Rechtsgeschichte
der
Reichswehr 1918–1933.
von
Heinemann, Patrick
Oliver
Reihe
Krieg in der
Geschichte
Erschienen
Paderborn
2018: Ferdinand
Schöningh
Anzahl
Seiten 424 S.
Preis €
89,00
ISBN 978-3-506-78785-9
Rezensiert für
H-Soz-Kult von
Peter Keller, Stadtarchiv Kaufbeuren
Die Rechtsgeschichte gehört nicht gerade zu den beliebtesten
Disziplinen, die
die akademische Welt zu bieten hat. Nicht selten eilt ihr der
Ruf der trockenen
und verstaubten historischen Paragraphenreiterei voraus. Die
Reichswehr
wiederum führt verglichen mit anderen deutschen Armeen noch
immer ein historiographisches
Nischendasein. Sie stand seit jeher im Schatten der Wehrmacht,
die in weit
höherem Maße das Interesse der Forschung auf sich gezogen hat
als die
Streitkräfte der Weimarer Republik. Was also kann herauskommen,
wenn sich ein
Autor nun ausgerechnet mit der Rechtsgeschichte der Reichswehr
befasst?
Beeindruckend viel, wie die an der juristischen Fakultät der
Universität
Bayreuth eingereichte Dissertation von Patrick Oliver Heinemann
belegt.
Die Studie bewegt sich auf klassischem Terrain. Heinemann
interessiert sich
dafür, warum die Reichswehr nie wirklich in der Weimarer
Republik ankam,
sondern immer ein Fremdkörper im demokratischen Gemeinwesen
blieb. Anders als
seine Vorgänger – zu denken ist etwa an Otto-Ernst Schüddekopf,
Harold J.
Gordon oder Francis L. Carsten[1] – konzentriert Heinemann
sich jedoch
weniger auf die politischen und mentalen als vielmehr auf die
rechtlichen
Faktoren, die die fatale Entwicklung der Streitkräfte zum „Staat
im Staate“
ermöglichten und begünstigten. Konkret geht es also darum, den
vielen großen
und kleinen juristischen Bausteinen nachzuspüren, die den
„paralegalen“ (eine
Wortneuschöpfung Heinemanns) Sonderstatus des Militärs in der
Weimarer Republik
überhaupt erst konstituierten. Dabei unterscheidet Heinemann
zwei
Untersuchungsebenen: zum einen die misslungene Einbettung der
bewaffneten Macht
in das republikanische Staats- und Verfassungsgefüge als
solches, zum anderen
das durch zahlreiche Neben- und Sonderregelungen von den zivilen
Verhältnissen
abweichende rechtliche Binnengefüge in der Armee selbst.
Heinemanns Argumentation stützt sich im Wesentlichen auf
Rechtsquellen wie
Gesetzes-, Verordnungs- und sonstige Amtsblätter,
Gerichtsentscheidungen,
Kommentare sowie zeitgenössische rechtswissenschaftliche
Fachzeitschriften.
Untermauert und ergänzt werden die Erkenntnisse, die aus den
juristischen
Texten gezogen werden, durch die einschlägigen Editionen (etwa
die „Akten der
Reichskanzlei“ und die „Quellen zur Geschichte des
Parlamentarismus und der
politischen Parteien“) sowie durch die ebenfalls einschlägigen,
durch
Kriegsverluste zum Teil leider stark ausgedünnten
Überlieferungen im
Bundesarchiv-Militärarchiv, dem Politischen Archiv des
Auswärtigen Amts sowie
dem Bayerischen Hauptstaatsarchiv, Abteilung Kriegsarchiv. Alles
in allem
ergibt sich dadurch ein in sich stimmiges Gesamtkorpus, dessen
großer Vorzug
darin besteht, den Blick über den bloßen rechtshistorischen
Tellerrand hinaus
zu gestatten.
Das erste der insgesamt acht Kapitel, in die sich die Studie
gliedert, steckt
die Leitlinien ab, in denen sich die Untersuchung bewegt.
Heinemann geht es
hier um die Genese der Weimarer Wehrverfassung. Nachdem er
bereits in der
Einleitung die historisch gewachsene extrakonstitutionelle
Sonderstellung des
preußisch-deutschen Militärs herausgearbeitet hat – Heinemann
fasst dies in der
pointierten Bemerkung zusammen, das kaiserliche Heer sei kaum
mehr als eine
„persönliche Privatveranstaltung eines niemandem
verantwortlichen Monarchen“
(S. 21) gewesen – fragt er nun, wie es gelingen konnte, diesen
Status über die
revolutionären Wirren von 1918/1919 in die Republik
hinüberzuretten.
