Justice for the Enemy?. Die Verteidigung
deutscher Kriegsverbrecher durch
britische Offiziere in Militärgerichtsprozessen nach dem Zweiten
Weltkrieg
(1945–1949)
Autor Vordermayer, Margaretha Franziska
Reihe Historische Grundlagen der Moderne
Erschienen Baden-Baden 2019: Nomos
Verlag
Anzahl Seiten 338 S.
Preis € 74,00
ISBN 978-3-8487-6021-3
Inhalt meinclio.clio-online.de/uploads/media/book/toc_book-57786.pdf
Rezensiert für H-Soz-Kult von Kerstin Schulte, Bielefeld Graduate
School in
History and Sociology (BGHS), Universität Bielefeld
Die britischen Militärgerichtsprozesse in Deutschland sind heute
weitgehend in
Vergessenheit geraten. Aus juristischer wie
geschichtswissenschaftlicher Sicht
zu Unrecht, denn gerade die Rolle der britischen Offiziere
verdient eine
ausführliche Analyse: Sie fungierten als Verteidiger in den
Prozessen und
stellten ihre juristische Ausbildung sowie ihr demokratisches
Rechtsverständnis
offenbar über ihre Erfahrungen im Krieg; sie vertraten ihre
ehemaligen Feinde
trotz der oftmaligen Grausamkeit der ihnen zur Last gelegten Taten
nach bestem
Wissen und Gewissen. Margaretha Franziska Vordermayer untersucht
dies in dem
auf ihrer Münchner Dissertationsschrift von 2016 aufbauenden Buch
„Justice for
the Enemy?“.
Wie bereits der Untertitel „Die Verteidigung deutscher
Kriegsverbrecher durch
britische Offiziere in Militärgerichtsprozessen nach dem Zweiten
Weltkrieg
(1945–1949)“ signalisiert, beschäftigt sich Vordermayer in ihrer
Studie mit
britischen Offizieren, die als Wahl-Pflicht-Verteidiger deutsche
Angeklagte vor
britischen Militärgerichten in Deutschland vertraten. Die
Zuständigkeit dieser
Gerichte wurde durch die Herkunft der Geschädigten beschränkt, da
sie lediglich
Fälle mit mutmaßlichen Verbrechen an britischen Staatsbürgern oder
Staatsbürgern eines UN-Landes verhandelten. Vordermayer fragt, wie
die
abkommandierten Offiziere ihre Aufgabe interpretierten und welche
Stellung sie
innerhalb ihres militärischen Umfelds innehatten (S. 29).
Allerdings lasse
sich, so konstatiert die Autorin selbst, eine genuin
akteurszentrierte Studie
aufgrund des vorhandenen Quellenkorpus nicht schreiben (S. 20, S.
29). Dies ist
auch nicht ihr primärer Anspruch; es geht ihr vielmehr um die
juristische
Aufarbeitung von Verbrechen, die im Rahmen und im Namen des
nationalsozialistischen Unrechtsstaates begangen wurden. Sie will
klären,
welche Bedeutung die britischen Militärgerichtsprozesse für die
Etablierung
einer demokratischen Ordnung in Deutschland hatten (S. 18).
Damit verspricht Vordermayers Perspektive einen originellen Zugang
zum Thema der
alliierten Nachkriegsprozesse. Sowohl in den „klassischen“ als
auch in den
neueren Studien der letzten Jahre werden in der Regel die
Perspektiven der
Angeklagten, der Anklagenden oder aber der Gesamtkomplex einzelner
Tribunale
betrachtet sowie juristische und prozessrechtliche Fragen
erörtert.[1] Zu den bekanntesten
Beispielen dieser
Kategorie gehören die Nürnberger Prozesse, die
Konzentrationslager-Prozesse
(Bergen-Belsen, Dachau, Ravensbrück), die Hamburger
Curiohaus-Prozesse oder die
späteren Auschwitz-Prozesse.[2] Juristische Debatten um
die Art der
begangenen Verbrechen sowie die Frage, ob überhaupt eine strafbare
Handlung
vorlag und wie diese gegebenenfalls zu bewerten sei, spielen
wiederum auch in
Vordermayers Studie eine zentrale Rolle.
