»Aktion 1005«. Spurenbeseitigung von
NS-Massenverbrechen 1942–1945
Eine »geheime Reichssache« im Spannungsfeld
von Kriegswende und Propaganda
Angrick, Andrej
Göttingen 2018: Wallstein
Verlag
1381 S.
€ 79,00
ISBN 978-3-8353-3268-3
Rezensiert für H-Soz-Kult von Stephan
Lehnstaedt, Touro College Berlin
Dieses Buch wiegt wahrlich schwer. Auf über
1.200 Textseiten beschreibt es die Spurenbeseitigung im
Holocaust. Als der eigentliche Massenmord vorüber war, gingen
die Deutschen an die Vertuschung ihrer Taten: Einerseits, weil
der Krieg gegen die Sowjetunion kein siegreiches Ende versprach
und Beweise über die jede Vorstellung sprengenden eigenen
Verbrechen eine propagandistische Katastrophe wären;
andererseits, weil sie nicht nur die Juden selbst, sondern auch
die Zeugnisse ihrer Existenz – abgesehen von
nationalsozialistischen Folkloremuseen – auslöschen wollten. Die
Täter gaben diesem Verschleierungsversuch den Namen „Aktion
1005“. Sie ist untrennbar mit dem Genozid verbunden, und zwar
nicht nur, weil sie den Mord an den allerletzten Überlebenden
umfasste, die beim Beseitigen der Leichen helfen mussten.
Gerade Letzteres war für die Täter offensichtlich: Alle
zwangsweisen Helfer, die die ekelerregende und hochanstrengende
Exhumierung und Verbrennung der Toten durchführten, hätten sonst
selbst Zeugnis ablegen können. Angesichts der Dimension des
Massenmords mag das absurd anmuten, aber tatsächlich sind bis
heute nach wie vor viele Orte von Erschießungen und anderen
Massakern unbekannt oder erst vor kurzem mittels invasiver und
noninvasiver Methoden der Bodenerkundung oder aufwändiger
Befragungen von Bewohnern osteuropäischer Orte identifiziert
worden. Andrej Angricks Studie greift diese Erkenntnisse immer
wieder auf, beruht jedoch zuvorderst auf eigenen,
jahrzehntelangen Forschungen in den Akten der deutschen
Nachkriegsermittler sowie in Archiven auf der ganzen Welt. Vor
diesem Hintergrund präsentiert er ein eindrucksvolles Panorama
der deutschen Spurenverwischung, das in weiten Teilen Anspruch
auf Vollständigkeit erheben kann. Das gilt insbesondere deshalb,
weil er neben den besetzten Gebieten der Sowjetunion und Polens
auch Südosteuropa sowie das Deutsche Reich mit in den Blick
nimmt, was bisher meist unterblieb. Und mehr als das: Indem die
Untersuchung auch die Taten benennt, die verschleiert werden
sollten, beschreibt sie den Holocaust an sich.
Angricks monumentale Studie ist ein Buch des Grauens, weil es
voller Details die ganze Dimension des Mordens zeigt, mit der
die Deutschen Europa überzogen hatten. Es ist dokumentarische
Geschichtswissenschaft im besten Sinne, bei der es nur ganz am
Rande um Thesenbildung geht. Auch exemplarisches Arbeiten liegt
dem Autor fern. Stattdessen legt er den aktuellen Wissensstand
zur Gänze dar und zeigt damit, wie sehr die „Aktion 1005“ ein
Fehlschlag war: Seite für Seite, Fußnote für Fußnote sind
Nachweise der Verbrechen, belegen die Taten und nennen die
Täter. Diese haben sie nach dem Krieg selbst in zahlreichen
Strafverfahren ausgesagt und Zeugnis von ihrem Handeln abgelegt.
Auf diesen Aussagen beruht das Buch zu wesentlichen Teilen. Kaum
erwähnt werden deshalb diejenigen Tatorte, an denen die Männer
der „Aktion 1005“ keine Leichenbeseitigung betrieben, wo also
tatsächlich noch Massengräber vorhanden sind.
