Preußen an der Saar. Eine konfliktreiche
Beziehung
(1815–1914)
Herausgeber Clemens, Gabriele B.; Kell, Eva
Reihe Veröffentlichungen der Kommission für Saarländische
Landesgeschichte 50
Erschienen Saarbrücken 2018: Kommission
für Saarländische Landesgeschichte und Volksforschung e.V.
Anzahl Seiten 295 S.
Preis € 19,80
ISBN 978-3-939150-11-4
ISBN 0454-2533
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Rezensiert für H-Soz-Kult von Georg Eckert, Historisches Seminar,
Bergische
Universität Wuppertal / Historisches Institut, Universität Potsdam
Preußens Memoria an der Saar ist verblasst. Ohnehin war das
Interesse, an die
einhundertdrei borussischen Jahre seit dem Wiener Kongress zu
erinnern, meist
eher gering. Einen Grund dafür benennt der Untertitel des nun
erschienenen
Buches: „Eine konfliktreiche Beziehung“. Seine konzisen Beiträge
thematisieren
Divergenzen des saarländischen Teils der neuen Rheinprovinz – aber
auch so
manche Konvergenzen mit dem preußischen Gesamtstaat, die am Ende
sogar in der
Erinnerungspolitik sichtbar wurden. Ihr gelten zwei der insgesamt
dreizehn
Aufsätze des Sammelbandes mit seinen politischen,
gesellschaftlichen,
wirtschaftlichen und kulturellen Aspekten.
Die knappe Einleitung der Herausgeberinnen erläutert die Thesen
der einzelnen,
thematisch wie methodisch weitgespannten Beiträge und weist
sporadisch auf den
Forschungskontext hin, den das Buch in gewisser Weise erst
schafft. Daher mag
ihr Verzicht auf programmatische Ausführungen sowie eine
Binnengliederung der
interdisziplinären Aufsätze rühren. Warum die letzten vier
preußischen Jahre
von 1914 bis 1918 nicht einbezogen sind, ist eine unbeantwortete
Frage, die
nicht nur ein Laie stellen könnte. Ihm dürfte freilich ebenso wie
Fachkundigen
das Personen- und Ortsregister helfen, an Vorwissen anzuknüpfen;
am häufigsten
werden Napoleon I., Wilhelm I. und Friedrich Wilhelm III.
aufgelistet. Darin
drücken sich Schwerpunkte aus: die prägende französische
Vorgeschichte des
einstigen Départements, die Übernahme der Saar und ihre
Profilierung im Zuge
der preußischen und deutschen Nationalstaatsbildung.
Gabriele B. Clemens und Katharina Thielen beschäftigen sich mit
politischen
Handlungsmöglichkeiten der Saarbürger, die nach der Niederlage
Frankreichs
sogar Emissäre zu den Alliierten nach Paris sandten. Immerhin
hatten sie von
Napoleons Herrschaft profitiert, unter anderem durch den günstigen
Ankauf von
Nationalgütern und die Anbindung ans Kontinentalsystem. Die
preußische
Inbesitznahme betrieb Brüche, indes auch Kontinuitäten; ein
radikaler
Ämtertausch blieb aus, eine partizipatorische Verlusterfahrung
entstand dennoch
– das Verfassungsversprechen blieb unerfüllt, im Provinziallandtag
ließen sich
saarländische Interessen kaum wirkungsvoll vertreten. Mitwirkung
fand im
Kleinen statt, liberale Hoffnungen ins Große enttäuschten die
adelsfreundlichen
neuen Landesherren im Vormärz.
Wie – und überhaupt: dass – die Hohenzollern ihre dazugewonnenen
Westprovinzen
systematisch bereisten, macht Jürgen Herres’ Beitrag
nachvollziehbar. Die
preußischen Könige präsentierten sich an der Peripherie und ließen
sich von
dort immediat ins Zentrum berichten: durch monatliche Schreiben
von Behörden,
die Akzeptanzprobleme der neuen Herrschaft nicht verschwiegen. Der
spätere
Wilhelm I. bemühte sich nach 1848 intensiv um die Rheinprovinz,
diese sich
insbesondere um den gerade ausgerufenen Kaiser.