Die Autorin hat insgesamt 34 Militärgerichtsprozesse untersucht,
die zwischen
Oktober 1945 und Dezember 1949 stattfanden und in denen britische
Offiziere als
Wahl-Pflicht-Verteidiger auftraten. Allerdings konzentrierte sich
die
Prozesstätigkeit der Briten im Wesentlichen auf das Jahr 1946,
sodass auch der
Analyseschwerpunkt auf diesem Jahr liegt (S. 75). Das ausgewertete
Quellenkorpus ist breit: Neben Prozessakten der Verfahren,
Nachlässen von
Militärangehörigen, Presseberichten in Deutschland und
Großbritannien,
Dokumenten zur britischen Besatzungsverwaltung und deren interner
Korrespondenz
bedient sich Vordermayer auch der gedruckten Bände der United
Nations War
Crimes Commission (UNWCC) und des britischen Manual of Military
Law (MML). Ihr
Anspruch ist es, das „Potenzial der ‚cultural studies’ im Bereich
zeithistorische
Militär- und Rechtsgeschichtsforschung aus[zu]loten“ (S. 20) und
damit einen
Beitrag zur Erforschung von Transitional Justice zu leisten.
Methodisch möchte
sie dazu „(militär-)historische und rechtswissenschaftliche
Ansätze“ (S. 20)
miteinander verknüpfen.
Die Studie besteht aus fünf Hauptkapiteln. Nach einer Einleitung
befassen sich
die anschließenden vier Kapitel jeweils mit einem bestimmten
Aspekt der
Militärgerichtsprozesse: mit den alliierten „Pläne[n] zur
Strafverfolgung
deutscher Kriegsverbrechen 1939–1946“, der Durchführung der
Prozesse mit
britischen Verteidigern, deren „zeitgeschichtliche[r] Wahrnehmung
und
Beurteilung“ sowie ihrer bilanzierenden Einordnung „als Beitrag
zur Transitional
Justice“. Einen Schwerpunkt soll Vordermayer zufolge die
Kooperation zwischen
britischen und deutschen Verteidigern bilden (S. 19); sie wird im
Laufe der
Studie allerdings eher marginal behandelt. Die Autorin
strukturiert ihre
Analyse anhand der Art der verfolgten Kriegsverbrechen und ordnet
diese drei
Hauptkategorien zu: erstens die Verbrechen in Konzentrationslagern
oder auf
Todesmärschen, zweitens die Misshandlung oder Tötung alliierter
Kriegsgefangener und drittens Kriegsverbrechen von Schiffs- oder
U-Boot-Besatzungen (S. 73). Dabei stellt die zweite Gruppe die
zahlenmäßig
größte Kategorie der in der Monographie verhandelten Fälle dar;
mit rund 100
Seiten bildet das diesbezügliche Teilkapitel (2.2.) einen klaren
Schwerpunkt.
Einleitend arbeitet Vordermayer den „clash of legal cultures“ (S.
23) anhand
der britischen Militärgerichtsprozesse bzw. der bisherigen
Forschung
überzeugend heraus. Sie stellt anschaulich dar, dass in den
Prozessen
miteinander konkurrierende Ordnungsvorstellungen und
Rechtstraditionen
aufeinandertrafen. Aufgrund dessen schreibt sie den Verfahren
einen
„experimentellen Charakter“ zu (S. 20), da traditionelle
Militärgerichtsverfahren auf neuartige Verbrechenstatbestände
trafen.
