Zeitgeschichte sehen.. Die Aneignung von
Vergangenheit durch
Filme und ihre Zuschauer
Autor Moller, Sabine
Reihe Deep Focus 27
Erschienen Berlin 2018: Bertz
+ Fischer Verlag
Anzahl Seiten 223 S., 171 Abb.
Preis € 25,00
ISBN 978-3-86505-330-5
Rezensiert für H-Soz-Kult von Julian Genten, Arbeitsbereich
Didaktik der
Geschichte, Friedrich-Meinecke-Institut, Freie Universität Berlin
Wie rezipieren Zuschauer/innen historische Spielfilme? Und wie
wirkt sich die
jeweilige Rezeptionsweise auf die Ausprägung von
Geschichtsbewusstsein aus? Mit
„Zeitgeschichte sehen“ hat Sabine Moller eine Arbeit vorgelegt,
die diese
Fragen anhand ausgewählter Filme empirisch untersucht. Anhand von
Gruppendiskussionen und leitfadengestützten Interviews zu
einzelnen
Filmsequenzen zeigt Moller im ersten Teil des Buches zum einen,
wie Zuschauer/innen
als aktiv handelnde Akteur/innen „dem Gesehenen mit einer eigenen
Agenda“
begegnen und es dementsprechend deuten (S. 197). Zum anderen
veranschaulicht
sie Filmrezeption aber auch als einen kommunikativen Vorgang, der
gesellschaftlichen Konventionen unterliegt, welche die Kreativität
der
Zuschauer/innen rahmen und ihre Aneignung an soziale Kontexte
rückbinden. Im
zweiten Teil von „Zeitgeschichte sehen“ wechselt Moller die
Perspektive von den
Zuschauer/innen hin zu Filmemacher/innen und fragt danach, „wie
Regisseure die
Aneignung von Geschichte kunstvoll in Szene setzen und dabei ihre
eigene
subjektive Betroffenheit von dieser Geschichte explizieren und
ausstellen“ (S.
16).
Diesen empirischen Untersuchungen sind im Kapitel „Zugänge“
detaillierte theoretische
und methodische Vorüberlegungen vorangestellt, welche die Arbeit
an der
Schnittstelle von Filmwissenschaften, Geschichtsdidaktik,
Gedächtnis- und
Rezeptionsforschung verorten und ihr eine theoretische Grundlage
von
beachtlicher Breite bieten. Dem Trend der neueren
kulturwissenschaftlichen
Rezeptionsforschung folgend, begreift Moller Filmrezeption als
einen Prozess
der Aneignung, bei dem die Zuschauer/innen ihre eigene Lebenswelt
mit der im
Film gezeigten Geschichte verzahnen und dieser Bedeutung
zuschreiben.[1] Dieses
„interaktionistische Element“ der
Filmrezeption spiegelt sich auch in Mollers methodischem Zugriff
wider, wenn
sie ihre Forschungsinterviews „als von mehreren Sprechern
gemeinsam verfertigte
Texte“ konzipiert und die soziale Determiniertheit jeder
Erzählsituation
reflektiert (S. 61–62). Dabei orientiert sie sich an Ansätzen der
qualitativen
Sozialforschung, insbesondere am Konzept der Grounded Theory, um
Theorie und
Forschungsgegenstand wechselwirkend aneinander zu entwickeln. Ihre
Gesprächspartner/innen sind im Sinne eines theoretischen Samplings
ausgewählt,
sollen also dem Anspruch nach Aufschluss über ein möglichst
breites Spektrum an
Aneignungsweisen von Filmen geben (vgl. S. 55–57).
Das Kapitel „Filmaneignungen“ stellt mit der Auswertung von
Interviews zu den
bekannten Spielfilmen „Forrest Gump“ (Regie: Robert Zemeckis, USA
1994) und
„Good Bye, Lenin!“ (Regie: Wolfgang Becker, Deutschland 2003) den
Kern der
Arbeit dar. Moller, die ihre Untersuchung in Deutschland und den
USA
durchgeführt hat, begründet diese Auswahl mit der hohen
Popularität der Filme
in beiden Ländern, die in ihrer Darstellung von Zeitgeschichte
beide ikonische
Bilder geschaffen hätten, welche die Geschichtsvorstellungen
breiter
Bevölkerungsteile geprägt hätten. Diesen beiden Tragikomödien wird
anschließend
mit „Schindlers Liste“ (Regie: Steven Spielberg, USA 1993) ein
Drama
gegenübergestellt, um zu eruieren, inwiefern den zuvor
analysierten
Aneignungsweisen von Geschichte im Film genreübergreifende
Gültigkeit zukommt.
Die Unterkapitel von „Filmaneignungen“ sind klar strukturiert:
Moller gibt
zunächst einen kurzen Überblick über den jeweiligen Film und
stellt die für die
Interviews ausgewählten Filmsequenzen vor, wobei die zahlreichen
abgedruckten
Filmstills (insgesamt 171) die Orientierung beim Lesen
erleichtern. Hiervon
ausgehend werden dann jeweils drei Interviews auf Grundlage von
Harald Welzers
hermeneutischer Dialoganalyse ausführlich besprochen und um die
Reaktionen
weiterer Gesprächspartner/innen ergänzt.[2] Zudem hat Moller die
Analyse eines
Filmabends, bei dem eine Gruppe Studierender gemeinsam „Forrest
Gump“ schaute,
in ihr Buch mit einbezogen. Insbesondere hier gelingt es ihr,
anhand einzelner
Gesprächssequenzen die lebensweltlichen Rückbezüge und soziale
Kontextgebundenheit jeder Filmrezeption zu veranschaulichen –
etwa, wenn sie
zeigt, wie eine Studentin den Film nicht nur aus ihrer eigenen
Perspektive
wahrnimmt, sondern sich zugleich in die Rolle ihrer abwesenden
Dozentin
hineinversetzt, den Film gewissermaßen mit deren Augen sieht und
ihre mutmaßlichen
Reaktionen kommentiert (vgl. S. 87–92).
