weltbank, Internationaler
Währungsfonds und
Transparency International setzten das Thema Korruption auf die
internationale
Agenda und sagten dem „Krebsgeschwür“ (Weltbank-Chef Wolfensohn)
den Kampf an.
Sie wurden so zu Akteuren einer sich global entwickelnden
„Antikorruptionsindustrie“ (Steven Sampson). Hatte sich die
westliche
Korruptionskritik traditionell aus einem kapitalismuskritischen
Geist gespeist,
so galt in den 1990er-Jahren das Gegenteil: Korruption wurde zum
Beweis für
negative Einflüsse des Staates, zum politischen Instrument, um
politische und
ökonomische Reformen durchzusetzen, und zur „Erklärung für das
Versagen der
Marktwirtschaft in den Ländern des Übergangs“ (S. 199): Nicht der
Markt war
schuld, sondern die Korruption staatlicher Eliten.
Ebenso scharf wie mit der neoliberalen Antikorruptionspolitik geht
Engels auch
mit ihren wissenschaftlichen Grundlagen ins Gericht, insbesondere
mit einer von
„Naivität“ (S. 153) geprägten wirtschaftswissenschaftlichen
Korruptionsforschung, die aus Perzeptionen Tatsachen machte, aus
Korrelationen
Kausalitäten und aus ideologischen Annahmen scheinbar
nachgewiesene
Zusammenhänge über Markt, Staat und Korruption. Paradoxerweise
ging, so Engels,
mit der trügerischen Quantifizierung auch eine Moralisierung der
Korruption im
Zeichen des Transparenzgebotes einher: In der „Berliner Republik“
wurde die
Gier von Managern und Betriebsräten im Rheinischen Kapitalismus
gegeißelt und
lösten sich die Grenzen zwischen Öffentlichem und Privatem
zunehmend auf. Wer
in der Öffentlichkeit stand, musste auch privat unkorrumpierbar
sein.
So spannend und aufschlussreich das Buch in der Analyse dieser
historischen
Kontexte und Entwicklungen ist, so sehr überrascht dann doch
manche
Einzeldeutung: Die These, dass Korruption in der Nachwendezeit
„eine erstaunlich
geringe Rolle“ (S. 14) gespielt habe, muss mit einem Fragezeichen
versehen
werden, gehörten doch Bestechungsvorwürfe sowohl an die SED-Eliten
als auch an
die Treuhandanstalt zu den hervorstechenden Motiven in der
politischen und
medialen Auseinandersetzung der „Wende“.[3] Auch hält sich der Autor,
gemessen an
seinen deutlichen Urteilen in anderen Fragen, bei der Beurteilung
der
Korruptionsaffären um politische Größen auffällig zurück; Helmut
Kohl habe sich
mit seiner Falschaussage in der Flick-Affäre „ungeschickt“
angestellt (S. 311)
und Franz-Josef Strauß gebe „korruptionsgeschichtlich [...]
weniger her, als
man erwarten könnte“ (S. 61).
Diese Zurückhaltung im Urteil mag auch dem Ziel des Autors
geschuldet sein, mit
dem Buch nicht nur das wissenschaftliche Verständnis von
Korruptionsdebatten in
der Bundesrepublik zu fördern, was ihm an vielen Stellen sehr
gelingt. Auch
möchte er zu einer Versachlichung der öffentlichen Debatte
beitragen. Er
verbindet seine Darstellungen daher mit einem Plädoyer gegen
apodiktische
Urteile und übersteigerte Transparenzhoffnungen und geht mit einer
Öffentlichkeit
ins Gericht, die auf der Suche nach Offenheit und Ehrlichkeit
bereit ist, die
Grenzen zwischen Öffentlichem und Privatem noch weiter
aufzubrechen. Auch in
dieser Hinsicht regt das Buch zum Nachdenken an.
Anmerkungen:
[1] Jens Ivo Engels, Die
Geschichte der
Korruption. Von der Frühen Neuzeit bis ins 20. Jahrhundert,
Frankfurt am Main
2014; vgl. auch Norman Domeier, Rezension zu: ebd., in:
H-Soz-Kult, 30.08.2016,
https://www.hsozkult.de/publicationreview/id/reb-21471
(27.08.2020).
[2] Timo Lange (Lobbycontrol) im
Gespräch mit
Stefan Heinlein, „Hier ist eine Grenze überschritten“, in:
Deutschlandfunk,
16.06.2020, https://www.deutschlandfunk.de/lobby-affaere-um-philipp-amthor-hier-ist-eine-grenze.694.de.html?dram:article_id=478712
(27.08.2020).
[3] Vgl. Constantin Goschler /
Marcus Böick,
Studie zur Wahrnehmung und Bewertung der Arbeit der
Treuhandanstalt, im Auftrag
des Bundesministeriums für Wirtschaft und Energie, Bochum 2017, S.
27; Marcus
Böick, Vom Blitzableiter zur Bad-Bank. Die Debatten um die
Treuhandanstalt –
und was sich daraus über das Verhältnis von Politikwissenschaft
und
Zeitgeschichtsforschung lernen lässt, in: Zeitschrift für
Politikwissenschaft
(Online First) 2020, DOI https://doi.org/10.1007/s41358-020-00228-1
(27.08.2020).