Die einzelnen Faktoren, die Heinemann in diesem Zusammenhang
diskutiert, sind
nicht unbedingt neu. Der Ebert-Groener-Pakt beispielsweise wurde
schon in den
1930er-Jahren von Arthur Rosenberg[2] für die missglückte
Integration der
Streitkräfte in die Republik verantwortlich gemacht. Auch die
bürgerkriegsartigen Kämpfe von 1918/1919 und die dem Versailler
Vertrag zuwider
laufende Geheimrüstung waren schon mehr als einmal Thema der
Forschung. Neu ist
allerdings der Maßstab, an dem Heinemann die besagten Aspekte
misst. Für ihn
steht nicht ihre politische oder gar moralische, sondern primär
ihre rechtliche
Einordnung im Vordergrund. Das gibt seinen Darlegungen ihre ganz
eigene
Dynamik. Denn in der Tat ist nicht ganz von der Hand zu weisen,
dass eine
Armee, die sich einem Staat in einer kritischen Situation als
vermeintlich
gleichrangiger Partner andient, ihre Einsätze im Innern mehr als
nur einmal mit
dem Ausnahmezustand rechtfertigt und mit Hilfe zweifelhafter
Partner
verbindliche Verträge unterläuft, eher schwer an eine normale
Existenz in einem
bürgerlich-liberalen Verfassungsstaat zu gewöhnen ist.
Durch planvolleres politisches Agieren und durch Förderung der
im Militär
ebenfalls vorhandenen pragmatisch-prorepublikanischen Ansätze
hätten sich diese
gefährlichen Tendenzen womöglich noch einfangen lassen.
Entscheidender ist also
die Frage, wie und warum die extrakonstitutionellen
Dispositionen kodifiziert
und institutionalisiert wurden. Die Schlüsselfigur war der Chef
der
Heeresleitung Hans von Seeckt, der nach dem Kapp-Lüttwitz-Putsch
von 1920 zur
eigentlich dominierenden Figur der deutschen Militärpolitik
avancierte.
Detailliert legt Heinemann dar, wie Seeckt auf die
Wehrgesetzgebung einwirkte,
um seine Vision einer Reichswehr, die sich zwar einer abstrakten
Staatsidee und
einem idealisierten Reichsmythos, nicht aber der konkreten
Republik
verpflichtet fühlen brauchte, Wirklichkeit werden zu lassen.
Zementiert wurden
die von Seeckt geschaffenen Fakten – unter anderem die
Schwächung des
parlamentarisch verantwortlichen Reichswehrministers bei
gleichzeitiger starker
Aufwertung der Stellung des Chefs der Heeresleitung –
schließlich im Wehrgesetz
von 1921, das der nunmehr bürgerlich dominierte und
militärpolitisch indolente
Reichstag ohne große Debatten passieren ließ.
Im Anschluss daran wendet sich die Studie der Frage zu, woraus
sich der
paralegale Panzer, der die Reichswehr und ihre Angehörigen von
der Republik
abschirmte, denn eigentlich zusammensetzte. Nacheinander
beleuchtet Heinemann
die Grundlagen des soldatischen Dienstverhältnisses (Kapitel
II), die
politischen und bürgerlichen Grundrechte der Soldaten (Kapitel
III), das
Militärstrafrecht (Kapitel IV), das Disziplinarstrafrecht
(Kapitel V) sowie den
Ehrenschutz (Kapitel VI) und den Rechtsschutz (Kapitel VII) in
den
Streitkräften.
Die einzelnen Kapitel sind thematisch strukturiert und in sich
abgeschlossen. Das
macht es mitunter etwas schwer nachzuvollziehen, welche der von
Heinemann
geschilderten Entwicklungen sich parallel zueinander vollzogen.
Darstellerisch
ist die Vorgehensweise aber alternativlos. Anders wäre es kaum
möglich gewesen,
die Fülle an zum Teil sehr komplexen Informationen, die hier
versammelt sind,
in lesbarer Form zu präsentieren. Umso mehr taugen die einzelnen
Abschnitte als
Kompendium für all diejenigen, die sich zielgerichtet in ein
bestimmtes
Sachgebiet einlesen möchten.
Es ist wenig sinnvoll, an dieser Stelle im Detail auf die
zahlreichen Befunde
einzugehen, die Heinemann in den betreffenden Kapiteln
darbietet.
Aufschlussreich ist in allen Fällen, wie dicht das Geflecht an
Sonder-, Neben-
und selbst reklamierten Überrechten war, mit der die Reichswehr
sich und ihre
Angehörigen von der zivilen Republik abschottete. Das durch die
Reichsverfassung von 1919 geschützte Recht der Religionsfreiheit
etwa scherte
die Streitkräfte letztlich nur wenig. Penibel ausgearbeitete
Standort-Dienstvorschriften unterminierten wie
selbstverständlich das allen
Staatsbürgern garantierte Recht, Art und Form der eigenen
Religionsausübung
selbst zu bestimmen, indem sie die Soldaten dazu zwangen, der
Teilnahme an
Militärgottesdiensten stets den Vorrang vor der Teilnahme an
Zivilgottesdiensten zu geben.
