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2011/08/07 10:41:52
Rolgeiger
[Regionalforum-Saar] Verkauf der Herrschaft Dagstuhl 1720
Datum 2011/08/10 09:23:27
Rolgeiger
[Regionalforum-Saar] Vortrag über Hexen im Cusan ushaus
2011/08/24 20:19:45
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[Regionalforum-Saar] 1838 - ein ganz neumodischer Apparat
Betreff 2011/08/05 08:56:32
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[Regionalforum-Saar] aus der Zeitschrift des BSW (ehemals Bundesbahnsozialwerk)
2011/08/07 10:41:52
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[Regionalforum-Saar] Verkauf der Herrschaft Dagstuhl 1720
Autor 2011/08/10 09:23:27
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[Regionalforum-Saar] Vortrag über Hexen im Cusan ushaus

[Regionalforum-Saar] Atheismus, Unglauben und Glaubenszweifel vom 12. Jahrhundert bis zur Neuzeit

Date: 2011/08/09 23:40:12
From: Rolgeiger <Rolgeiger(a)...

Weltecke, Dorothea: "Der Narr spricht: Es ist kein Gott". Atheismus,
Unglauben und Glaubenszweifel vom 12. Jahrhundert bis zur Neuzeit (=
Campus Historische Studien 50). Frankfurt am Main: Campus Verlag 2010.
ISBN 978-3-593-39194-6; Pb.; 578 S.; EUR 49,90.

Rezensiert für H-Soz-u-Kult von:
Sita Steckel, Mahindra Humanities Center, Harvard University
E-Mail: <steckel(a)... Neuzeithistoriker, Soziologen und Religionswissenschaftler mag die
Frage nach Atheismus im christlichen Mittelalter, dem Inbegriff
vormoderner Religiosität, möglicherweise randständig wirken. Sie führt
jedoch mitten hinein in Debatten, in denen derzeit um eine
geschichtswissenschaftlich fundierte Darstellung europäischer
Religionsgeschichte gerungen wird, die überholte
modernisierungstheoretische und säkularisierungstheoretische Narrative
hinter sich lässt.

Dorothea Weltecke gelingt es in ihrer anregenden Studie zu Atheismus,
Unglauben und Zweifel im christlichen 12. bis 15. Jahrhundert
meisterhaft, aufklärerische wie romantisierende Bilder einer
mittelalterlichen religiösen Einheitswelt aufzulösen. An ihre Stelle
setzt sie Neues, namentlich eine Auseinandersetzung mit einigen
zeitgenössischen Begriffen und Konzepten. Vor allem jedoch widmet sie
sich der Aufarbeitung von Erkenntnishindernissen und der Klärung
methodischer Vorüberlegungen für weitere Forschungen, was auch
ausdrücklich als Ziel der Untersuchung genannt wird.

Welteckes problemorientierter Zugriff führt zu einem fast ausschließlich
kritisch-dekonstruierenden Duktus, dürfte interessierten Lesern und
Leserinnen verschiedener Disziplinen aber dennoch nicht zum Nachteil
gereichen. Tatsächlich lassen sich die methodischen Aporien, die der
Erforschung von 'Atheismus im Mittelalter' anhängen, nämlich nicht
einfach hinwegdefinieren: 'Atheismus' selbst ist als Begriff im
christlichen Mittelalter nicht belegt, sondern tritt erst in der Frühen
Neuzeit auf. Wie geht man also einem Phänomen nach, das es im
Mittelalter eben nur annäherungsweise gegeben haben könnte? Und wie kann
man den Begriff operationalisieren, ohne dabei auf Irrwege zu geraten -
nämlich in das eingleisige Fahrwasser einer genauso traditionsreichen
wie triumphalistischen Tradition der Ketzer-, Freidenker- und
Aufklärungsgeschichte, die stets geradezu besessen davon war, auch im
Mittelalter schon Atheismus, Aufklärung, Zweifel und kritischen Geist zu
konstatieren? Wie geht man schließlich damit um, dass man sich auch bei
kritischer Diskussion der (teils ja sehr kenntnisreichen und
verdienstvollen) Erforschung von religiösem Zweifel und 'Aufklärung im
Mittelalter' meist auf sehr schwankenden methodischen Boden begibt?
Spätestens in Aufnahme von Leo Strauss nahmen moderne Studien ja stets
gern an, dass Verfolgungssituationen vormoderne Zweifler dazu zwangen,
ihren Unglauben geheimzuhalten oder unter einer frommen Oberfläche zu
verstecken. Sie stellten sich daher gern weitreichende
interpretatorische und definitorische Vollmachten aus.