Komplex war also die Integration ins preußische Königreich: eine
Interaktion
von Systemen mit eigenen Traditionen und Personen mit eigenen
Interessen.
Thomas Gergens Studie widmet sich der Rechtsrezeption bzw. den
Translationen.
Die Absicht des Ministers, das Allgemeine Landrecht sogleich auf
die neuen
Staatsteile zu übertragen, durchkreuzte eine
Immediat-Justiz-Kommission;
spätere Initiativen einer gänzlichen Überschreibung des
rheinischen, einst
französischen Rechts scheiterten ebenfalls. Eine konsequente
Angleichung
bewirkte erst die Einführung des Bürgerlichen Gesetzbuches;
unterdessen blieb
das rheinische Recht teils in Kraft, teils beeinflusste es sogar
die
Fortschreibung des preußischen Zivil- und Strafprozessrechts.
Gegen die borussische Erfolgs-Erzählung, die
Wirtschaftsentwicklung an der Saar
bewirkt zu haben, wendet sich Ralf Bankens Analyse der
Industrialisierung. Sie
stellt zumal Vor- und Nachteile des nun eingerichteten
Staatsbergbaus dar; für
Arbeitnehmer waren damit manche Fortschritte verbunden, Hemmnisse
indes vor
allem für die technische Innovation. An diese Einordnung der
Montan- und
Hüttenindustrie schließen zwei arbeitergeschichtliche Beiträge an.
Fabian
Trinkaus schildert die Ausdifferenzierung der Arbeiterschaft auch
jenseits der
Arbeitsstelle – von Versuchen der Arbeitgeber, ihr Personal etwa
durch
Werkswohnungen an sich zu binden, bis hin zur Konkurrenz der
Arbeitnehmer
untereinander. Freiräume eigenständigen Handels belegen auch Frank
Hirschs
Erkundungen von Protest und Devianz: Dass Sulzbacher Arbeiter nach
einer
Arbeitsniederlegung im Jahre 1872 auf Lohnnachzahlung für die
Streiktage
bestanden, belegt ihr Selbstbewusstsein – das wiederum die
Wahrnehmungsmuster
von Unternehmen, Staat und Presse strukturierte: Sie versuchten
die
aufrührerische Arbeiterschaft zu desorganisieren.
Wirtschaftliche Prozesse erwähnt ebenfalls Torsten Mergens
Untersuchung der
Saar als literarischen Raum, in dem nach 1918 so manche gegen die
Abtrennung
der Saar von Preußen anschrieben. Indem sie sich nicht auf „große“
Literatur
konzentriert, sondern auf literarische Prozesse bis hin zu
Produktion und
Vertrieb, wird unter anderem die Publikationspolitik der
preußischen
Bergwerksdirektion verständlich.
Die beiden folgenden Beiträge verbindet ihr Thema, die im frühen
19.
Jahrhundert so neuralgische Wehrpflicht. Bernhard Schmitt
konzentriert sich auf
den Übergang von französischer Herrschaft, die einen Ersatzmann
erlaubt hatte,
in die preußische, die keine Ausnahmen vorsah, aber genauerer
Durchführungsvorschriften
ermangelte. Das bewirkte allseitige Unsicherheit; die preußische
Regierung
reduzierte Maximalforderungen, indem sie etwa eine
Heimatstationierung der
Eingezogenen zuließ. Solche Anpassungen trugen zu weitgehender
Akzeptanz der Wehrpflicht
bei, gewiss auch die niedrigen Aushebungsquoten; nur in Grenznähe
war die Zahl
der Refraktäre erhöht. Die neue Rheinprovinz verfügte über
umfassendere
Erfahrungen als Preußen, das diese Lektionen freilich zu nutzen
verstand: etwa
durch Übernahme des Losverfahrens. Längerfristig orientiert ist
die
Untersuchung von Rolf Wittenbrock, derzufolge die Wehrpflicht
dauerhaft
hingenommen wurde; für die Übergangsphase macht sie indes eine
erhöhte Quote an
Wehrpflichtigen aus, die sich dem Dienst zu entziehen suchten,
besonders in
Saarlouis, wo ein bis 1821 garantiertes Auswanderungsrecht einen
Weg aus der
Pflicht ermöglichte.