Weit tiefer als der Geist der Verfassung es zuließ, griff die
bewaffnete Macht
auch in andere Bereiche des privaten Lebens ihrer Angehörigen
ein. So waren die
Soldaten der Reichswehr auch außerhalb des Dienstes zum Tragen
ihrer Uniform
verpflichtet. Wer eine Ehe eingehen wollte, musste hoffen, dass
seine
Vorgesetzten hierzu vorab ihre Einwilligung gaben. Dass der
paralegale Status
der Reichswehr von den zivilen Stellen nicht nur geduldet,
sondern in vielen
Fällen, beispielsweise durch diverse Militärverordnungen des
sozialdemokratischen Reichspräsidenten Friedrich Ebert, sogar
mitgeschaffen
wurde, spricht Bände über das Verhältnis zwischen Armee und
Republik.
Im abschließenden achten Kapitel verschiebt sich der Blickwinkel
der Studie ein
letztes Mal. Einführend konstatiert Heinemann, dass die
rechtliche
Ausgestaltung des Militärs in der Ära von Reichswehrminister
Otto Geßler
(1920–1928) weitgehend zum Abschluss gelangt sei. Danach habe
man allenfalls
noch „hie und da […] Veränderungen im Detail“ (S. 353)
vorgenommen. Umso mehr
geht es Heinemann um die Frage, wie die derart (de-)formierten
Streitkräfte in
der Endphase der Weimarer Republik agierten.
Das Urteil fällt wenig schmeichelhaft aus. Die Reichswehr – für
Heinemann vor
allem durch ihre nunmehrige Schlüsselfigur Kurt von Schleicher
repräsentiert –
habe in der finalen Krise der ersten deutschen Demokratie eine
verhängnisvolle
Rolle gespielt: Einerseits habe das Militär seit den frühen
1930er-Jahren immer
unverhohlener auf seinen selbstreklamierten
extrakonstitutionellen politischen
Führungsanspruch gepocht und durch Aktionen wie den
„Preußenschlag“ von 1932
kräftig zur Destabilisierung der Republik beigetragen.
Andererseits habe die
Armee nicht die Kraft aufgebracht, die Nationalsozialisten von
der Macht
fernzuhalten. Als Grund hierfür verweist Heinemann auf die
traditionelle
Revolutionsfeindlichkeit des preußisch-deutschen Militärs. Diese
habe die
Reichswehrführung in den entscheidenden Tagen um die Jahreswende
1932/1933
davon abgehalten, nötigenfalls mit Waffengewalt gegen
Reichspräsident Paul von
Hindenburg und das sich unter seiner Schirmherrschaft
formierende Kabinett
Hitler vorzugehen.
Heinemanns Buch ist keine leichte Lektüre. Nicht-Juristen dürfte
es mitunter schwerfallen,
sich durch die vielschichtige Fachmaterie durchzuarbeiten.
Nichtsdestoweniger
handelt es sich bei der Rechtsgeschichte der Reichswehr um
wertvolle
historiographische Kärrnerarbeit. So umfassend wie bei Heinemann
wurde noch nie
nachgezeichnet, wie hoch die aus Gesetzen, Verordnungen,
Befehlen, Vorschriften
und sonstigen Normen zusammengesetzte Mauer war, die Militär und
Republik
voneinander trennte. Ein weiteres und hoffentlich bleibendes
Verdienst
Heinemanns besteht darin, dem tradierten Begriff vom „Staat im
Staate“ den
weitaus treffenderen Ausdruck „Paralegalität“ an die Seite
gestellt zu haben.
Erfreulich ist außerdem, dass Heinemann seine Befunde an vielen
Stellen in
einen größeren historischen Kontext einbettet. Er bleibt eben
nicht bei der Rechtsgeschichte
stehen, sondern ist bemüht, die von ihm herausgearbeiteten
Erkenntnisse in
Bezug zur politischen Geschichte der Weimarer Republik zu
setzen. Seine Studie
leistet dadurch einen Beitrag zum Verständnis des Scheiterns der
ersten
deutschen Demokratie.
Das Gesamturteil fällt kurz, bündig und positiv aus: Heinemanns
Studie stellt
für die historische Forschung einen echten Gewinn dar. Wer sich
künftig mit der
Geschichte der bewaffneten Macht in der Weimarer Republik
befasst, wird an
seiner Rechtsgeschichte der Reichswehr nicht vorbeikommen.
Anmerkungen:
[1] Otto-Ernst Schüddekopf, Das
Heer und die
Republik. Quellen zur Politik der Reichswehrführung 1918 bis
1933, Hannover
1955; Harold J. Gordon, Die Reichswehr und die Weimarer
Republik. 1919–1926,
Frankfurt am Main 1959; Francis L. Carsten, Reichswehr und
Politik 1918–1933,
Köln 1965.
[2] Arthur Rosenberg,
Geschichte der deutschen
Republik, Karlsbad 1935.