Auch die Einzelinterviews werden gut nachvollziehbar interpretiert
und bieten
interessante Erkenntnisse, beispielsweise über Ien Angs
Unterscheidung zwischen
empiristischem und emotionalem Realismus (S. 100)[3], welche Moller anhand
einer Äußerung
einer US-amerikanischen Historikerin diskutiert, die über eine
Szene aus
„Forrest Gump“ sagt: „What I saw was the reality of the late
sixties.“ (S. 97)
Bei der Auswahl der Gesprächspartner/innen wäre mehr Diversität
allerdings
wünschenswert gewesen. Denn einerseits werden die analysierten
Interviews zwar
gekonnt im Sinne des theoretischen Samplings miteinander
kontrastiert, wobei
Moller insbesondere gutes Gespür für intersektionale
Betrachtungsweisen zeigt
und Lesarten vorstellt, die sich – bezogen auf „Forrest Gump“ –
wahlweise auf
die Themengebiete Race, Class und Gender fokussieren. Andererseits
kommen
jedoch in den ausführlich besprochenen Interviews ausschließlich
Akademiker/innen zu Wort – eine Gruppe Studierender, zwei
Historiker/innen, je
ein Film- und Kommunikationswissenschaftler, ein Geschichtslehrer,
eine
pensionierte Englischlehrerin und eine Kulturwissenschaftlerin.
Und auch bei
den nur kurz angerissenen weiteren Interviewausschnitten zeigt
sich ein
ähnliches Bild. Das wirft die Frage auf, ob hier nicht eher die
Rezeptionsweisen einer kleinen bildungsbürgerlichen Elite
untersucht wurden,
als die von Zuschauer/innen insgesamt. Bedauerlicherweise
erläutert Moller
nicht genauer, wie sie ihre Interviewpartner/innen gefunden hat,
sondern gibt
lediglich an, im „Schneeballverfahren“ Informationen zu ihrem
Projekt „weit
gestreut“ zu haben (S. 56). Es scheint jedoch so, als hätte die
weite Streuung
vorrangig in einem universitären Kontext stattgefunden. Diese
Blase zu
verlassen und nicht-akademische Stimmen stärker mit einzubeziehen,
hätte dem
Werk sicher gut getan.
Das Kapitel „Aneignungsfilme“ untersucht anhand dreier Beispiele –
„The
Watermelon Woman“ (Regie: Cheryl Dunye, USA 1996), „Ararat“
(Regie: Atom
Egoyan, Kanada/Frankreich 2002) und „Aufschub“ (Regie: Harun
Farocki,
Deutschland 2007) – wie sich Filmemacher/innen historische
Ereignisse und Topoi
zu eigen machen und filmisch in Szene setzen. Moller selbst
konzediert, dass
sich ihr „eigenes Vergnügen an diesen Filmen“ in ihren Analysen
widerspiegele,
die gleichwohl theoretisch gesättigt sind und ihr
Erkenntnisinteresse klar zum
Ausdruck bringen. Anhand von Atom Egoyans „Ararat“, einem Film
über den Genozid
an den Armenier/innen, diskutiert sie beispielsweise die
Schwierigkeiten bei der
Verfilmung eines historischen Geschehens, für das es noch kaum
etablierten
Sehgewohnheiten und medial geprägte Bilder gibt, und analysiert
den
selbstreflexiven Umgang des Films mit seinen
Beglaubigungsstrategien (vgl. S.
173–182). Auch Mollers Analysen von „The Watermelon Woman“ und
„Ararat“ bieten,
jeweils für sich genommen, zahlreiche Denkanstöße. Dabei ist eine
das Kapitel
zusammenhaltende Argumentation allerdings nur schwer erkennbar.
Die
Interpretationen der drei Filme stehen eher lose verbunden
nebeneinander und
werden weder durch ein Zwischenfazit zusammengeführt noch im
Schlussteil des
Werkes erneut aufgegriffen.
Dieses Fehlen einer übergreifenden Narration betrifft auch den
Aufbau des
Buches insgesamt. Es ist zwar in der Tat innovativ, „die Aneignung
von
Vergangenheit“ – wie es im Titel heißt – zugleich „durch
Filme[-macher/innen]
und ihre Zuschauer“ zu analysieren, doch versäumt es Moller, klare
Verbindungen
zwischen „Filmaneignungen“ und „Aneignungsfilmen“ herzustellen.
Eine stärkere
Verflechtung zwischen diesen beiden analytischen Ebenen – etwa
durch Interviews
mit Zuschauer/innen der untersuchten „Aneignungsfilme“ – hätte
möglicherweise
weiterführende Erkenntnisse über die Beziehungen zwischen der
filmischen
Visualisierung von Geschichte und ihrer Rezeption hervorgebracht.
Von diesen kleineren Kritikpunkten abgesehen, ist „Zeitgeschichte
sehen“ jedoch
ein theoretisch überaus fundiertes Werk. Sabine Moller gelingt es,
Theorie und
Empirie immer wieder produktiv aufeinander zu beziehen und
aneinander zu
schärfen. Ihre interdisziplinäre und methodisch vielseitige
Herangehensweise
macht „Zeitgeschichte sehen“ zu einem Werk, das von Forscher/innen
vieler
unterschiedlicher Fachrichtungen mit großem Gewinn gelesen werden
kann.