Das
kalte Herz. Kapitalismus: Die Geschichte einer andauernden
Revolution
Autor Plumpe, Werner
Erschienen Berlin 2019: Rowohlt
Berlin Verlag
Anzahl Seiten 800 S.
Preis € 26,95
ISBN 978-3-87134-754-2
Rezensiert für H-Soz-Kult von Ines Prodöhl, Institut für
Archäologie,
Geschichte, Kultur- und Religionswissenschaft, Universität
Bergen
1950 produzierte die Deutsche Film AG, kurz DEFA, ihren ersten
Farbfilm, der
damit auch zum ersten Farbfilm der noch jungen DDR wurde. Er
hieß „Das kalte
Herz“ und basierte auf dem gleichnamigen romantischen Märchen
von Wilhelm Hauff
aus dem Jahr 1827. Der Film rückte die Folgen von Geldsucht und
Habgier ins
Zentrum seiner Darstellung und schien – ganz im Sinne des real
existierenden
Sozialismus – gerade deswegen geeignet, Kindern die negativen
Seiten
kapitalistischen Handelns vor Augen zu führen.[1]
Es ist kein Zufall, dass der Frankfurter Wirtschaftshistoriker
Werner Plumpe
seiner umfassenden Geschichte des Kapitalismus ebenfalls diesen
Titel gab.
Plumpe knüpft damit an Hauffs Erzählung vom Holländer-Michel an,
rezipiert aber
die Kapitalismuskritik, die ihr seitens marxistischer
Interpretationen
entgegengebracht wurde. Kapitalismuskritik ist denn auch der
zentrale
Ausgangspunkt für Plumpes Überlegungen. Bevor er zum Gegenstand
seiner
Untersuchung kommt, nämlich der Geschichte des Kapitalismus in
Europa seit dem
ausgehenden 17. Jahrhundert, wendet er sich mit erfrischender
Deutlichkeit von
der gegenwärtigen Kapitalismuskritik ab, die eine Scheinwelt
konstruiert habe,
in der das „selbsterzeugte Gespenst Kapitalismus von den Kräften
des Guten
bekämpft wird – bisher leider recht erfolglos“ (S. 13).[2] Plumpe geht ausführlich
auf die Ursachen
der Kapitalismuskritik ein, benennt ihre Ursprünge, die weit
länger zurück
liegen als der Kapitalismus selbst, und entwirft dann seinen
eigenen Zugang zum
Thema.
Plumpes Darstellung umkreist die Frage, warum sich der
Kapitalismus seit dem
17. Jahrhundert, ausgehend von den Niederlanden und England,
nach und nach in
ganz Europa und seit dem 20. Jahrhundert schließlich
weltumspannend
ausgebreitet hat. Er konzentriert sich auf den europäischen
Kontinent, weil er
die „einmalige Entwicklung Europas“ (S. 30f.) aufklären will.
Gleichwohl stellt
er ganz richtig fest, dass eine Geschichte des Kapitalismus
eigentlich eine
Geschichte der Weltwirtschaft sein müsste, wählt aber angesichts
des Umfangs
eines solchen Unterfangens einen pragmatischen Zugang, indem er
sich von Europa
ausgehend auf die Kernzonen des Kapitalismus konzentriert (S.
31). Das ist
einleuchtend, aber neuere Studien gerade aus dem
deutschsprachigen Raum zu
genau der Frage nach der Globalität des Kapitalismus als
Gegenstand
historischer Analysen hat Plumpe wenig berücksichtigt.[3]
Stattdessen benennt er zwei Grundvoraussetzungen für die
Entstehung des
Kapitalismus: die Ausbreitung von marktwirtschaftlichen
Strukturen bei
gleichzeitiger kapitalintensiver Güterproduktion, also die
Verbindung von
Kapital und Massenproduktion. Kern und Bedingung der
kapitalistischen
Massenproduktion sei die Nachfrage der nichtvermögenden Menschen
– sie bildeten
nach und nach den Massenmarkt, der eine kapitalistische
Produktion zugleich
verlange und ermögliche. Damit gehören zu den Kennzeichen des
Kapitalismus zum
Beispiel auch Massenkonsum, Privateigentum oder soziale
Ungleichheit und all diese
Dinge können ihn sowohl bedingen als auch ihm folgen. Vor dem
Hintergrund
dieser nachvollziehbaren Definition stellt Plumpe die sich im
17. Jahrhundert
verändernden wirtschaftlichen Verfahrensweisen als zentral für
den Beginn des
Kapitalismus heraus. Er entwirft den Kapitalismus als eine Form
des
Wirtschaftens, die auf dem Zusammentreffen verschiedener
Ursachen beruhe und
die sich zunächst im Verlagswesen und später im Rahmen der
industriellen
Produktion etabliert habe. Plumpe schließt sich damit der
Einschätzung Max
Webers an, der für die Herausbildung des Kapitalismus im Europa
der Frühen
Neuzeit einst von einer „Verkettung von Umständen“ sprach.
