Die
Urkunde. Text - Bild - Objekt
Herausgeber Andrea Stieldorf
Reihe Das Mittelalter. Perspektiven mediävistischer Forschung.
Beihefte 12
Erschienen Berlin 2019: de
Gruyter
Anzahl Seiten VIII, 429 Seiten
Preis: 99,95 Euro (gibt’s auch fürn Kindle, kostet genausoviel)
ISBN 978-3-11-064396-1
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Rezensiert für H-Soz-Kult von Andrea Rzihacek, Institut für
Mittelalterforschung, Abteilung Editionsunternehmen und
Quellenforschung,
Österreichische Akademie der Wissenschaften
Dem interdisziplinären und transkulturellen Ansatz der Reihe
folgend widmet
sich der vorliegende Band erstmals Funktion und Bedeutung einer
spezifischen
Quellengattung, nämlich der Urkunde. Urkunden wird in der
europäischen
Mediävistik traditionell größtes Gewicht beigemessenen,
Diplomatik und
Urkundenforschung gehören zum Kernbereich der mediävistischen
Quellenforschung.
Vergleichende Darstellungen diplomatischer Quellen in
verschiedenen Kulturen
fehlen jedoch bisher weitgehend. Umso begrüßenswerter ist die im
Band
vorgenommene Fokussierung auf Urkunden über disziplinäre,
kulturelle und
zeitliche Grenzen hinweg.
Der Band ist das Ergebnis einer interdisziplinären Tagung, die
im September
2017 in Bonn stattfand und die Quellengattung Urkunde aus
verschiedenen
Richtungen in den Blick nahm, wobei sich die auf Michael Clanchy
zurückgehende
Betrachtung unter den Aspekten ihrer Herstellung, ihres
Gebrauchs und ihrer
Aufbewahrung durch alle Beiträge zieht.[1]
Die 13 Aufsätze des Bandes verteilen sich auf die drei bereits
im Titel
thematisierten Bereiche. Jeweils fünf Beiträge befassen sich mit
der Urkunde
als Rechtsmittel bzw. mit ihrem äußeren Erscheinungsbild
zwischen Recht und Repräsentation,
drei Beiträge mit der Überlieferung von Urkunden in anderen
Medien wie Kopiaren
und Inschriften. Die vertretenen Disziplinen umfassen ein
breites Spektrum von
Diplomatik und Rechtsgeschichte über Judaistik, Germanistik,
Islamwissenschaft
und Tibetologie bis hin zur Kunstgeschichte und Epigraphik.
Trotz des
transkulturellen Anspruchs entfallen nur zwei Arbeiten auf
außereuropäische
Bereiche, nämlich den persisch-islamischen und den tibetischen
Rechtsraum.
Innerhalb des abendländisch-lateinischen Kulturbereichs sind
Regionen des
Heiligen Römischen Reichs, Italien, England und Katalonien sowie
die
Papsturkunde vertreten. Dazu kommt ein Aufsatz zu
Herrscherurkunden des
byzantinischen Reichs. Schade ist, dass Tagungsbeiträge zum
Osmanischen Reich und
China in die Publikation nicht aufgenommen werden konnten.
Inwiefern Urkunden Aufschlüsse über Prozesse der „kulturellen
Begegnung und des
kulturellen Austausches“ (so Stieldorf S. 4) geben können,
demonstriert Eveline
Brugger anhand des jüdischen Urkundenwesens im
spätmittelalterlichen Österreich
(S. 19–40). Obwohl in der lokalen christlichen Tradition
stehend, fanden in die
Urkunden, die meist Darlehensgeschäfte zwischen Christen und
Juden betreffen,
auch hebräische Formeln und Zusätze wie Gewährleistungsformeln
und hebräische
Unterschriften Aufnahme, die deren Gültigkeit auch nach
jüdischem Recht
garantierten. Sehr gut sichtbar wird in diesem Beitrag der
Pragmatismus, der
das christlich-jüdische Zusammenleben im Mittelalter im Schatten
von
Vorurteilen, Verfolgungen und Vertreibungen auch prägte und der
in den Urkunden
als Quelle eines lebendigen, stets im Wandel begriffenen und den
Gegebenheiten
angepassten Rechtslebens seinen Niederschlag fand. Die
Betrachtung von Quellen
unter ihrem funktionalen und pragmatischen Aspekt leitet auch
Klaus Herbers (S.