Karten und Lagepläne erleichtern die Orientierung, Fotos geben
immer wieder optische Eindrücke vom Geschehen bzw. eher von den
Folgen der „Aktion 1005“. Ein 94 Seiten umfassendes Orts-,
Personen- und Sachregister bietet Orientierung in den zwei
Bänden, die trotz aller dokumentarischen Ansprüche doch
Straffung hätten vertragen können: Neben allerlei meist knappen
Abschweifungen schlagen alleine die Kapitel über das „Wissen der
Welt“ oder die Beseitigung von Spuren eigener Verbrechen durch
die Sowjetunion mit weit über hundert Seiten zu Buche. Und
angesichts der stupenden Belesenheit des Autors mag es eine
beckmesserische Kritik sein, die Beschränkung auf westliche
Sprachen zu bemängeln (die ganz im Gegensatz zur sonstigen
Präzision eine geradezu leichtfertige Einstellung gegenüber
osteuropäischen Eigennamen zur Folge hat und immer wieder
ärgerliche Fehler bedingt), aber in der Tat hätten gerade die
frühen Ermittlungen im Osten wohl manch spätere „Entdeckung“ –
nicht unbedingt durch den Autor selbst, aber doch durch andere
Historiker/innen – relativiert.
Offensichtlich konnten wegen des breiten geographischen Rahmens
nicht immer für jeden Ort die allerneuesten Befunde gerade der
Archäologie, die in den letzten Jahren verstärkt Grabungen etwa
in Lagern der „Aktion Reinhardt“ durchführt, berücksichtigt
werden. Tatsächlich zeigen sich hierbei auch die Grenzen der
deutschen Ermittlungsakten, etwa wenn Angrick für das
Vernichtungslager Sobibor aufgrund dieser Quelle von zwei
Gaskammern mit jeweils 6 mal 6 Metern Größe ausgeht (S. 134) und
andere Angaben unter anderem auf der Basis von
Überlebendenaussagen verwirft; letztere sprachen von drei
Kammern mit 4 mal 4 Metern Größe, und Angrick argumentiert, dass
man die tatsächlichen Verhältnisse wohl nur anhand der
verschollenen Bauakten der „Aktion-Reinhardt“-Lager herausfinden
könne. Tatsächlich hatten 2014 Ausgrabungen auf dem ehemaligen
Lagergelände die Fundamente einer Gaskammer mit drei Räumen à 4
mal 5,30 Meter sowie einem Raum für den zur Vergasung genutzten
Motor in der Größe von 4 mal 3,50 Meter freigelegt. Diese
Erkenntnisse sind inzwischen veröffentlicht, ebenso wie
diejenigen aus Treblinka, die gleichsam unberücksichtigt
bleiben.
Doch solche Monita treten hinter die monumentale Gesamtleistung
zurück, für deren detaillierte Würdigung wohl ein ganzes Team
hochspezialisierter Historiker/innen notwendig wäre. Was Angrick
liefert, ist eine Art Abschlussbericht des Holocaust, der
minutiös die Taten auflistet und die Verantwortlichen
identifiziert. Das ist eine sehr deutsche Täterforschung und
mithin eine Perspektive, die im letzten Jahrzehnt gegenüber dem
Fokus auf die Opfer etwas in den Hintergrund gerückt war – die
aber, wie hier eindrucksvoll gezeigt wird, durchaus ihre
Berechtigung hat. Ohne Zweifel handelt es sich hierbei um ein
wichtiges Standardwerk zu den deutschen Verbrechen des Zweiten
Weltkriegs, ja tatsächlich um einen Höhepunkt gereifter
Täterforschung. Am Ende möchte man die zwei schwergewichtigen
Bände nicht nur jeder Bibliothek und allen ernsthaften
Holocaustforscher/innen empfehlen, sondern sie auch nehmen und
sämtlichen Ignoranten und Revisionisten an den Kopf werfen und
ihnen zurufen: Leugnen zwecklos!