Um derartige Problematiken systematisch in den Griff zu bekommen, tut
Welteckes Studie das einzig Folgerichtige: Sie historisiert nicht nur
den Begriff des Atheismus, den sie eng als Leugnung der Existenz Gottes
fasst, sowie die verwandten Kategorien des Unglaubens und
Glaubenszweifels für das Mittelalter. Sie dekonstruiert zunächst und
sehr wirkungsvoll auch die neuzeitlichen 'heroischen' Narrative darüber.
Das Buch beginnt mit einem äußerst lesenswerten Überblick (S. 23-99)
über verschieden intendierte, aber stets ähnlich strukturierte
neuzeitliche Narrative. Der Durchgang durch die Debatten der Frühen
Neuzeit zeigt die Wurzeln eines ursprünglich noch sehr breiten Diskurses
der (negativen) 'Gottlosigkeit' bzw. der (positiven) 'Aufklärung'.
Dessen Erbe übernahm die zunehmend "heroische" theologische,
philosophische oder politische "Polemik" (S. 97f.) des 19. und 20.
Jahrhunderts, auf der bis heute auch wissenschaftliche Arbeiten
aufbauen. Der kurze, eher überblickshafte Abriss würdigt vorliegende
Arbeiten und zeigt dennoch ihr Hauptproblem: Sie bleiben aufgrund
mangelnder Aufarbeitung in Meistererzählungen der Neuzeit verstrickt,
vor allem der bis heute kraftvollen Modernisierungs- und
Säkularisierungstheorie, die derzeit auch aus anderer Perspektive
historisiert wird (S. 96-99).[1] Sie kranken daher an klaren Teleologien
und entsprechenden methodischen Unsauberkeiten wie anachronistischen
Rückprojektionen, unterkomplexen Begriffsbildungen und willkürlichen
Zuschreibungen.

Ein zweiter Teil (S. 101-256) schließt dem eine Dekonstruktion der
"Ahnengalerie der Atheismus- und Aufklärungsgeschichte" an. Weltecke
verknüpft exemplarische Untersuchungen weniger 'üblicher Verdächtiger'
wie des Grafen Jean von Soissons, Friedrichs II. oder der Barbara von
Cilli sowie gelehrter Zweifler mit quellenkritischen und thematischen
Überlegungen. Indem die Annahme, es könne sich bei den behandelten
Personen um 'Atheisten' gehandelt haben, jeweils als unbeweisbar oder
als Missverständnis erwiesen wird, treten andere Kontexte zu Tage: Der
Vorwurf der Gottlosigkeit erweist sich etwa als Teil eines
herrschaftskritischen Diskurses. Das Motiv von Moses, Jesus und Mohammed
als den 'drei Betrügern' verfolgt Weltecke in Richtung innerislamischer
Polemiken, die prompt religionskritische, aber keineswegs areligiöse
Kontexte haben (S. 149f.).

Die Frage nach der späteren Rezeption der Legende der 'drei Betrüger'
und nach der Aussage von gelehrten Gottesbeweisen über mögliche
Gottesleugnung veranlasst Weltecke schließlich zu einer ersten
grundsätzlicheren Diskussion mittelalterlicher Konzepte von Glauben,
Wissen und Unglauben. Diese Frage vertieft sich noch im Abschnitt über
die ungelehrte Laiin Aude, die ihren schwankenden Glauben an Gott vor
der Inquisition des Jacques Fournier und damit auch im Angesicht
möglicher Häresieanklagen erklären musste. Wie sich zeigt, operierten
sowohl Aude wie auch andere Zeugen und der vorsitzende Inquisitor mit
bestimmten, keineswegs identischen Konzepten des Nicht-Glaubens. Deren
genaue Konturen mussten aber erst verhandelt und mit der Grenze des
Häresievorwurfs abgeglichen werden. Dass Aude ihre Aussagen schließlich
mehrfach revidierte, um eine milde Behandlung zu erwirken, führt die
Problematiken entsprechender Quellenzeugnisse nochmals vor Augen. Es
zeigt auch eindringlich, dass Wissens- und Glaubenskonzepte in einem
äußerst komplexen zeitgenössischen Diskurs ständiger Neuverhandlung und
Reformulierung unterworfen waren.

Das Kapitel markiert damit einen Übergangspunkt zu einem dritten Teil
(S. 257-448) und denjenigen Fragen, die man angesichts der
Dekonstruktion älterer 'heroischer' Narrative im Verlauf der Studie
schon mit Spannung erwartet: Welche Formationen des Glaubens, Erfahrens,
Wissens, Nichtwissens, Zweifelns und Infragestellens lassen sich denn im
äußerst reichhaltigen Quellenbestand des Spätmittelalters finden?

Dieser Teil beginnt mit einem problematisierenden Überblick über das
semantische Feld des 'Unglaubens' und 'Zweifels', wobei Weltecke beide,
im Titel ja aufgeführte Begriffe als unscharf kritisiert und (angesichts
ihrer eher engen Fragestellung folgerichtig) verwirft. Ein weiterer
wichtiger Abschnitt klärt, wie und ob die Leugnung der Existenz Gottes
normativ gefasst wurde. Er überprüft damit die Grundlage der
'Diskriminationsthese' neuzeitlicher Forschung, also deren Tendenz, in
scheinbar orthodoxen Aussagen aufgrund bestehender
Verfolgungssituationen versteckte kritische Subtexte zu wittern. In der
Durchsicht von Rechtsquellen und Inquisitorenhandbüchern (unter anderem
unter Berücksichtigung von Blasphemie, Apostasie und vor allem Häresie)
hält Weltecke fest, dass es "schlechterdings keine rechtlichen Normen
gab, die explizit die reine, totale Abwesenheit eines Gottglaubens
verboten hätten" (S. 321). Auch die öfters zitierte Gleichsetzung von
'Zweifel im Glauben' mit Häresie kann sie zumindest weitgehend
dekonstruieren. Die angebliche Verfolgung von 'Atheismus' und Zweifel
erweist sich somit als "Mythos" (S. 367), und der 'Diskriminationsthese'
ist einiger Boden entzogen.