In den beiden darauffolgenden Kapiteln gelingt es Vordermayer, die
Verteidigungsstrategien
der britischen Offiziere offenzulegen sowie wiederkehrende Muster
herauszuarbeiten. Sie zeigt, dass die besondere Situation der
Militärgerichtsprozesse für angeklagte deutsche Soldaten in
einigen Fällen von
Vorteil sein konnte, vor allem dann, wenn sich die verteidigenden
Offiziere im
Verfahren auf transnational anerkannte Werte der soldatischen Ehre
und
Pflichten beriefen (S. 229, S. 254f., S. 267). In diesen Fällen
waren alle
Prozessbeteiligten (Ankläger, Richter, Beisitzer und letztlich
auch die
Anwälte) Angehörige des Militärs oder zumindest militärisch
sozialisiert
gewesen, sodass ein Verweis auf soldatische Werte und Normen
potenziell auf
Verständnis stoßen konnte. Explizit davon ausgenommen war
allerdings die
Entschuldungsstrategie des „Befehlsnotstandes“. Vielmehr sei eine
„glaubwürdige
Darstellung von soldatischem Verantwortungsbewusstsein gegen
Kriegsgefangenen“
von „britischen Militärgerichten als zumindest strafmildernd“
gewertet worden
(S. 267f.). Dagegen hätten die Gerichte „Verbrechen an alliierten
Kriegsgefangenen, vor allem britischen Fliegern, aber auch
Zwangsarbeitern“ mit
großer Härte bestraft (S. 267). Todesurteile wurden ausschließlich
in den
„Flieger-Prozessen“ verhängt.
Die besondere „Vermittler-Rolle“ der britischen
Wahl-Pflicht-Verteidiger
zwischen den Angeklagten, dem Gericht und der Öffentlichkeit wird
anhand der
von Vordermayer ausgewählten Prozesse deutlich. Bei diesen
Verteidigern
handelte es sich in der Regel um britische Offiziere mit
juristischer
Ausbildung, die den deutschen Angeklagten in den
Militärgerichtsprozessen
zugeteilt wurden beziehungsweise die sie sich aus einem Pool an
qualifizierten
und verfügbaren Offizieren aussuchen konnten, wenn es die
angespannte
Personallage zuließ und sofern sie nicht auf eigene Kosten einen
deutschen
Zivilanwalt in Anspruch nehmen wollten (S. 65, S. 111). Auch eine
doppelte
Verteidigung durch einen britischen Offizier und einen deutschen
Anwalt war
möglich, ebenso die Kombination aus einem deutschen Verteidiger
und einem sogenannten
„Assisting Officer“, der den Angeklagten und ihren Anwälten
beratend zur Seite
gestellt werden konnte, da dieser mit dem britischen Rechtssystem
besser
vertraut war und entsprechende Empfehlungen aussprechen konnte (S.
65).
Die detaillierten Schilderungen der einzelnen Verfahren erscheinen
auf den
ersten Blick mitunter zu langatmig, allerdings lassen sich nur auf
diese Weise
die Verteidigungsstrategien der britischen Anwälte sowie die
Prozessergebnisse
in vollem Umfang nachvollziehen. Mit ihrem demonstrativ
untadeligen Einsatz für
deutsche Mandanten leisteten die Verteidiger, so schlussfolgert
auch
Vordermayer, einerseits einen wichtigen Beitrag zur angestrebten
demokratischen
Umerziehung in Deutschland, indem sie exemplarisch den Ablauf
fairer und rechtsstaatlicher
Verfahren demonstrierten. Andererseits schufen sie im Rahmen der
Prozesse die
Rechtsfigur der Kollektivstrafbarkeit bei
Menschenrechtsverletzungen, die „zum
Vorbild für ähnliche Prozesse in der zweiten Hälfte des 20.
Jahrhunderts“ wurde
(S. 313). Neuerdings fanden diese Straftatbestände etwa Anwendung
im Rahmen der
UN-Strafgerichtshöfe zum ehemaligen Jugoslawien (1993–2017) und
zum Völkermord
in Ruanda (1994–2015).[3]
Im vierten Kapitel gelingt es Vordermayer zu zeigen, dass die
Prozesse in
Deutschland positiv rezipiert wurden und damit dem klassischen
Narrativ der
ungerechten und ungerechtfertigten „Siegerjustiz“ entgegenstanden.
Die überaus
fairen, streng nach rechtsstaatlichen Prinzipien organisierten
Verfahren trugen
offenbar dazu bei, dass auch die deutsche Seite einen
differenzierten Blick auf
die Prozesse und die britische Justiz insgesamt bekam – was in der
Öffentlichkeit allerdings nie eine entsprechende
Breitenwirksamkeit erlangte.
