Im Transit auf dem Ozean. Schiffszeitungen als
Dokumente
globaler Verbindungen im 19. Jahrhundert
Autor Johanna Beamish,
Erschienen Göttingen 2018: Campus
Verlag
Anzahl Seiten 272 S.
Preis € 43,00
ISBN 9783593509495
Rezensiert für 'Connections' und H-Soz-Kult von: Volker Barth,
Universität des
Saarlandes
Im Zentrum von Johanna Beamishs Untersuchung steht mit den
Schiffzeitungen des
19. Jahrhunderts eine ebenso ungewöhnliche wie randständige
Quellengattung. Es
handelt sich um Zeitungen, die von den Passagieren
interkontinentaler Segel-
und Dampfschiffe verfasst und herausgegeben wurden. Diese
Zeitungen, so eines
der zentralen Argumente der vorliegenden Untersuchung, halfen die
Phase des
Transits zu bewältigen. Beamish liest sie daher explizit als
Quellen der
Erfahrung und Verarbeitung des Globalisierungsschubs in der
zweiten Hälfte des
19. Jahrhunderts.
Dies überrascht insofern, als die von der Autorin untersuchten
Zeitungen
ausschließlich von britischen Schiffen stammen. Sie wurden auf den
langen
Strecken zwischen den Britischen Inseln und weit entlegenen
Empire-Standorten
wie Indien und Sri Lanka, Australien und Neuseeland angefertigt.
Von diesen Dokumenten,
die während der Reise zumeist handschriftlich verfasst und in
vielen Fällen
nach Ankunft am Zielort noch einmal gesondert nachgedruckt wurden
(S. 48), hat
Beamish etwa 150 ausgewertet, deren Großteil sie in Archiven in
Australien und
Neuseeland aufgespürt hat. Auch der Untersuchungszeitraum, der
sich ungefähr
von 1830 bis 1900 erstreckt, und weitgehend mit dem
Viktorianischen Zeitalter
übereinstimmt, verweist eher auf eine Studie zum britischen Empire
als zur
„Verwandlung der Welt“ im 19. Jahrhundert. Die Autorin begründet
die
chronologischen Grenzen jedoch auch damit, dass mit der
Verbreitung des
Funkverkehrs in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts die
Bedeutung der
Schiffszeitungen nachhaltig geschwächt wurde.
Im Zentrum des Interesses steht die „Transiterfahrung der
Passagiere während
interkontinentaler Überfahrten im 19. Jahrhundert“ (S. 8). Beamish
begreift
Transit als eine Phase des Dazwischen und damit als Etappe der
Moderation
zwischen Abfahrts- und Zielort. Diese in vielen Fällen mittels der
Schiffszeitungen geleistete Moderation sei sowohl auf Grund der
Dauer der
Überfahrt als auch wegen der Erwartung und Imagination eines neuen
Lebensabschnitts am Zielort nötig geworden. Daher untergliedert
die Autorin
ihre Arbeit wie die verschiedenen Etappen einer Schiffsreise in
Abfahrt,
Transit und Ankunft. Diese Gliederung wird von zwei Kapiteln
durchbrochen, die
sich der gelungen bzw. oft auch misslungen Konstituierung einer
Passagiergemeinschaft während der Überfahrt widmen. Die
„Bewältigungsstrategien“
(S. 228) der Passagiere im Transit sind somit das zentrale Thema
der
Untersuchung.
Die Notwendigkeit einer Bewältigung resultierte dabei neben der
Dauer der Reise
auch aus dem begrenzten und besonderen Raum, welcher sich durch
die soziale
Interaktion der Passagiere auf den Schiffen konstituierte. Denn
die „Paradoxie
von gleichzeitiger Veränderung und Einförmigkeit“ (S. 8) stellte
für die
meisten Reisenden eine genuin neue Erfahrung dar, mit der sie
lernen mussten
umzugehen. Gefragt wird daher, wie sich dieser „soziale
Mikrokosmos“ (S. 9)
innerhalb der Überfahrt konstituierte und entwickelte und welche
Rolle die
Schiffszeitungen als Vergesellschaftungsorgan dabei spielten. Es
ist das
Zusammenspiel von „Be- und Entschleunigungsprozessen“ (S. 24), die
sich aus dem
sozialen Raum des Schiffes, der nur wenig
Identifikationsmöglichkeiten bot, und
dem vermittelnden Medium der Schiffszeitung ergab, der im
Mittelpunkt steht.
Beamish weist immer wieder darauf hin, dass die
Vergemeinschaftungsprozesse auf
klare Grenzen stießen. Diese waren zumeist sozialer Natur und
spiegelte sich in
der Untergliederung der Passagiergemeinschaft in verschiedene
Reiseklassen. So
zeichneten für die Redaktion der Zeitungen nahezu ausschließlich
Passagiere der
1. und 2. Klasse verantwortlich, während die Passagiere des
Zwischendecks mit
anderen Tätigkeiten beschäftigt waren. Beamish streicht heraus,
dass die ersten
Tage nach Beginn der Reise für das Entstehen der
Passagiergemeinschaft, die im
Verlauf der Überfahrt von „reading communities“ der
Schiffszeitungen (S. 53)
ergänzt bzw. erweitert werden konnte, entscheidend waren. In
Übereinstimmung
mit Grundannahmen des spatial turns versteht die Autorin Raum
dabei bewusst
nicht als Container, sondern als das Produkt sozialer Interaktion.
„Dabei
mussten sich die Passagiere dem physischen Raum des Schiffs zwar
anpassen und
unterwerfen, doch der soziale Raum wurde durch sie hervorgebracht,
von ihnen
gestaltet und im Rahmen ihres jeweiligen Handlungsspielraums
verändert.“ (S.
120)
Der temporäre soziale Raum der Passagiergemeinschaft wurde in den
Schiffszeitungen sowohl beschrieben und erzeugt als auch erfahrbar
und
zugänglich gemacht. Deutlich wird dabei, wie die Schiffszeitungen
– auch mit
zunehmender Dauer der Überfahrt – als Medien der
Selbstvergewisserung
fungierten. Je weiter sich die Passgiere von der Heimat
entfernten, desto
notwendiger wurde es für sie, sich eigener Überzeugungen und
kultureller
Traditionen zu versichern. So wurde u.a. die angemessene Kleidung
thematisiert,
mit der man sich nach dem Baden auf dem Schiff bewegen sollte (S.
137). Beamish
interpretiert dies als Gradmesser der eigenen Zivilisation im
Vergleich zur
Exotik der ‚neuen‘ Welten, auf die sich die Reisenden zubewegten.
Auf diese
Weise fungierten die Zeitungen nicht zuletzt als „imaginierte
Verbindungen zum
Festland“ (S. 147). Sie „moderierten“ die Transiterfahrungen der
Passagiere und
sind daher Zeugnisse, „wie die Akteure den Entstehungsmoment
globaler
Verbindungen im Transit erlebten“ (S. 234).
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