125–139), wenn er für die terminologische Unterscheidung
zwischen Papsturkunden
und Papstbriefen nicht formale und inhaltliche Kriterien
heranzieht, sondern
stattdessen den Kommunikationszusammenhang und die Überlieferung
als die
wesentlichen unterscheidenden Merkmale zwischen den beiden
Gattungen
hervorhebt. Systematisch und prägnant geht auch Martin Roland
(S. 259–327) der
funktionalen Seite von Urkunden nach, wie sie sich in den
Miniaturen
illuminierter Urkunden und deren Abschriften darstellt, die den
performativen
Charakter etwa der Übergabe und Öffentlichmachung von Urkunden
illustrieren.
Wie Herbers führt auch Christoph U. Werner ein terminologisches
Problem zu
seinen Überlegungen über die Anwendbarkeit des Begriffs der
„Privaturkunde“ im
persisch-islamischen Kulturkreis (S. 141–160). Dessen Übernahme
aus der für das
Heilige Römische Reich entwickelten Diplomatik trifft auf das
„Unbehagen
außereuropäischer historischer Forschung“ (S. 142), was kaum
verwundert, da er
selbst im deutschsprachigen Bereich immer wieder hinterfragt
wurde und sich
schon für andere Regionen Europas nicht sinnvoll anwenden lässt.
Hier wie dort
findet er aber in Ermangelung einer befriedigenderen Bezeichnung
für Dokumente,
die nicht von einem Herrscher oder einem Papst ausgestellt
wurden, weiterhin
Verwendung, auch wenn sich zumindest für den
persisch-islamischen Bereich
Unterscheidungen nach der Rechtswirksamkeit und Formgebundenheit
von Dokumenten
sowie dem Zuständigkeitsbereich des Ausstellers als
zielführender zu erweisen
scheinen.
Dass auch Studien, die kaum oder nur wenige Resultate zutage
bringen, gerade
deswegen einen wertvollen Forschungsbeitrag liefern können,
zeigt die Arbeit
von Andrea Schindler, die Urkundenbegriffen in
mittelhochdeutschen Romanen
nachgeht (S. 99–124). Obwohl adelige Eliten, in deren Umkreis
die untersuchte
Literatur entstand, wesentliche Akteure des Beurkundungs- und
Urkundenwesens
waren, finden sich Ausdrücke, die Urkunden oder deren
Beglaubigungsmittel benennen,
in den Texte nur selten und wenn, dann vorwiegend in
übertragenem,
metaphorischem Sinn. Ebenso aussagekräftig sind die Ergebnisse
von Irmgard
Fees, deren Untersuchungen hochmittelalterlicher
Bischofsurkunden des 10. bis
12. Jahrhunderts (S. 199–232) ergeben, dass von 3000
untersuchten Urkunden nur
2% graphische Symbole (abgesehen von Chrismon und Kreuz)
aufweisen. Ausnahmen
bilden hier lediglich die (Erz-)Bistümer Salzburg und Augsburg
zwischen 1120
und 1200, wo neben den der Papsturkunde entlehnten Zeichen auch
von der
Herrscherurkunde beeinflusste Namensmonogramme und
Rekognitionszeichen
begegnen, was, wie gezeigt wird, nahezu immer als Ausdruck der
individuellen
Selbstwahrnehmung der ausstellenden Persönlichkeit zu werten
ist. Wenige
Treffer verzeichnet auch Franz Bornschlegel bei seinen
Nachforschungen über den
Einfluss der Urkundenschrift auf Urkundeninschriften bzw.