Dieser wichtige Aspekt bleibt in der Schlussbetrachtung der Arbeit
jedoch eher
blass. Ein Vergleich zur deutschen Strafjustiz, die sich später
mit ähnlichen
Fällen auseinandersetzte und die auch bereits in der historischen
Forschung
behandelt wurde, wäre zudem wünschenswert gewesen.[4]
Vordermayers Studie liefert dennoch einen guten Einstieg in die
Thematik der
britischen Militärgerichtsprozesse in Deutschland, da die
einzelnen Verfahren
und ihre Verläufe anschaulich geschildert werden. Die eigentliche
Analyse der
britischen Offiziere als Verteidiger in diesen Prozessen wirkt
dagegen etwas
unausgewogen und eher an den Rand gedrängt. Hier wäre, sofern
verfügbar, eine
intensivere Arbeit mit Ego-Dokumenten der britischen Verteidiger
nützlich
gewesen, um fundierte Aussagen über die Motivationen und
Einstellungen der
verteidigenden Offiziere gegenüber den Prozessen, ihren Mandaten
und ihren
Aufgaben insgesamt treffen zu können und damit letztlich auch der
gewählten
Leitfrage nach der Demokratisierung stärker gerecht zu werden.
Trotz dieser
Kritik hat Margaretha Franziska Vordermayer mit „Justice for the
Enemy?“ aber
eine fundierte Studie vorgelegt, die die Debatten um Transitional
Justice
bereichern kann, gerade auch vor dem Hintergrund aktueller
Diskussionen über
Fairness im internationalen Recht.[5]
Anmerkungen:
[1] Eine Ausnahme bildet hier
u.a. eine in
derselben Reihe erschienene Studie zu den Verteidigern in den
Nürnberger
Prozessen: Hubert Seliger, Politische Anwälte? Die Verteidiger der
Nürnberger
Prozesse, Baden-Baden 2016; rezensiert von Kim Christian Priemel,
in:
H-Soz-Kult, 31.01.2017, https://www.hsozkult.de/publicationreview/id/reb-23871
(15.12.2019).
[2] Vgl. u.a. Kim Christian
Priemel, The
Betrayal. The Nuremberg Trials and German Divergence, Oxford 2016;
Jörg
Osterloh / Clemens Vollnhals (Hrsg.), NS-Prozesse und deutsche
Öffentlichkeit.
Besatzungszeit, frühe Bundesrepublik und DDR, Göttingen 2011; John
Cramer,
Belsen Trial 1945. Der Lüneburger Prozess gegen Wachpersonal der
Konzentrationslager Auschwitz und Bergen-Belsen, Göttingen 2011;
Kurt Buck /
KZ-Gedenkstätte Neuengamme (Hrsg.), Die frühen Nachkriegsprozesse,
Bremen 1997.
[3] Vgl. u.a. Norbert Frei /
Annette Weinke
(Hrsg.), Toward a New Moral World Order? Menschenrechtspolitik und
Völkerrecht
seit 1945, Göttingen 2013; Stefan-Ludwig Hoffmann (Hrsg.),
Moralpolitik.
Geschichte der Menschenrechte im 20. Jahrhundert, Göttingen 2010;
Daniel
Plesch, America, Hitler and the UN. How the Allies Won World War
II and Forged
a Peace, London 2011.
[4] Vgl. u.a. Raphael Gross /
Werner Renz
(Hrsg.), Der Frankfurter Auschwitz-Prozess (1963–1965).
Kommentierte
Quellenedition, 2 Bde., Frankfurt am Main 2013.
[5] Vgl. u.a. Ulrike Müßig,
Reason and Fairness.
Constituting Justice in Europe, from Medieval Canon Law to ECHR,
Leiden 2019;
Annette Weinke, Gewalt, Geschichte, Gerechtigkeit. Transnationale
Debatten über
deutsche Staatsverbrechen im 20. Jahrhundert, Göttingen 2016.
|