Alexander Hilperts aufschlussreicher Beitrag handelt vom Streit um
die in einer
römischen Villa bei Nennig vorgefundenen Inschriften und
Malereien: eine
archäologische Sensation des Jahres 1866, die allerdings der
Trierer Bildhauer
Heinrich Schaeffer fingiert hatte. Im gelehrten Streit um die
Echtheit der
Entdeckungen kollidierten national- wie wissenschaftspolitische
Ansprüche.
Hiesige Antikenforscher, die zudem luxemburgische Schützenhilfe
erhielten,
verteidigten die Echtheit der Entdeckungen vehement und machten
deren
Entlarvung zum eigentlichen Skandal; sie fürchteten eine
feindliche Übernahme
durch zentrale Fachexperten wie Theodor Mommsen, der „Dilettanten“
aus der
Provinz zu entmachten suchte. Eine gewisse Versöhnung leistete
erst die
Einrichtung eines Provinzialmuseums in Trier, mit der zudem eine
bevormundende
Betreuung durch Bonner Gelehrte abgewendet werden konnte.
Der zeitgenössischen Erinnerungspolitik gelten die zwei folgenden
Aufsätze.
Michael Röhrigs Bestandsaufnahme der Nationaldenkmäler in
Saarbrücken macht
Dynamiken bei deren Errichtung verständlich, insbesondere den
Wettstreit um
Prestige auf nationaler und kommunaler Ebene – zwischen Orten, in
denen
Monumente aufgestellt wurden, aber auch innerhalb: in der
Dimension der
Denkmäler, ebenso in ihrer Finanzierung, städtisch bei der
Saarbrücker Germania
(1873), eher großbürgerlich beim Winterbergdenkmal (1874), eher
kleinbürgerlich
beim Obelisken für Friedrich III. (1888). Mit der malerischen
Neuerfindung des
indisponierten Empfangs, der den gerade proklamierten Kaiser
erstmals auf
deutschem Boden begrüßte, beschäftigt sich Bärbel Holtz’
instruktive Studie.
Wilhelm I. sucht die nicht mehr so ganz neuen Provinzen enger an
sich zu
binden, indem der Zentralstaat die opulente lokale
Historienmalerei
koordinierte. Anton von Werner, der sein rapide wachsendes Ansehen
in nicht
minder rapide wachsende Honorarforderungen umzusetzen wusste,
sollte die
Schlacht von Spichern (1870) als kriegsentscheidende darstellen.
Sein Zyklus
von Monumentalgemälden wurde im Jahre 1880 im Saarbrücker Rathaus
platziert, um
die saarländische Geschichte der preußischen einzuzeichnen.
Schließlich blickt Joachim Conrad auf den Agendenstreit. Die
Protestanten an
der Saar, ohnehin schon eine Minderheit im katholischen Gebiet,
hatten
unterschiedlichen Kirchenregimentern unterstanden und suchten nach
neuen
Arrangements in der Preußischen Union; der Streit um
Gottesdienstform und
Kirchenorganisation schwelte jahrzehntelang.
So entsteht ein facettenreiches Bild der Saar innerhalb des
preußischen
Staates. Dass die Konflikte zahlreich scheinen, führt die
Einleitung zu Recht
auch auf die konsultierten Quellenarten zurück; es zeigen sich
gleichwohl
allerlei Kooperationen, etwa bei der relativen Akzeptanz der
Wehrpflicht oder
beim Versuch, Preußen und Saar erinnerungspolitisch
zusammenzuführen. So bietet
der Sammelband zahlreiche Ansatzpunkte für weitere Studien zur
Geschichte
dieser Region und der Rheinprovinz insgesamt, aber auch für
Studien zur
Geschichte anderer Regionen respektive Provinzen in Preußens. Eine
komparative
Perspektive hätte das vielfältige Buch noch spannender gemacht.
Mit seiner
verdienstvollen Grundlagenarbeit festigt es indes das Fundament
für Vergleiche
auch über Preußen hinaus.
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