Urkunden imitierende
Inschriften (S. 331–361). Während sich das Vorbild
epigraphischer Schriften und
Schriftzeichen durchaus in Urkunden niederschlägt, beschränken
sich
vorlagengetreue Imitationen von Urkundenschriften und -symbolen
in den noch im
Original erhaltenen Urkundeninschriften vor allem auf Siegel,
Subskriptionszeichen und vergrößerte Buchstaben des Protokolls
sowie vereinzelt
auf Andeutungen des Beschreibstoffes. Grenzen, sowohl in den
Resultaten als
auch in deren Darstellung und Interpretation, zeigt auch der
Beitrag von
Alheydis Plassmann auf, die sich mit den Möglichkeiten der
statistischen
Auswertung von Urkunden („Datamining“) befasst (S. 41–97) und
dafür die von
Heinrich II. von England zwischen 1154 und 1189 ausgestellten
Urkunden für
Empfänger aus England und den französischen Herrschaftsbereichen
heranzieht.
Ziel ist es, anhand von Personen- und geographischen Daten der
3000
ausgewerteten Urkunden Herrschaftsstrukturen und Vernetzungen
sowie regionale
Verflechtungen zu zeigen. 27 Karten und 9 Tabellen
veranschaulichen die
Ergebnisse. Zu Recht weist Plassmann dabei auf die Verzerrung
aller aus
Urkunden gewonnenen statistischen Ergebnisse aufgrund von
Überlieferungslücken
hin und betont die Unabdingbarkeit klarer Fragestellungen, die
mit
statistischen Mitteln beantwortbar sind. In der Auswertung ihrer
Resultate
demonstriert sie, dass statistisch erhobene Ergebnisse nur dann
von
wissenschaftlichem Wert sind, wenn sie in Kenntnis und unter
Einbeziehung der
historischen Zusammenhänge interpretiert und Überlieferungs-
bzw. Datenlücken
mitberücksichtigt werden. Wie sie (S. 53) einräumt, sind
„grundstürzend neue
Ergebnisse“ durch die statistische Auswertung in der Regel nicht
zu erwarten,
allerdings vermag diese aber „das ein oder andere Goldstück“
zutage zu fördern,
das im Datendschungel vielleicht sonst nicht sichtbar geworden
wäre. Kosten und
Nutzen bleiben daher im Einzelfall abzuwägen. Unbestreitbar ist
aber, dass die
mit der statistischen Methode verbundene, meist einfach zu
bewerkstelligende
(anschauliche und eindeutige) Visualisierung der Ergebnisse von
Vorteil sein
kann.
Mehrere Beiträge der Publikation beschäftigen sich in der
Tradition Peter Rücks
mit Vorkommen, Herkunft und Bedeutung graphischer Symbole in
Herrscherurkunden
verschiedener Regionen. Im Beitrag von Peter Schwieger über das
Erscheinungsbild tibetischsprachiger Herrscherurkunden (S.
163–181) werden
überraschende funktionale und formale Übereinstimmungen mit
lateinischen
Herrscherurkunden in Aussehen und Formular aufgezeigt, die die
Anwendbarkeit
der für die „europäische Diplomatik“ entwickelten Terminologie
auf tibetische
Herrscherurkunden ermöglichen (S. 163). Ebenso Neuland betritt
Andreas E.
Müller, wenn er sich der byzantinischen großen kaiserlichen
Privilegienurkunde
widmet (S. 183–198). Die nur etwa 150 erhaltenen Originale
lagern zum größten
Teil in den kaum zugänglichen Archiven der Athosklöster. Auch
sie zeigen
auffallende Parallelen zu den römisch-deutschen
Herrscherurkunden wie eine der
Elongata vergleichbare Auszeichnungsschrift und die besondere
Minuskelschrift
des Kontexts, aber auch auffallende Unterschiede, wie mit roter
Tinte nachträglich
vom „Hüter des kaiserlichen Tintenfasses“ (S. 191) eingetragene
Rotworte,
spezielle Beglaubigungsformeln sowie die kaiserliche
Unterschrift. Einzelne
dieser Merkmale, wie die Verwendung roter Tinten und die
Unterschrift(sformel)
des Herrschers, finden sich übrigens – vermutlich von Byzanz
beeinflusst – auch
in den Urkunden der normannisch-sizilischen Könige, besonders
Rogers II.
Welche Rolle imitierende Kopien von Herrscherurkunden mit ihren
detailgetreuen
Nachzeichnungen graphischer Elemente oder der diplomatischen
Minuskel spielen,
untersucht Wolfgang Huschner für geistliche Empfänger Italiens
(S. 363–381) und
kommt zu dem – wenig überraschenden – Ergebnis, dass diese, wie
auch die Anlage
von Kopialbüchern, in der Hauptsache Sicherungszwecken dienten.