Von diesen Überlegungen ausgehend analysiert Plumpe die
Geschichte des
Kapitalismus in fünf chronologisch aufeinander aufbauenden
Kapiteln. Angesichts
des gewählten Bezugs auf den transatlantischen Raum sind Plumpes
Narrative
wenig überraschend. Das erste Kapitel widmet sich der Entstehung
des
Kapitalismus und stellt die wirtschaftlichen Veränderungen im
17. und 18.
Jahrhundert heraus, wie etwa die zunehmende Rolle des Geldes,
die sich zunächst
in einzelnen europäischen Städten vollzogen. Das zweite Kapitel
konzentriert
sich auf die dynamischen Entwicklungen hinsichtlich
Kapitalinvestitionen und
Massenkonsum im langen 19. Jahrhundert und berücksichtigt als
maßgebliche
Faktoren für diese Entwicklungen die besseren und vor allem
beschleunigten
Transport- und Kommunikationsmöglichkeiten. Das dritte Kapitel
fokussiert auf
die krieg- und krisengeschüttelte erste Hälfte des 20.
Jahrhunderts und das
vierte Kapitel auf das „goldene Zeitalter“, wie
Wirtschaftshistoriker die
Periode zwischen dem Beginn der 1950er- und dem Ende der
1970er-Jahre in Europa
bezeichnen. Hier wird die verstärkte Einmischung
US-amerikanischer Akteure
zugunsten der europäischen Wirtschaft im Kontext des Kalten
Krieges
thematisiert: Marshall-Plan, Massenkonsum und Strukturwandel
sind die zentralen
Themen. Das fünfte Kapitel konzentriert sich dann auf die
Liberalisierung der
Weltwirtschaft und den globalen Siegeszug des Kapitalismus seit
den
1980er-Jahren. Ein Schluss, der die Aussagen hinsichtlich der
Frage, warum der
Kapitalismus seinen Ursprung in Europa nahm, zusammenführt,
rundet das Buch ab.
Die Stärke des Buches liegt darin, dass jeder Abschnitt
ausführlich in die
jeweils zeitgenössischen Reflexionen über die kapitalistische
Wirtschaftsform
eingebettet ist. Es ist wahrlich beeindruckend, welche Fülle
ökonomischen
Denkens Plumpe versammelt, zumal sie ihm nicht als
Erklärungsansatz dienen, sondern
als historische Quelle. Er interpretiert sie im Kontext der
Zeit.
Schließlich steht die Frage im Raum, an wen sich das Buch
richtet. Mit weniger
als 30 Euro sind die 800 Seiten ausgesprochen preiswert, was auf
eine
auflagenstarke Publikation und damit auf einen Absatzmarkt
jenseits von
Fachkreisen schließen lässt. Plumpe ist mit seiner umfangreichen
Darstellung
wahrlich ein „public intellectual“ – wer sich außerhalb der
Zunft allerdings
auf das Buch einlässt, dem wird einiges abverlangt, da die
Erklärungen und
Schlussfolgerungen mitunter sprachlich recht sperrig ausfallen.
Abschließend lässt sich festhalten, dass Plumpes Buch zwar keine
Geschichte des
globalen Kapitalismus ist, wie der Titel vermuten lassen könnte,
sondern in
erster Linie eine Geschichte der kapitalistischen
Wirtschaftsweise in Europa
und Nordamerika seit dem 17. Jahrhundert. Hier zeigt Plumpe
Wandlungen auf, er
kontextualisiert und kontrastiert Veränderungen und er
untermauert seine
Analysen schließlich mit den jeweils zeitgenössischen
Reflexionen über die
Ökonomie.
Anmerkungen:
[1] Den meisten Kindern,
inklusive der Autorin
dieser Rezension, dürften allerdings mehr die Brutalität und
Grausamkeit der
Inszenierung in Erinnerung geblieben sein. Vgl. Das kalte Herz,
Regie Paul
Verhoeven, DEFA Produktion 1950.
[2] Hier verbirgt sich freilich
eine Anspielung
auf das kommunistische Manifest von Karl Marx und Friedrich
Engels (1848). Es
beginnt mit den Worten „Ein Gespenst geht um in Europa“, womit
ironischerweise
nicht das Gespenst des Kapitalismus gemeint ist, sondern das des
Kommunismus.
[3] Im Literaturverzeichnis
findet sich Jürgen
Kocka, Geschichte des Kapitalismus, München 2013. Eine
Auseinandersetzung mit
dessen Lesart bleibt Plumpe aber schuldig. Nicht genannt wird
hingegen
Friedrich Lenger, Globalen Kapitalismus denken, Tübingen 2018.
Zitation
Ines Prodöhl: Rezension zu: Plumpe, Werner: Das kalte Herz.
Kapitalismus:
Die Geschichte einer andauernden Revolution. Berlin 2019.
ISBN 978-3-87134-754-2, in: H-Soz-Kult,
06.03.2020, <www.hsozkult.de/publicationreview/id/reb-28309>.