Erst auf den letzten achtzig Seiten des Buches geht Weltecke dann daran,
an den "Grenzen des Glaubens" zeitgenössische Formen der
Glaubensunsicherheit, Gottesleugnung und Areligiosität jenseits der
älteren heroischen Erzählungen zu rekonstruieren - denn das Mittelalter
kannte diese Phänomene ihrer Einschätzung nach durchaus gut. Dabei
kommen Befunde zum Vorschein, die Weltecke zwar nicht ausführlich oder
erschöpfend behandeln kann, aber als sinnvolle Ansatzpunkte für weitere
Forschungen ausweist. Im Kapitel zur Anwendung der Lasterkategorie
acedia auf Laien, also der Trägheit etwa im Gottesdienstbesuch (S.
369-378), zeigt sie, inwiefern man im Spätmittelalter unter Laien eine
bis zur Gleichgültigkeit gehende Distanz zu Lehren und Praktiken der
Kirche konstatieren und deren inneren Ursachen äußerst differenziert
nachgehen konnte. Ähnlich interessant erweisen sich die Kategorien der
inneren Anfechtungen sowie des Haderns mit Gott und der Bezweifelung
seiner Allmacht und Güte, schließlich auch des offenen Leugnens der
Existenz Gottes. Letzteres wird freilich gerade im gelehrten pastoralen
Diskurs des Spätmittelalters nicht so sehr als Verbrechen oder
undenkbare Kategorie, denn als Sünde und vor allem 'Narretei'
ausgewiesen. Die Rolle der gelehrten Autoren solcher Kategorisierungen
erweist sich so schließlich als Gegenteil des ihnen gern
zugeschriebenen, proto-modernistischen Vorkämpfertums von Skeptizismus
und Unglauben.

Insgesamt löst Welteckes Studie ihre Vorhaben ein und macht zukünftigen
fundierten historischen Forschungen den Weg frei, indem sie das Dickicht
der älteren Atheismusforschung lichtet, Aufklärungsnarrative kritisch
abklopft und mögliche Begriffsbildungen und Quellengattungen auf
Ergiebigkeit für weitere Fragen untersucht. Dies gelingt ihrer
überzeugenden Darstellung fast zu gut: Im Verlauf der Lektüre bewirken
die spannenden Einsichten in die Nuanciertheit mittelalterlicher
Wissenskonzepte teils, dass man sich wünscht, dieser produktive Teil der
Untersuchung wäre gegenüber dem kritischen stärker betont worden. Es
würde sich etwa aufdrängen, genauere Querverbindungen zwischen den
Konzepten der Gottesleugnung und des Glaubenszweifels sowie benachbarten
Diskursen herzustellen - etwa zum komplexen Feld theoretischer und
praktischer Wissens- und Glaubenskonzepte in der Auseinandersetzung mit
dem gelehrten Diskurs oder zu Phänomenen der religiösen Ambiguität und
Indifferenz im Volkssprachlich-Laikalen. Für weitere Forschungen wäre
sicher auch interessant, Welteckes Befunde mit jüngeren Forschungen
abzugleichen, die das Feld der Religiosität nicht von den Konturen des
'Atheismus', sondern denjenigen der 'Religion' her aufrollen.[2]

Die Leistung der Studie wird dadurch freilich nur unterstrichen: Gerade
ihre Aufarbeitung älterer Traditionen dürfte solche weiteren Forschungen
beflügeln und ihnen gleichzeitig den Boden bereiten und mühevolle
Sondierungen ersparen. Eine intensive Rezeption ist dem gelungenen Buch
daher unbedingt zu wünschen. Seine Auseinandersetzung mit grundlegenden
methodischen Fragen dürfte es nicht nur für Mediävist/innen, sondern
auch für Neuzeithistoriker/innen und für Leser/innen aus anderen
Disziplinen lesenswert machen.


Anmerkungen:
[1] Vgl. etwa Manuel Borutta, Genealogie der Säkularisierungstheorie.
Zur Historisierung einer großen Erzählung der Moderne, in: Geschichte
und Gesellschaft 36.3 (2010), S. 347-376.
[2] Vgl. etwa Christine Caldwell Ames, Does Inquisition Belong to
Religious History?, in: The American Historical Review 110.1 (2005), S.
11-37.

Diese Rezension wurde redaktionell betreut von:
Harald Müller <mueller(a)...