Dazu stellt er
Überlegungen zur späteren Verwendung von früh- und
hochmittelalterlichen
Diplomen an, die bzw. deren Abschriften im Streitfall noch bis
weit in die
Neuzeit hinein bei Gerichtsprozessen vorgelegt wurden, ein
Umstand, der oft für
die Überlieferungsdichte eines Textes mitentscheidend ist. Nicht
mit einbezogen
wird von Huschner die Frage nach dem Zweck imitierender
Abschriften in
Kopialbüchern, denen sich Susanne Wittekind in ihrem Beitrag
über katalanische
Chartulare widmet (S. 383–417). Sie zeigt, dass diese neben der
Sammlung,
Sicherung und Ordnung von Urkunden und den mit ihnen verbundenen
Rechtstiteln
durch entsprechenden Bildschmuck und kalligraphische Gestaltung
auch der
Legitimation und Selbstdarstellung des Auftraggebers dienten und
zu bestimmten
Anlässen öffentlich gezeigt wurden.
Die Urkundenforschung versteht ihren Untersuchungsgegenstand
traditionell als
Quelle, die im Schnittpunkt verschiedener historischer
Disziplinen steht.[2] Für die Kunstgeschichte
können
illuminierte Urkunden Relevanz besitzen, wie Gabriele Bartz
anhand der
Avignoneser Bischofsammelindulgenzen (S. 233–258) zeigt, die
datierbares
Vergleichsmaterial für die Untersuchung zeitgenössischer
Buchmalerei bieten.
Das Nebeneinander von innovativen und traditionellen
Stilelementen führt sie
dabei plausibel auf Wünsche und finanzielle Möglichkeiten der
Empfänger zurück.
Kritikpunkte zum vorliegenden Band lassen sich insgesamt nur
wenige anführen.
Der außereuropäische Bereich bleibt zumindest in der Publikation
letztendlich
etwas unterrepräsentiert, auch vermisst man Beiträge zu
wichtigen
Schnittpunkten verschiedener Kulturen und Urkundentraditionen
wie etwa dem
normannisch/staufischen Königreich Sizilien, wo Unterschiede und
gegenseitige
Beeinflussungen besonders gut sichtbar sind und das reiches und
wertvolles
Vergleichsmaterial bieten würde. Einige kleine drucktechnische
Schönheitsfehler
stören die ansonsten ansprechende Gestaltung des Bandes, etwa
beim Layout, wenn
Seiten unvermittelt und ohne Not zum Teil unbedruckt bleiben
(etwa S. 133 und
S. 189) oder die letzte Zeile der Tabelle S. 42 auf die nächste
Seite verschoben
wird. Die Karten im Beitrag Plassmann irritieren durch Punkte,
die einander
mitunter mehrfach überschneiden und so ihrer Aussagekraft
beraubt werden. Im
Beitrag Bartz ging S. 234 Anm. 2 die letzte Zeile der Anmerkung
verloren.
Insgesamt gelingt der Herausgeberin Andrea Stieldorf mit dem
vorliegenden
Sammelband aber ein bedeutender Schritt in der Weiterentwicklung
der Diplomatik
und Urkundenforschung, indem Felder zukünftiger komparativer
Forschung
erschlossen und wichtige Anregungen für terminologische
Nachschärfungen sowie
die Einbeziehung bisher unbeachteter Aspekte, die sich aus
anderen Disziplinen
gewinnen lassen, aufgenommen werden.
Anmerkungen:
[1] Bezugspunkt ist die erste
Formulierung
dieses Ansatzes bei Michael Clanchy, From Memory to Written
Record. England
1066–1307, Oxford 1979, S. 25.
[2] Zur Abgrenzung zwischen
Diplomatik und
Urkundenforschung vgl. etwa bereits das Geleitwort zum ersten
Band der
Zeitschrift "Archiv für Urkundenforschung": Harry Bresslau /
Michael
Tangl / Karl Brandi, Einführung, in: Archiv für
Urkundenforschung 1 (1908), S.
1–4.